PKK und IS: Die Türkei erwacht in einem Albtraum
Die Regierung schickt Kampfflugzeuge, die PKK ermordet Soldaten, in Istanbul wächst die Angst vor Anschlägen. Der Türkei genügten wenige Tage, um Jahre des Fortschritts zunichte zu machen.
Ziya Sarpkaya ahnt nichts von der Gefahr, die ihm droht. Der 27-jährige türkische Soldat nutzt einen freien Vormittag für Besorgungen. Zur Bank wolle er, sagt Sarpkaya am Handy seinem Vater. Der junge Türke ist in Semdinli stationiert, einer kurdischen Stadt im Dreiländereck von Türkei, Iran und Irak im äußersten Südostanatolien.
Lange war es in Semdinli einigermaßen ruhig, doch seit dem Tod von 32 linken und kurdischen Aktivisten beim Anschlag von Suruc vergangene Woche ist nichts mehr gewiss. Mit der Ruhe ist es vorbei. Sarpkaya denkt sich trotzdem nichts dabei. Am Dienstag kurz vor Mittag geht er in Zivil zum Markt und dann zur Bank, wie ein ganz normaler Bürger in einem ganz normalen Land.
Sarpkayas Vater hört am Handy mit, wie sein Sohn am Geldautomaten mit jemandem spricht. Dann hört er einen Knall, die Verbindung bricht ab. Dieser jemand hat seinem Sohn in den Kopf geschossen. Wenig später stirbt der junge Sarpkaya im Krankenhaus.
Der Tod des Soldaten ist nur eines von vielen Beispielen. Das brutale Ende einer neuen Türkei, von der sie im Land erst zaghaft zu träumen begonnen hatten. Frieden, Stabilität und Wohlstand schien endlich möglich zu werden. Nach Jahrzehnten der Gewalt zwischen Türken und Kurden hofften die Menschen auf eine bessere Zukunft. Doch innerhalb weniger Tage ist diese Hoffnung zunichte gemacht worden – Druck, Gewalt und Angst sind zurück. Türkische Eltern müssen plötzlich wieder fürchten, dass ihre Söhne nicht vom Wehrdienst heimkehren. Seit ein paar Tagen ist die Türkei wieder im Krieg, sie führt ihn sogar an zwei Fronten. Gegen den selbsternannten Islamischen Staat – und die PKK.
Eine neue, schlimmer Zeit hat begonnen
Die Regierung schickt Kampfflugzeuge gegen Kurden, die PKK ermordet Soldaten und Zivilisten, in den Städten fürchten sich die Menschen vor Anschlägen, Politiker fordern Parteiverbote, wollen die Immunität von kurdischen Politikern aufheben. Fast über Nacht findet sich die Türkei in der Atmosphäre der gewalttätigen 90er Jahre wieder, als der Krieg zwischen der Armee und der PKK auf dem Höhepunkt war, als es jeden Tag neue Todesopfer gab. Es fühlt sich an, als hätte es die EU-Reformen, die politische Öffnung, den demokratischen Aufbruch und die Versuche zur friedlichen Beilegung des Kurdenkonflikts nie gegeben.
„Der Traum ist ausgeträumt“, sagt Meral Cildir. „Alle sind jetzt aufgewacht.“ Die stellvertretende Vorsitzende des türkischen Menschenrechtsverbandes IHD blickt aus ihrem Istanbuler Büro auf eine Gasse, in der sich Möwen und Straßenkatzen um den Inhalt von Müllsäcken streiten. An der Tür kleben alte Plakate mit Aufrufen zu Demonstrationen, im Büro füllen Ordner mit Prozessakten, Briefen von Häftlingen und Pressemitteilungen die Regale.
Der IHD ist die angesehenste Menschenrechtsorganisation im Land und setzt sich vor allem für Kurden ein. Meral Cildir, 57, stammt aus dem südostanatolischen Urfa, hat kurdische, armenische und tscherkessische Vorfahren. Sie hat den Putsch von 1980 erlebt und den Tod ihrer Schwester, die damals erschossen wurde. Die Täter wurden nie gefunden.
Mit dem 20. Juli, dem Tag des Bombenanschlags auf eine Versammlung kurdischer Studenten im südosttürkischen Suruc, hat eine neue schlimme Zeit begonnen in der Türkei, sagt Cildir. Der Mord an dem Soldaten Sarpkaya in Semdinli trage eindeutig die Handschrift der PKK, die in den letzten Tagen mehrere Polizisten und Soldaten erschossen hat. Zwei Opfer starben in ihren Betten. Die Mörder waren über den Balkon eingestiegen. Fernab vom Kriegsgebiet wurde außerdem vor den Augen seiner Frau und seiner Tochter ein hochrangiger Polizist erschossen, der im Wagen mit der Familie unterwegs war. Im südostanatolischen Landkreis Lice, einer Hochburg der PKK, zerstörte eine Autobombe ein Militärfahrzeug und tötete zwei Soldaten.
Das Misstrauen zwischen Türken und Kurden wächst
Nicht nur die Gewalt der PKK, sondern auch die Reaktion des Staates erinnert an dunkle Zeiten. In Semdinli rattern seit dem Mord an dem Soldaten gepanzerte Fahrzeuge durch die Straßen, Militärhubschrauber donnern im Tiefflug über die Stadt. Der türkische Generalstab meldet immer neue Gefechte und Zusammenstöße mit PKK-Trupps in den Bergen Ostanatoliens.
Kampfjets bombardieren seit der vergangenen Woche immer wieder Stellungen der PKK. In Diyarbakir, der inoffiziellen Kurdenhauptstadt der Türkei, sehen die Menschen täglich, wie die F-16-Flugzeuge der türkischen Luftwaffe aufsteigen. Manche Jets attackieren den IS im Norden Syriens, andere die PKK im Irak, wieder andere greifen Stellungen der PKK innerhalb der Türkei an. Auch das hat es seit Jahren nicht mehr gegeben.
Auf den Straßen des Landes wächst das Misstrauen zwischen Türken und Kurden. Im ostanatolischen Erzurum kam ein 2000 Mann starker Lynchmob zusammen, weil ein Ladenbesitzer behauptete, am Finger eines kurdischen Bauarbeiters einen Ring mit einem PKK-Symbol gesehen zu haben. Der Arbeiter und seine Kollegen verbarrikadierten sich auf ihrer Baustelle und wurden schließlich von der Polizei gerettet. Die wütende Menge blockierte die Durchgangsstraße und attackierte Überlandbusse, die kurdische Städte ansteuern. Die Männer warfen mit Steinen, zertrümmerten die Fensterscheiben.
Die Behörden lassen derzeit viele mutmaßliche Extremisten festnehmen, inzwischen sind es mehr als 1300. Offiziell richten sich die Razzien sowohl gegen den Islamischen Staat als auch gegen die PKK und Linksradikale. Allerdings sind unter den Festgenommenen nach einer Zählung der Nachrichtenagentur DHA gerade einmal zwei Dutzend IS-Mitglieder – der Rest sind Kurden und Linke.
Die Propaganda klingt noch genau wie damals
Die Kurden werden sich davon nicht einschüchtern lassen. In 30 Jahren Krieg hat diese Taktik nie funktioniert. Dennoch scheint es, als machten beide Seiten einfach dort weiter, wo sie mit Beginn der Waffenruhe 2013 aufgehört hatten.
Und so laufen im Fernsehen nun wieder Bilder weinender Mütter, die ihre Söhne verloren haben. Bei den Beisetzungen lassen sich wieder Politiker blicken, machen Versprechungen, fordern mehr Härte, noch mehr Militär. Die Propaganda klingt noch genauso wie damals: Getötete türkische Soldaten sind „Märtyrer“, die PKK-Mitglieder „Verräter“ und „Mitglieder der separatistischen Terrororganisation“.
Immerhin, die Sitzungspräsidentin des Parlaments, Safak Pavey, bemüht sich um Ausgleich. „Dieses Land ist größer als unsere Einzelinteressen“, sagte sie bei einer Sondersitzung. Solche gemäßigten Äußerungen sind rar. Kurze Zeit später beantragt ein Staatsanwalt die Aufhebung der Immunität von Selahattin Demirtas, dem Chef der legalen Kurdenpartei HDP. Präsident Recep Tayyip Erdogan hatte zuvor öffentlich gefordert, Demirtas müsse vor Gericht gestellt werden.
Noch im Februar saßen Regierungspolitiker und Vertreter der HDP in Istanbul beisammen und betonten in einer gemeinsamen Erklärung ihre Entschlossenheit, den Kurdenkonflikt friedlich beizulegen. Das Treffen und der Handschlag zwischen den Politikern wurde damals als Symbol einer neuen Verständigungsbereitschaft gefeiert. Die Türkei, so schien es, könnte die Kraft haben, nach 40 000 Toten und der Verwüstung ganzer Landstriche das Leid des Kurdenkonfliktes hinter sich zu lassen.
Erdogan geht es um Macht
Heute glauben viele in der Türkei, Präsident Erdogan begreife den Terroranschlag des IS von Suruc als Chance, um nicht nur gegen die Islamisten, sondern vor allem gegen die Kurden vorgehen zu können. Und der Verdacht liege nahe, er habe den Konflikt bewusst eskalieren lassen. Ein Grund dafür könnte das schlechte Abschneiden der AKP bei den Wahlen im Juni sein. Denn da hatte Erdogans Partei ihre Mehrheit im Parlament nach mehr als zwölf Jahren an der Macht verloren. Größter Gewinner war die kurdisch-sozialdemokratische HDP. Erstmals schaffte es damit eine kurdische Partei über die Zehn-Prozent-Hürde. Die neuen Kräfteverhältnisse brachten viel Unruhe. Die Regierungsbildung ist noch immer nicht abgeschlossen. Erdogan hat bereits offen damit gedroht, rasch Neuwahlen abhalten zu lassen, wenn es keine Einigung gebe.
Gut möglich also, dass Erdogan darauf spekuliert, die Kurdenpartei nun in Misskredit zu bringen. Rutscht die HDP bei den Neuwahlen wieder unter zehn Prozent und scheidet aus dem Parlament aus, würde sich die Zahl der Sitze für Erdogans AKP drastisch erhöhen. Dann könnte er mit den Stimmen der Abgeordneten die Türkei in ein Präsidialsystem umwandeln, wie er es immer propagiert hat. Er wäre wieder der starke Mann im Land.
Erdogan setzt auf ein altes Feindbild: die Kurden
Meral Cildir sitzt über einen Stapel von Hilfeersuchen aus dem Gefängnis gebeugt in ihrem Büro in Istanbul. Sie ist enttäuscht. Erdogan sei doch einmal als Reformer angetreten. Hatte mit seiner AKP sogar die Beitrittsverhandlungen zur EU eingeleitet. Doch seit dem 20. Juli stelle er sich wieder in die Tradition des türkischen Staates, der seine „rassistisch-nationalistische Position“ niemals aufgegeben habe.
Mit den Jahren an der Macht passten sich Erdogan und seine AKP der vorherrschenden politischen Kultur in Ankara und deren Eigenschaften an, bilanziert auch der Autor Mustafa Akyol, ein einstiger Unterstützer der Partei. Nicht als zu islamisch habe sich die AKP entpuppt, sondern als zu türkisch. Die Anbetung eines starken Führers zählt Akyol zu dieser politischen Kultur, einen Hang zu Verschwörungstheorien, eine nervöse Reaktion auf kritische Meinungsäußerungen und eine Terrorismus-Definition, die auch gewaltlose Gedanken einschließe. Die neue Konfrontation zwischen Erdogan und den Kurden vollendet nur die Rückkehr zu alten türkischen Gewohnheiten, die durch die Reformpolitik lediglich für einige Jahre in den Hintergrund gedrängt waren. Nun also wieder das alte Feindbild: die Kurden.
Die Menschenrechtlerin Cildir hat das gerade wieder selbst erlebt. Fast eine Woche hat sie gebraucht, um sechs junge Kurden aus dem Gefängnis zu holen, die auf dem Weg zu einer Hochzeit in Istanbul wegen ihrer traditionellen kurdischen Kleidung festgenommen worden waren – die Polizei hatte die Gewänder für PKK-Uniformen gehalten. „Und die ganze Zeit wurden sie von den regierungsnahen Medien auch noch als potenzielle Attentäter beschimpft.“
Cildir bleibt dennoch zuversichtlich. Die Türkei sei nicht mehr dasselbe Land wie in den 90ern. Die Türken sehen den Staat nicht mehr als unfehlbare Obrigkeit, wie die machtvollen Demonstrationen am Taksim-Platz und im Gezi-Park gezeigt haben. Es gebe jetzt viel mehr Menschen, Vereine und Organisationen, die weiter für Demokratie und Menschenrechte kämpfen. „Heute weht ein anderer Wind“, sagt sie. Der Friedensprozess habe einen Rückschlag erlitten. Irreparabel beschädigt sei er noch nicht. Jedenfalls hofft sie das.