Interview mit Türkei-Expertin: "Erdogans Vorgehen ist innenpolitisch motiviert"
Für die Türkei-Expertin Magdalena Kirchner ist Ankaras Doppeloffensive gegen den IS und die PKK rein politisches Kalkül des türkischen Staatschefs Recep Tayyip Erdogan.
Die Türkei ist bis vor kurzem nicht gegen den "Islamischen Staat" (IS) vorgegangen, doch nach dem Anschlag im türkischen Suruc greift das Militär Stellungen des IS in Syrien an. Wie ist diese Kehrtwende der türkischen Führung um Präsident Erdogan zu erklären?
Die Türkei ist in den vergangenen Monaten aktiver gegen den IS vorgegangen, es gab eine deutlich gesteigerte Zahl von Verhaftungen von IS-Mitgliedern. Zugleich steht die Türkei nicht erst jetzt im Fokus des IS. Unmittelbar vor der Parlamentswahl wurde in der kurdischen Stadt Diyarbakir ein IS-Selbstmordanschlag verübt. Je unauffälliger sich die Türkei verhielte, desto weniger würde sie Vergeltungsaktionen ausgesetzt – das war bisher das Kalkül. Zuletzt war der internationale Druck auf die Türkei stärker geworden, aktiver zu werden. Außerdem erhöhte das Ergebnis der Parlamentswahl den Druck auf die Regierung, eine prowestlichere Außenpolitik zu verfolgen. Alle Parteien außer Erdogans AKP haben klar gefordert, dass die Tolerierung dschihadistischer Gruppen ein Ende haben müsse. Der Anschlag in Suruc hat gezeigt, dass die Türkei nicht sicher sein kann vor dem IS, selbst wenn er toleriert wird.
Der IS soll sich auch mit dem Verkauf von Öl in die Türkei finanzieren, und islamistische Kämpfer aus anderen Ländern reisen über die Türkei nach Syrien. Warum hat die türkische Führung den IS so lange gewähren lassen?
Die politische Priorität lag auf dem Sturz des syrischen Staatschefs Assad. Die Führung in Ankara glaubte, Assad mit der Unterstützung radikalsunnitischer Gruppen schneller besiegen zu können. Zwar gibt es keine klaren Beweise dafür, dass der IS direkt von Ankara unterstützt wurde. Angesichts des eigenen Wunsches nach einer stärkeren Rolle von Religion in der Politik tat sich die AKP-Regierung aber schwer damit, salafistische Bewegungen, die wie in anderen Ländern Brutstätten für die Rekrutierung von IS-Kämpfern waren, stark zu reglementieren.
Welches politische Kalkül verfolgt Erdogan mit der doppelten Offensive gegen den IS in Syrien und gegen die PKK im Nordirak?
Das ist wahrscheinlich zu 90 Prozent innenpolitisch motiviert. Der Anschlag des IS in Suruc und Angriffe der PKK auf Polizei und Militär – beides könnte kaum eine Regierung hinnehmen. Jedoch reagiert die türkische Regierung auf die Aktivitäten der PKK militärisch und unverhältnismäßig. Hinter der doppelten Eskalation steht der Versuch, den IS und die PKK als gleichrangige Bedrohung zu bekämpfen und dem Westen zu sagen, es handele sich in beiden Fällen um einen Kampf gegen den Terror.
Was will die Führung in Ankara innenpolitisch mit dem militärischen Vorgehen auch gegen die PKK erreichen?
Derzeit laufen in der Türkei Koalitionsverhandlungen. Sollten sie scheitern, gibt es Neuwahlen. Ich glaube, dass Erdogans AKP Neuwahlen als bestes Szenario anstrebt, um ihre derzeit schwache Position wieder zu verbessern. Erdogan kann ohne eine Alleinregierung der AKP seinen Status nicht halten, weil alle Koalitionspartner Einschnitte seiner Machtbefugnisse fordern. Darauf wird sich die AKP einlassen müssen, wenn sie eine Koalition eingehen will. Andernfalls müsste sie bei Neuwahlen sehr gut abschneiden. Deshalb will sich Erdogans Partei offenbar dahin orientieren, wo sie die meisten Stimmen verloren hat: im nationalistischen Lager. Wer Stärke zeigt gegen die PKK, kann die traditionelle nationalistische Wählerklientel auf seine Seite ziehen. Andererseits geht es um eine Schwächung der Partei HDP, die der AKP in den kurdischen Gebieten viele Stimmen genommen hat und sich als Vertreterin der Kurden präsentiert. Die Eskalation mit der PKK zeigt nun, dass die HDP nur Nebendarstellerin ist. Erdogan hat auch gefordert, die Immunität von HDP-Parlamentariern aufzuheben, und sie als kriminell dargestellt. Dies soll wohl die türkischen Wähler der Partei abschrecken.
Wie groß ist der Rückhalt für Erdogans Doppeloffensive in der Bevölkerung?
Die meisten Türken wurden davon wirklich überrascht. Gegen den IS vorzugehen ist etwas, das die wenigsten wollen. Nicht, weil sie mit dem IS sympathisieren, sondern weil sie Angst haben, dass in türkischen Großstädten Anschläge verübt oder dass eigene Soldaten getötet werden könnten. Den Friedensprozess mit der PKK hat eigentlich eine große Mehrheit begrüßt, wenn man von den Nationalisten absieht. Aber zugleich gab und gibt es nun Stimmen, die eine härtere Gangart befürworten.
Erwartet die türkische Regierung als Gegenleistung für das Vorgehen gegen den IS, dass der Westen die Türkei im Kampf gegen die PKK gewähren lässt?
Das ist die klare Kalkulation. In der Erklärung der Nato vom Dienstag wurde nicht nur der IS-Anschlag in Suruc verurteilt, sondern auch die Angriffe, die von der PKK ausgingen. Die Türkei hat es also geschafft, die anderen Nato-Staaten zumindest nach außen hin durch die Verknüpfung beider Konflikte auf ihre Seite zu ziehen.
Wie sollte der Westen nun auf die Entwicklung in der Türkei reagieren?
Der Westen sollte Druck auf die Türkei ausüben, an dem Friedensprozess festzuhalten. Es ist wenig wahrscheinlich, dass Erdogan den Friedensprozess komplett kappen wird, denn es geht ja auch um sein politisches Erbe. Den Friedensprozess aufzugeben würde die Türkei um Jahrzehnte zurückwerfen. Das würde auch verhindern, dass die Türkei ein guter Partner im Kampf gegen den IS sein kann, weil es die Instabilität im Land erhöhen und die Grenze noch durchlässiger machen würde. Eine unkontrollierte Eskalation des Konflikts kann in keinem Fall in unserem Interesse sein.
Die Politikwissenschaftlerin Magdalena Kirchner arbeitet bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP). Zu ihren Spezialgebieten zählen Sicherheitspolitik im Nahen und Mittleren Osten, die Türkei sowie internationaler Terrorismus.