Flüchtlinge in Ungarn: Die Schlepperin von Wittenau
Zeinab wollte nicht auf dem Sofa sitzen, während ihre syrischen Cousins einen Weg aus Ungarn suchten. Also kratzte sie all ihr Geld zusammen und stieg in ein Flugzeug.
Die Schlepperin trägt ein schwarzes Tuch auf dem Kopf und einen Diamantenstecker in der Nase. Weiter, nicht nach links schauen und nicht nach rechts, immer weiter, vorbei an hastig aufgebauten Zelten und schreienden Babys, darauf kann die Schlepperin jetzt keine Rücksicht nehmen. Sie hat einen Job zu erledigen. Auf dem Budapester Bahnhof Keleti riecht es nach Exkrementen und allerlei anderen unappetitlichen Sachen, und die Schlepperin ist froh über ihr Kopftuch, das sie sich vor die Nase halten kann.
Immer noch keine Spur, doch..., halt, da hinten! Gleich neben McDonalds! Die Schlepperin beschleunigt ihre Schritte, noch ein paar Meter, dann fällt sie den beiden Männern um den Hals. Mohammed, der besonders streng riecht und ihr deswegen nur aus sicherer Entfernung die Hand reichen will. Neben ihm steht Hisham, auch er hat seit zwei Wochen nicht geduscht. Nach dreistündiger Suche rund um den Bahnhof hat Zeinab endlich ihre Cousins gefunden, sie nennt sie „meine Jungs“. Zwei der vier Männer, die sie nach Berlin bringen will.
Eine Schlepperin überwindet ihre Ängste
Zeinab ist 29 Jahre alt, sie wohnt im Berliner Stadtteil Wittenau und ist am vergangenen Dienstag zum ersten Mal allein in ein Flugzeug gestiegen. Sie hat Flugangst, aber was soll’s, so konnte und durfte es einfach nicht weitergehen. Die Cousins auf der Flucht und keiner, der sich um sie kümmert. Und bevor so ein windiger Schlepper ihnen das letzte Geld abknöpft und die Familie ins Unglück stürzt, nimmt sie die Dinge lieber selbst in die Hand.
In Syrien, Irak, Jemen und Afghanistan herrscht Krieg. Dazu kommt die Armut, sie drängt genauso viele Menschen zur Flucht wie Fassbomben, Drohnenangriffe und mordende Terroristen zusammen. Die Flüchtlingsfrage stellt Europa vor die größte Herausforderung seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Doch es sind erst die verzwickten Einzelschicksale, die zeigen, um was es eigentlich geht. Schicksale wie das von Zeinab und ihren Jungs.
Budapest hat in diesen Tagen wenig vom Flair, das Touristen so sehr schätzen. Tausende Männer, Mütter, Kleinkinder harren hier aus, zum Teil schon seit mehr als einer Woche. Weil es nicht genügend Toiletten gibt, verrichten einige ihre Notdurft in Tüten. „Ohne Worte! Einfach ohne Worte“, sagt Zeinab. Die Berlinerin mit libanesisch-syrischen Wurzeln wirkt ein bisschen unbeholfen, die Sätze sprudeln auf Deutsch und Arabisch aus ihr heraus.
Noch lange kein Happy End
„Konnte einfach nicht mehr zuhause aufm Sofa sitzen, ey!“ Zeinabs Cousins Raja, Abu Bakr, Hisham und Mohammed haben sich vor Wochen auf die Flucht aus Syrien, aus dem zerbombten Aleppo gemacht, über das Mittelmeer und den Balkan. Zeinab hat die Bilder vom Bahnhof Keleti im Fernsehen gesehen, nicht lange überlegt und sich auf den Weg gemacht. „Das ist hier schlimmer als der Libanon und die Türkei und Griechenland und Mazedonien und Serbien zusammen“, sagt sie. Jetzt hat sie Mohammed und Hisham endlich gefunden, aber es ist noch zu früh, um von einem Happy End zu sprechen. Die Geschichte fängt hier erst richtig an. Eine Geschichte, die zeigt, was die Uneinigkeit unter den EU-Staats- und Regierungschefs, was die Asylpolitik in Europa mit den betroffenen Menschen macht.
Mohammed erzählt von den beiden anderen, die sie auf der Flucht vor der ungarischen Polizei verloren haben. „Raja und Abu Bakr wurden ins Camp von Debrecen eingesperrt.“ Es gibt dort keinen Strom, deswegen funktionieren ihre Handys nicht. Mohammed fühlt sich irgendwie für alles und alle verantwortlich. Er ringt mit seiner zitternden Stimme: „Was den beiden wohl jetzt passiert?“ Er hat Horrorgeschichten aus Debrecen gehört. Gerüchte von verdorbenem Essen, von einer Mafia innerhalb des Lagers, von schlagenden Polizisten. Mohammed sagt, er habe versagt und werde ohne Raja und Abu Bakr keinesfalls weiterfahren.
Zeinab zückt blaue und braune Euro-Scheine aus ihrer großen Geldbörse, um Gebäck, Schokolade und Eis zu kaufen. „Haben die in Ungarn auch Euro?“ In Berlin arbeitet Zeinab als Mädchen für alles im Restaurant eines Bekannten.
Sie bezahlte die Miete nicht
Sie hat für ihre Mission ihren Mutterschutz verlängert, einen Kredit aufgenommen, alle Ersparnisse zusammengekratzt, bei ihrer Schwester Geld geliehen und für diesen Monat die Miete nicht überwiesen. Nein, am Geld soll es nicht scheitern. Noch ist sie davon überzeugt, dass sie mit ihren Jungs am selben Tag mit dem Nachtzug nach Berlin fahren kann. Zeinab kramt ein Bild aus ihrer Tasche. Es zeigt ihre Jungs nach der Ankunft mit dem Gummiboot in Griechenland. Zeinab hat die Angewohnheit, die erste Lösung als die beste Lösung zu akzeptieren. Deswegen sucht sie direkt am Bahnhof nach ihren verschollenen Cousins. „Zwei habe ich auf diese Weise ja schon gefunden.“ Sie zieht ihr Kopftuch wieder über ihre Nase und fragt den ersten auf dem Boden kauernden Syrer: „Hast du diese zwei hier schon mal gesehen?“ Nach ihm werden noch viele andere den Kopf schütteln.
Für den Fall, dass Raja und Abu Bakr aus dem Gefängnis in Debrecen geflohen und mit dem Zug nach Budapest gefahren sind, müssten sie in einer Viertelstunde ankommen. Menschen ohne gültige Aufenthaltspapiere dürfen in Ungarn nicht in Züge einsteigen, am Bahnhof Keleti dürfen sie an diesem Dienstag nicht mal das Empfangsgebäude betreten. Nur mit gültigen Papieren oder richtiger Hautfarbe bekommt man hier Zutritt. „We have the order to do racial profiling“, sagt ein Polizist. In Ungarn gelten alle, die nicht weiß sind, als Problem. Zeinab hält unzählige Male genervt ihren deutschen Ausweis hoch, kaut dabei demonstrativ auf ihrem Kaugummi. Die Blicke der Polizisten sagen: Wie kommt die bloß an einen deutschen Ausweis?
Rechtsradikale Nachbarn und ein Streit unter Freunden
Für den Abend hat Zeinab ein privates Apartment gemietet. In Hotels werden gültige Pässe verlangt. Sie hat Raja und Abu Bakr nicht gefunden und kümmert sich erst einmal um Mohammed und Hisham. Da sich einige ungarische Friseure am Bahnhof Keleti weigern, Flüchtlingen die Haare zu schneiden, stellen sich Hisham und Mohammed bei dem Türken Kenan an. „Ihr seht aus wie aus dem Dschungel“, sagt Zeinab und lacht. „Wenn ich Polizistin wäre, würde ich euch festnehmen.“ Frisch rasiert und geduscht sitzen die beiden jetzt auf Betten vor einer lila Blümchentapete. „Was für ein Komfort!“, seufzt Mohammed.
Wenn eine Mutter lügen muss
Nacht fällt über Budapest, und Zeinab denkt an ihre Kinder in Berlin. An die kranke Tochter, den am Telefon weinenden Sohn, sie hat ihn angelogen, von wegen „die Mama kommt jetzt gleich, sofort und ganz bestimmt nach Hause“. Der Dreijährige hat darauf wütend aufgelegt. Ihr Ehemann gehe ihr seit Wochen auf die Nerven und sei bei der Flucht der Cousins nicht wirklich behilflich. Egal, „ich muss mich auf meine Jungs hier konzentrieren“. Sie will jetzt nur noch Raja und Abu Bakr finden „und dann ab nach Wittenau“.
Am nächsten Morgen fährt ein Zug von Budapest nach Wien. Abfahrt: 9:21 Uhr. Zeinab kramt den Pass ihres Mannes aus der Tasche. „Du siehst ihm schon ein bisschen ähnlich“, sagt sie zu Mohammed. Mit diesem Trick könnte es klappen, die Polizisten am streng bewachten Eingang zum Bahnhof Keleti auszutricksen. Mohammed könnte mit dem Pass in einen Zug Richtung Westen steigen, das mit Hisham werde sie schon regeln. Mohammed überlegt kurz und sagt: „Ich fahre nicht ohne die anderen!“ Fünf Minuten später trifft auf seinem Handy eine Nachricht von Abu Bakr ein: „Konnten fliehen, sind auf dem Weg.“
Budapest ist in diesen Tagen die Stadt der Déjà-vus. An jeder Ecke verlieren sich Familien aus den Augen und finden sich andere wieder. Und so umarmen sie vor dem McDonalds die ungeduschten Ausbrecher aus Debrecen, sie stehen dann beim Friseur Kenan an und sitzen auf Betten vor einer lila Blümchentapete.
Zeinab muss ihre Jungs verstecken. Tagsüber in der Masse am Bahnhof Keleti, abends in schäbigen und überteuerten Apartments. Es findet sich kein Weg weiter nach Deutschland. Zeinab ist verzweifelt und erschöpft nach drei Tagen als Schlepperin.
1000 Kilometer bis Wittenau
Am Morgen des vierten Tags hat sich nicht viel getan. Wittenau ist immer noch knapp 1000 Kilometer entfernt. Zeinab nimmt Stift und Papier zur Hand und versucht, sich einen Überblick über ihre Finanzen zu verschaffen. Es sieht nicht gut aus. Die Euros schwinden, der Fortschritt lässt auf sich warten. Die Rettung kommt als Nachricht über Abu Bakrs Handy: „Haben ein Auto gemietet, wir holen euch da raus.“ Die vielen Anfragen an auch noch so entfernte Bekannte irgendwo in Europa haben sich gelohnt. Ein guter Freund aus Schweden will die Jungs Richtung Westen bringen. Zeinab hat auch mit den Schleppern am Bahnhof gesprochen, die hatten 750 Euro pro Person für einen Platz in einem LKW nach Österreich verlangt. „Kommt nicht in Frage“, sagt Zeinab. „Meine Jungs werden nicht irgendwo zwischen Kartons ersticken.“
Während einige Flüchtlinge vom Bahnhof Keleti verzweifelt zu Fuß nach Wien laufen und Fernsehkameras diesen Moment europäischer Geschichte live in das Budapester Apartment senden, legt Zeinab ihren Jungs Schminke auf. Die Nachricht aus Schweden muss gefeiert werden. Ein bisschen Lippenstift für den metrosexuellen Raja, viel Rouge auf Hishams Wangen. Raja sieht nun so aus wie die arabische Version von Conchita Wurst. „Ich habe mich schon voll integriert.“ Sie lachen laut, tanzen und vergessen für einen Moment alles um sie herum.
Die Nachbarn von der Jobbik-Partei
Doch als es an der Tür leise klopft und plötzlich die Klingel ertönt, verfallen alle in eine Schockstarre. Ist das die Polizei? Das Klopfen hält an. Eine Frau auf der anderen Seite der Tür flüstert etwas auf Ungarisch. Es ist die direkte Nachbarin. Sie hat die arabischen Gesänge gehört und will Zeinab und ihre Jungs warnen: „Die Nachbarn über uns sind rechtsradikale Jobbik-Anhänger“, sie hätten vor einigen Tagen die Polizei gerufen, als eine syrische Familie das Apartment gemietet hatte. Die Nachbarin fragt ob sie noch etwas tun könne, sie drückt Mohammed Brot, eine Dose Hummus und Halal-Salami in die Hand und empfiehlt, doch besser etwas ruhiger zu feiern.
Nach ein paar Minuten wird es wieder lauter, aber diesmal hat es nichts mit Euphorie zu tun, im Gegenteil. Der schwedische Freund verlangt plötzlich 1500 Euro, und für Zeinabs Geschmack tuscheln Raja und Abu Bakr ein bisschen zu viel. Sie legt ihr Handy in die Schlafecke der beiden, schaltet das Mikrofon ein und erfährt auf diese Weise, was da so getuschelt wird. Es gibt eine Überraschung, und zwar keine angenehme.
Zeinab muss mit anhören, wie Abu Bakr vorschlägt, „noch ein bisschen Geld aus ihr rauszupressen“. Zeinab ist wie vor den Kopf geschlagen. Hatte sie sich nicht geschworen, das Geld solle kein Problem sein? Hatte sie sich nicht schon dazu durchgerungen, einen weiteren Kredit aufzunehmen, um die 1500 Euro an den schwedischen Freund zu zahlen? Dass ihre Hilfsbereitschaft so ausgenutzt wird, ist zu viel nach den physisch und psychisch anstrengenden Tagen in Budapest.
Scheitert es dann doch an ihnen selbst?
Sie berät sich kurz mit Mohammed. Der bittet sie, erst einmal ruhig zu bleiben, aber Zeinab kann nicht mehr. Noch in der Nacht stellt sie Abu Bakr zur Rede: „Ist das der Dank dafür, dass ich meine Kinder im Stich lasse für vier ausgewachsene Männer?“ Es wird laut, die Nachbarn machen die Lichter an, und wer weiß, ob nicht die Rechtsradikalen von der oberen Wohnung gleich vor der Tür stehen. Raja weint, die Schminke auf seinem Gesicht verschmiert. Abu Bakr leugnet und zieht seine Schuhe an, als er seine Stimme vom Band hört. Wittenau liegt wieder weit weg – und diesmal sind nicht die Politiker schuld daran, dass Zeinabs Mission zu scheitern droht.
Im Hintergrund läuft die ganze Zeit lautlos das ungarische Staatsfernsehen, zu den Bildern von den Flüchtlingen ist nur das Summen des alten Röhrenfernsehers zu hören. Ministerpräsident Viktor Orban redet nun schon seit einer Weile auf einer Pressekonferenz. „Der sieht so aus wie ein Schwein“, sagt Zeinab. „Der ist schuld daran, dass wir uns streiten!“ Abu Bakr aber will immer noch gehen, sie zerren an ihm und es wird wieder laut im Apartment. „Wo willst du denn mitten in der Nacht hin?“, fragt Hisham, er hat die ganze Zeit im Koran gelesen, alles ausgeblendet und wenig mitbekommen vom plötzlichen Zerwürfnis. „Du kennst dich in Budapest doch gar nicht aus!“ Im Fernsehen zeigen sie Fußball-Hooligans, die auf der Straße Flüchtlinge anpöbeln. Zeinab denkt kurz nach, sie macht den Männern einen Kaffee und ordnet an: „Jetzt beruhigen wir uns erst mal wieder! Wir klären das in Berlin!“
Wittenau rückt wieder ein Stück näher
Am nächsten Morgen ist der Streit kein Thema mehr. Raja, Abu Bakr, Hisham und Mohammed steigen ins Auto mit dem eigentlich überhitzten Motor. Zeinab fliegt zurück nach Berlin und freut sich über ihre Flugangst, sie beschert ihr zumindest für eine Stunde andere Gedanken. Eigentlich würde sie am liebsten mit im Auto fahren und auf ihre Jungs aufpassen, aber Distanz tut der Freundschaft auch mal ganz gut, erst recht nach den anstrengenden Tagen von Budapest. Am Flughafen in Schönefeld wartet ihr Mann mit einer roten Rose und zwei hyperaktiven Kindern. Ein Micky-Maus- und ein Barby-Heft machen Zeinab wieder zur besten Mama der Welt.
Fünf Nächte lang hat sie gar nicht oder fast gar nicht geschlafen, aber sie findet einfach keine Ruhe, nicht mal am nächsten Morgen, früh um vier, als sie endlich mit ihren Jungs auf der schwarzen Ledercouch in Wittenau sitzt. „Ich muss doch noch kochen“, sagt Zeinab.