zum Hauptinhalt
Scott Warren versorgt Migranten mit Wasser, Nahrung, Medikamenten. Seine Organisation heißt No More Deaths – Keine weiteren Tode.
© John Moore/AFP

Konflikt an der US-Grenze zu Mexiko: Dieser Mann wehrt sich gegen Donald Trumps Einwanderungspolitik

Für Migranten ist er ein Samariter, für die US-Regierung ein Schmuggler. Scott Warren wurde freigesprochen – das Sterben an der Grenze zu Mexiko geht weiter.

Als die zwei entscheidenden Worte den Gerichtssaal füllen, wirkt der ruhige Scott Warren noch ruhiger als sonst. Mit gefalteten Händen schaut er hoch zum Richter, der das Urteil der zwölfköpfigen Jury verliest. „Nicht schuldig.“ Warren nickt. Sein mit einem Haargummi zusammengebundener Pferdeschwanz bewegt sich langsam von oben nach unten, während die Menschen hinter ihm vor Erleichterung aufstöhnen und weinen.

Die Menschen hinter ihm, das sind seine Eltern Pam und Mark, seine Schwester, Freunde und Kollegen sowie Kirchenvertreter aus dem ganzen Land, die an diesem Mittwochnachmittag im November dicht nebeneinander auf den Holzbänken im Bundesgericht in Tucson, Arizona, sitzen und sich aneinanderklammern. Dieser Prozess, die ganze Geschichte, hat gezehrt, gespalten, gekostet. Und sie hat zusammengeschweißt.

„Verstecken undokumentierter Migranten“

Es ist fast zwei Jahre her, dass der Lehrer und Geograf Warren in seiner Wahlheimat Ajo, 65 Kilometer nördlich der mexikanischen Grenze, verhaftet wurde. Beamte der Border Patrol stürmten am 17. Januar 2018 ein für humanitäre Hilfe ausgestattetes Haus, das the barn, die Scheune, genannt wird. Und fanden dort neben Warren zwei Migranten aus Lateinamerika.

Der 20-jährige José Sacaria-Godoy aus Honduras und der 23-jährige Kristian Perez-Villanueva aus El Salvador waren nach Tagen in der Sonora-Wüste mit Blasen und Prellungen in der Scheune angekommen, wo sie von Warren und anderen freiwilligen Helfern der Organisation No More Deaths – Keine weiteren Tode – mit Wasser, Essen, Medikamenten und einem Platz zum Schlafen versorgt wurden.

Was für den 37-jährigen Warren nicht mehr als „einfache menschliche Güte“ gewesen sei, wertete die Staatsanwaltschaft als Verbrechen. Bis zu zehn Jahre Gefängnis kommen auf das gezielte „Verstecken undokumentierter Migranten“.

Es ging in diesem Prozess, der zunächst im Sommer an einer unentschiedenen Jury gescheitert war und nun zum zweiten Mal verhandelt wurde, um die Frage, wo humanitäre Hilfe aufhört und illegale Fluchthilfe anfängt. Diese Frage wurde zugunsten Warrens beantwortet.

Wer hilft, macht sich verdächtig

Doch es ging in diesem Prozess um noch mehr. Die Regierung wollte ein Zeichen setzen, Angst verbreiten, abschrecken. Seit Donald Trump Präsident der USA ist, stehen Gruppen wie No More Deaths, Humane Borders, Eagles of the Desert oder die Samariter unter Beobachtung. Wer Migranten mit dem Nötigsten versorgt, ist in den Augen der Strafbehörden ein potenzieller Schmuggler. Wer hilft, macht sich verdächtig.

„Wir werden nicht unterscheiden, ob jemand mit der Beherbergung und dem Transport von Migranten Geld macht oder ob er es aus einem fehlgeleiteten Sinn für soziale Gerechtigkeit oder dem Glauben an offene Grenzen heraus tut“, sagte Bundesstaatsanwalt Michael Bailey nach dem Prozessende. Der von Donald Trump nominierte Jurist war für die Schlussplädoyers extra nach Tucson gereist. Breitbeinig stand Bailey hinten im Gerichtssaal, die Arme verschränkt. Es wirkte wie eine Botschaft direkt aus dem Weißen Haus.

Die systematische Einschüchterungspolitik hat Spuren hinterlassen, daran ändert auch der Freispruch Warrens nichts. Was jahrzehntelang zum selbstverständlichen Alltag in den Grenzgegenden gehörte, ist heute ein persönliches Risiko. Einerseits hat der Fall Warren Aktivisten im ganzen Land mobilisiert. Andererseits haben viele Bürger mittlerweile Angst, zu helfen.

Wenige Tage vor dem Urteil steht Maria Singleton in der Wüste von Arizona und malt mit einem roten Edding Herzen auf Wasserkanister. Sechs große Behälter, sechs kleine Herzen. „Die Wüste hier ist wunderschön“, sagt Singleton. „Und brutal.“ Die 57-Jährige zeigt eine Narbe an ihrem linken Unterarm. Anfang des Jahres stürzte sie unterwegs und brach sich das Handgelenk. Freunde transportierten sie in ein Krankenhaus. „Für einen Migranten wäre es womöglich das Todesurteil gewesen“, sagt sie.

Der Wunsch, der sie eint: weniger Tote

Singleton, die aus Colorado kommt und seit fünf Jahren in Ajo wohnt, gehört wie Warren zu den rund 30 aktiven Samaritern im Ort, einer Gruppe überwiegend älterer Helfer, von denen manche mehr und andere weniger religiös sind. Was sie eint, ist der Wunsch nach weniger Toten.

In der Wüste kann es im Sommer bis zu 50 Grad heiß werden.
In der Wüste kann es im Sommer bis zu 50 Grad heiß werden.
© AFP/John Moore

Die Samariter verteilen Wasser in der Wüste, oft mehrere Male pro Woche. Sie sammeln Kleidung und besorgen Lebensmittel, die sie in die Flüchtlingslager in Mexiko liefern. Sie organisieren Mahnwachen und Ausstellungen. Und sie suchen nach Überresten verstorbener Migranten, damit deren Verwandte zumindest Klarheit erhalten.

Ihre Arbeit sei legal, sagt Singleton. „Aber alle hier sind gewarnt. Die Polizei hat Ajo im Fokus.“

Wie viele Menschen hier gestorben sind? Das weiß keiner

Vier Samariter haben sich an diesem Sonnabend verabredet: Neben Singleton und ihrem Mann Leslie Sunde sind auch die ehemalige Sonderschullehrerin Jan St. Peters und ihr Partner Rick dabei. Die Sonne drückt, 28 Grad. „Mild für die Verhältnisse in der Wüste“, erklärt Singleton. In den Sommermonaten kann es bis zu 50 Grad heiß werden.

Im Gepäck haben sie Wasserkanister, mehrere Paletten Bohnendosen, Medikamente, Sonnencreme und einen braunen Pudel namens Coco. Mit zwei Pick-up-Trucks geht es auf den Highway 85, raus aus Ajo und dann eine halbe Stunde über hügelige Pfade Richtung Nordosten. „Es ist ein komisches Gefühl, dass wir möglicherweise gerade überwacht werden“, sagt der 73-jährige Leslie Sunde, während er den silbernen Chevrolet durch die staubige Landschaft fährt.

Tausende Migranten sind in den letzten Jahrzehnten beim Versuch, über die Wüste ins Landesinnere der USA zu kommen, gestorben. Wie viele es genau sind, weiß keiner. Nicht selten werden Skelette erst nach Jahren gefunden.

Immer mehr Kameras, immer mehr Waffen

„Prävention durch Abschreckung“ heißt die Strategie, die Präsident Bill Clinton in den 90er Jahren einführte. Die Zäune wurden Jahr für Jahr höher. Die Zahl der US-Grenzpolizisten wuchs von 4000 auf rund 20 000, auch die Zahl der Checkpoints hat sich erhöht. Es werden immer mehr Hubschrauber eingesetzt, immer mehr Kameras, immer mehr Waffen. Die milliardenteure Militarisierung der Grenze, die unter Clinton begann, unter Bush und Obama fortgesetzt wurde und nun unter Trump intensiviert wird, soll illegale Einwanderung und den Drogenhandel eindämmen, so das offizielle Ziel.

In Arizona haben die Hilfsorganisationen stattdessen etwas anderes beobachtet: Die Routen der Migranten sind länger und gefährlicher geworden. Seit selbst kleine Grenzortschaften großräumig gesichert sind, bleiben den Flüchtenden nur noch die entlegenen und tödlichsten Gebiete. „Prävention durch Abschreckung“ bleibt ein Mythos, der Leben kostet.

Die Helfer überlegen genau, wo sie Wasser und Nahrungsmittel deponieren.
Die Helfer überlegen genau, wo sie Wasser und Nahrungsmittel deponieren.
© AFP/John Moore

Früher war Ajo ein Endpunkt, Migranten hatten dort ihr Ziel erreicht. Heute ist die Siedlung im besten Fall ein Zwischenstopp. Manche sind so entkräftet und dehydriert, dass sie sich freiwillig verhaften lassen. Maria Singleton erinnert sich an den Moment, in dem sie verstand, dass sie an diesem Ort „nicht leben könne, ohne sich zu engagieren“.

Ihre Freundin Jan zeigte ihr die „Migrant Death Map“, eine von der Organisation Humane Borders erstellte Online-Karte von Südarizona, auf der die toten Migranten der vergangenen Jahre vermerkt sind. Jeder gestorbene Mensch bekommt dort einen roten Punkt. Wer ein kleines bisschen herauszoomt, sieht nur noch diese eine Farbe.

„Wir müssen die Lebensmittel auch vor Tieren verstecken“

Für die humanitären Helfer ist die Karte auch eine Orientierung dafür, wo sie Wasser abstellen müssen. An diesem Nachmittag haben sie sich zwei Punkte ausgesucht: einen zerfallenen Bienenstock in der Nähe eines ausgetrockneten Baches. Und etwas weiter östlich eine stillgelegte Farm. Je offener das Land, erklärt die 68-jährige Jan St. Peters, desto schwieriger werde es, die Migranten zu unterstützen.

„Wir müssen die Lebensmittel nicht nur vor der Sonne, sondern auch vor Tieren verstecken“, sagt St. Peters, während sie einen leeren, verbeulten Wasserbehälter aufhebt und den Deckel mustert. „Immerhin, es sieht so aus, als wäre der hier zum Einsatz gekommen.“ Sie lächelt zaghaft.

Es gibt in der Wüste aber auch ganz andere Gruppen, die nach Migranten Ausschau halten. Rechte Bürgerwehren streifen durchs Land, oft bewaffnet. Der größte Gegner ist laut St. Peters aber jemand anderes: die Grenzpolizei. „Sie haben Blut an den Händen“, sagt sie.

Polizisten, die Wasserkanister auskippen

Der Tag, an dem Scott Warren verhaftet wurde, begann mit einem Scoop. No More Deaths veröffentlichte am Morgen des 17. Januar 2018 einen Report, der bewies, dass die Grenzpolizei in Arizona Tausende Wasserkanister in der Wüste zerstört hat. Videos aus den Jahren 2010 bis 2017 zeigen, wie Beamte die Behälter wegkicken und ausgießen. „Schau dir den Müll an, den jemand auf seinem Weg gelassen hat“, sagt ein feixender Polizist, der einen Kanister nach dem anderen auskippt.

Während das Video im Netz zirkulierte, entschlossen sich zwei Ajo-Grenzpolizisten die humanitäre Station the barn zu überwachen. Sie versteckten sich rund 150 Meter entfernt, wechselten sich am Fernglas ab. Nach etwa einer Stunde sahen sie – so sagen sie es im Prozess aus –, wie Warren vor die Tür trat, neben ihm die zwei jungen Flüchtlinge, die seit drei Tagen in dem Gebäude untergekommen waren. Warren zeigte auf die nahen Berge. Für die Beamten war klar, dass er Fluchtwege vorgab. Kurz darauf rollten mehrere Fahrzeuge an. Mit gezückten Waffen durchsuchten die Grenzpolizisten das Grundstück. Warren und die zwei Migranten wurden verhaftet.

Ajo ist rund 60 Kilometer von der Grenze zu Mexiko entfernt.
Ajo ist rund 60 Kilometer von der Grenze zu Mexiko entfernt.
© AFP/John Moore

Warrens Anwälte konnten nachweisen, dass sich Organisationen wie No More Deaths an feste Protokolle halten, die mit Juristen und Ärzten abgesprochen sind. „Wir ziehen eine klare Linie“, erklärte Warren vor Gericht. Verpflegung, Verarztung und räumliche Orientierung seien im legalen Rahmen. Migranten vor der Polizei aktiv zu verstecken und mit ihnen Routen zu planen, dagegen nicht. Warren wurde zunächst sogar einer „Verschwörung“ gegen die Grenzpolizei beschuldigt. Er sei der Anführer einer Organisation, die Schmuggel-Operationen durchführe.

Die Staatsanwaltschaft hatte zuvor beantragt, dass der Name Trump und dessen Agenda unerwähnt bleibe – um eine „Ablenkung“ im Prozess zu vermeiden. Die Intention war leicht zu erkennen: Der Zusammenhang zwischen Washingtons Anti-Immigrationspolitik und der Kriminalisierung humanitärer Arbeit in Arizona sollte kein Thema werden. Warrens Verteidiger protestierten, der Richter bewilligte den Antrag trotzdem. Doch auch Zuspruch für Warren zeigte sich an jedem Tag des Prozesses: Die Bänke im Gerichtssaal waren voller Unterstützer, vor dem Gebäude wurde protestiert.

„Ich freue mich darauf, einfach wieder zu arbeiten“

Der Fall Warren macht vielen von ihnen Hoffnung. Und er ist ernüchternd. Knapp zwei Jahre lang hat die Staatsanwaltschaft versucht, einen Mann dafür ins Gefängnis zu bringen, dass er Migranten das Leben rettet.

„Ich freue mich darauf, wie die anderen Freiwilligen einfach wieder zu arbeiten“, sagt Warren, als er am letzten Prozesstag in einem Café nahe dem Justizgebäude sitzt. Seine Verteidiger und die Gegenseite haben ihre Schlussplädoyers gehalten. Jetzt muss die Jury entscheiden.

Warren trägt einen grauen Anzug und eine blau-weiß gestreifte Krawatte, seine Augen sehen erschöpft aus. Die letzten zwei Jahre haben Kraft gekostet, sagt er. „Nachdem ich verhaftet worden war, gab es eine Phase von zwei Monaten, in der ich gar nicht mehr in die Wüste wollte.“

[Eine Version dieser Reportage aus Arizona ist zuerst in der Schweizer "Wochenzeitung" erschienen.]

Vor Gericht sagte er, dass er bis heute die Überreste von 18 Menschen gefunden habe. „Es ist verstörend“, sagt Warren, „aber man fängt irgendwann an, es zu erwarten.“ Warren hätte allen Grund, wütend zu sein. Aber er ist und bleibt vor allem ein nachdenklicher, sanftmütiger Mensch. Jemand, der auf seine Umgebung eingeht.

Das Interview ist gerade ein paar Minuten beendet, Warren unterhält sich ein paar Schritte entfernt mit seinen Eltern, da läuft er für seine Verhältnisse hektisch zurück zum Tisch: „Das Urteil ist da.“ Die Geschworenen haben sich entschieden.

Eine Stunde später steht Warren vor dem Gerichtsgebäude. „Der Bedarf an humanitärer Hilfe ist ungebrochen“, sagt er. „Lasst uns tief durchatmen, etwas ausruhen und darauf vorbereitet sein, was als Nächstes kommt.“

Zur Startseite