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Nato-Flugzeuge über der Türkei.
© dpa

Türkei, IS, Kurden und Nato: Wer wo gegen wen kämpft - eine Übersicht

Nach den Angriffen der Türkei auf die Terrormiliz "Islamischer Staat" und die Kurden der PKK ist die Gefechtslage unübersichtlich geworden. Gekämpft wird an vielen Plätzen. Lesen Sie hier Fragen und Antworten zu einem zunehmend komplizierten Thema.

Nachdem die türkische Regierung mit Luftangriffen und Massenfestnahmen gleichzeitige Offensiven gegen die Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) und gegen die Kurdenrebellen von der PKK gestartet hat, wächst im Land die Angst vor Terroranschlägen. Äußerungen von Spitzenpolitikern wie Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan, der am Dienstag den Friedensprozess mit den Kurden aufkündigte, heizen die Spannungen noch weiter an.

Warum eskaliert die Gewalt?

Angst vor Anschlägen war ein Hauptgrund dafür, dass sich die Türkei lange Zeit aus dem Kampf des Westens gegen den IS in den türkischen Nachbarländern Syrien und Irak heraushielt. Seit dem Anschlag von Suruc, bei dem vorige Woche 32 Menschen starben und der laut Ankara vom IS begangen wurde, beteiligt sich die Türkei am militärischen Vorgehen gegen die Dschihadisten. Gleichzeitig ließ Erdogan mehrere Luftangriffe gegen PKK-Stellungen im Nordirak fliegen; die Kurdenrebellen beendeten darauf ihren seit drei Jahren geltenden Waffenstillstand.

Seitdem eskalieren Gewalt und politische Spannungen immer weiter. Die PKK tötete in der Nacht zum Dienstag einen Polizeioffizier in Ostanatolien.

Erdogan verschärfte den Ton den Kurden gegenüber. Er forderte, das Parlament solle den Weg für Strafprozesse gegen kurdische Abgeordnete frei machen. Er gibt dem Friedensprozess zwischen dem türkischen Staat und den Kurden offenbar keine Chance mehr: „Mit jenen, die unsere nationale Einheit und Brüderlichkeit bedrohen, kann es keinen Friedensprozess geben“, sagte der Präsident in Anspielung auf die mit 80 Abgeordneten im Parlament vertretene kurdische HDP.

Linksgerichtete Demonstrantinnen tragen in Istanbul den Sarg einer Mitkämpferin, die am 24. Juli bei Auseinandersetzungen mit der Polizei getötet worden war. Linke und kurdische Gruppen kämpfen an zwei Fronten: die Islamisten der Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) und gegen die türkische Regierung, die Angriffe gegen Kurden angeordnet hat.
Linksgerichtete Demonstrantinnen tragen in Istanbul den Sarg einer Mitkämpferin, die am 24. Juli bei Auseinandersetzungen mit der Polizei getötet worden war. Linke und kurdische Gruppen kämpfen an zwei Fronten: die Islamisten der Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) und gegen die türkische Regierung, die Angriffe gegen Kurden angeordnet hat.
© AFP

In dieser höchst spannungsgeladenen politischen Lage befürchten viele Türken nun, dass eine neue Anschlagswelle beginnen könnte. Sowohl der IS als auch die PKK haben in der Vergangenheit gezeigt, dass sie vor Gewalt gegen Zivilisten nicht zurückschrecken; beide Gruppen setzen Selbstmordattentäter ein. Islamische Extremisten verübten im November 2003 die bisher schlimmste Anschlagsserie in Istanbul, als sie bei Selbstmordattacken gegen Synagogen und britische Einrichtungen fast 60 Menschen töteten.

Wie reagiert die Bevölkerung in Istanbul auf die Anschlagsgefahr?

Mit der Ruhe in der Türkei könnte es nun vorbei sein. Die Istanbuler treffen Vorsichtsmaßnahmen, die viele noch aus den schlimmsten Tagen des Kurdenkrieges kennen. Der Unternehmer Onur C. etwa sagt, er meide ab sofort öffentliche Verkehrsmittel und alle Teile von Istanbul, die er nicht genau kenne. Ein anderer Istanbuler meinte am Dienstag, auch er vermeide es, so gut es gehe, mit der Metro zu fahren. Neue Anschläge in Istanbul wären keine Überraschung: „Aber ich werde mir mein Leben von diesen Bastarden nicht vermiesen lassen.“

Istanbul werde zur „Stadt der Angst“, meldete die Internetplattform „RotaHaber“. In sozialen Netzwerken verbreitete sich die Nachricht von einem Schreiben des Gouverneursamtes an alle Istanbuler Polizeidienststellen, in dem besonders gefährdete U-Bahn-Stationen aufgelistet wurden. Zudem war von fünf angeblich mit Sprengstoff beladenen Fahrzeugen die Rede, die im Istanbuler Stadtgebiet unterwegs seien. „Die Leute trauen sich nicht mehr auf die Straße“, hieß es bei „RotaHaber“. Andere Gegenden des Landes müssen ebenfalls mit neuer Gewalt rechnen. Laut Presseberichten will der Geheimdienst MIT Hinweise auf mutmaßliche Selbstmordattentäter in sechs ostanatolischen Provinzen haben. Auch ausländische Touristen könnten ins Visier von Gewalttätern geraten.

Was ist Erdogans Strategie?

Kritiker sagen dem türkischen Präsidenten Erdogan nach, er wolle die legale Kurdenpartei HDP zerschlagen, um seiner eigenen Partei AKP bei möglichen Neuwahlen im November einen Sieg zu ermöglichen. HDP-Chef Selahattin Demirtas sagte, die einzige Schuld seiner Partei liege darin, bei der Wahl vom 7. Juni rund 13 Prozent der Stimmen gewonnen und der AKP damit eine Niederlage beigebracht zu haben. Laut Demirtas und anderen Kritikern will Erdogan erreichen, dass die HDP bei anstehenden Neuwahlen unter die Zehn-Prozent-Hürde fällt und damit nicht mehr im Parlament vertreten ist. Dies würde vor allem der AKP nützen – und Erdogan die Möglichkeit geben, doch noch den angestrebten Übergang zur Präsidialdemokratie zu vollziehen.

Ist das Lager der Kurden geeint?

Keinesfalls. Nicht alle Kurden in der Türkei unterstützen die Rebellen von der PKK oder die HDP, die den Rebellen nahesteht. Konservative Kurden zählen zur Stammwählerschaft der AKP im Kurdengebiet; islamistische Kurden haben zudem die Splitterpartei Hür-Par gegründet, die sich in den letzten Monaten mehrmals blutige Auseinandersetzungen mit PKK-Anhängern geliefert hat. Auch der IS hat unter den Kurden viele Anhänger. Der Selbstmordattentäter von Suruc, der vergangene Woche 32 kurdische Aktivisten mit in den Tod riss, war selbst Kurde.

Beschießt die Türkei auch Kurden, die gegen den IS in Syrien kämpfen?

Derzeit nicht. Die derzeitigen Militäraktionen der Türkei richten sich ausschließlich gegen die PKK, die im Nordirak ihr Hauptquartier und viele Stützpunkte unterhält. Dagegen gehören die anderen nordirakischen Kurden nicht zu den Zielen Ankaras, im Gegenteil: Die Türkei und die Regierung des nordirakischen Kurdengebietes arbeiten eng zusammen. Auch die mit der PKK verbündete Kurdenpartei PYD in Nord-Syrien wird zumindest derzeit noch nicht von der Türkei angegriffen. Zwar ist die PYD der türkischen Regierung wegen Autonomiebestrebungen entlang der Grenze zur Türkei suspekt. Auch weigerte sich die Türkei im vergangenen Jahr, den PYD-Kurden in Kobane gegen die Belagerung des „Islamischen Staates“ zu helfen. Doch türkische Angriffe auf die PYD hat es nach Angaben Ankaras bisher nicht gegeben. Allerdings könnte sich das ändern, wenn die Türkei ihren Plan zur Errichtung einer Schutzzone in Nord-Syrien in die Tat umsetzt.

Warum hat die Türkei die Nato eingeschaltet?

Die Beratungen der Nato-Botschafter am Dienstag in Brüssel dienten nicht etwa dazu, gemeinsame militärische Aktionen zu planen. Es handelte sich vielmehr um Beratungen, bei denen die Türkei ihre Verbündeten über ihre Lage informierte. Grundlage für das Treffen war Artikel vier des Nordatlantikvertrags. Der besagt: „Die Parteien werden einander konsultieren, wenn nach Auffassung einer von ihnen die Unversehrtheit des Gebiets, die politische Unabhängigkeit oder die Sicherheit einer der Parteien bedroht ist.“ In der aktuellen Situation sind zunächst keine weiteren Aktionen zum Schutz der Türkei geplant.

Kann die Bundeswehr hineingezogen werden?

259 Bundeswehrsoldaten sind derzeit in der Türkei stationiert. Ihr Einsatzort Kahramanmaras ist rund 100 Kilometer von der syrischen Grenze entfernt. Da die Auseinandersetzung zwischen der Türkei und dem IS jenseits dieser Grenze stattfindet, sind die Deutschen davon nicht direkt betroffen. Ihr Auftrag ist klar definiert: Sie sollen Raketen, die auf die Türkei abgefeuert werden, abfangen. Raketenangriffe sind jedoch nur von syrischen Regierungstruppen zu erwarten, IS-Kräfte verfügen nicht über Raketen. Gefahr droht den Bundeswehrsoldaten trotzdem. Sie sind ein potenzielles Ziel für Anschläge der PKK oder des IS. Die Sicherheitsvorkehrungen im deutschen Lager wurden daher erhöht.

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