zum Hauptinhalt
Umgezogen. Diesen Lieferwagen haben die Fahrradpolizisten Nadine Hartung und Carsten Baß vom Fahrradstreifen auf die Autospur geschickt.
© Kai-Uwe Heinrich

Berliner Straßenverkehr: Die Fahrradstaffel - das Gesetz im Sattel

Sie füllen eine Lücke, an der Berlin stetig leidet: Der ansprechbare Freund und Helfer in Uniform ist aus dem Stadtbild verschwunden. Die Fahrradpolizisten von Mitte holen das Recht auf die Straße zurück – und senken damit die Unfallzahlen.

Der Bärtige mit dem schwarzen Mountainbike mustert Carsten Baß zwei Mal von oben bis unten, bis er endlich den Polizei-Schriftzug auf dessen Funktionsjacke entdeckt. „Ach nee!“, ruft er dann und muss lachen, weil ihm klar wird, warum der sportliche Mann mit dem weißen Fahrrad quer über die Straße geschossen kam, um ihn zu stoppen. Der Bärtige war auf der Wilhelmstraße bei Rot über die Kreuzung Ecke Niederkirchnerstraße geradelt, dort, wo das Finanzministerium und Reste der Berliner Mauer stehen.

Carsten Baß und Nadine Hartung haben ihn dabei beobachtet. Eigentlich wollten sie hier nach Falschparkern auf dem Radstreifen schauen. Aber unverhofft kommt für Fahrradpolizisten nicht nur oft, sondern ständig. Deshalb springt jetzt auch Nadine Hartung auf die Fahrbahn, um die Frau aufzuhalten, die gerade bei Rot aus der Zimmerstraße durch den Fußgängerstrom abgebogen ist. „Die habe ich doch letzte Woche schon wegen der gleichen Sache angehalten“, sagt die Kommissarin zu Baß. Und mehr zu sich selbst: „So viel Pech muss man erst mal haben.“

In Neukölln dagegen sank die Quote der Rotfürchtigen

Seit Sommer 2014 sind die Fahrradpolizisten in der östlichen Berliner Innenstadt unterwegs, montags bis sonntags in zwei Schichten von 7 bis 20 Uhr. In ihrem Revier, das von Moabit etwa bis zum Alexanderplatz und vom Nordbahnhof bis an die Grenze zu Kreuzberg reicht, sind sie ausweislich der Statistik inzwischen recht bekannt: Eine Untersuchung zum Abschluss der dreijährigen Pilotphase ergab, dass im Einsatzgebiet deutlich weniger bei Rot und auf Gehwegen geradelt und nicht mehr ganz so selbstverständlich auf Radspuren geparkt wird.

Sogar die Zahl der schweren Unfälle mit Radfahrerbeteiligung – wie jene vom vergangenen Donnerstag und Freitag, bei denen das Verhalten rechtsabbiegender und türenaufreißender Berufskraftfahrer zwei radfahrende Menschen das Leben kostete und einen die Gesundheit – ist deutlich gesunken, an einigen besonders kritischen Stellen um mehr als die Hälfte.

Die Unfallforschung der Versicherer hat außerdem Verkehrsteilnehmer jeweils vorher und zum Ende der Pilotphase befragt, ob sie eine polizeiliche Fahrradstaffel für sinnvoll halten: In Mitte wuchs der Anteil der Ja-Sager von 43 auf 69 Prozent. Und statt zuvor nur 10 Prozent der Radfahrer hielten es nun 26 Prozent für wahrscheinlich, beim Rotfahren erwischt zu werden. Im Vergleichsbezirk Neukölln, wo es keine Fahrradpolizisten gibt, sank die Quote der Rotfürchtigen während derselben Zeit von 39 auf 20 Prozent.

Schon morgens hat sie 29 Kilometer in den Beinen

Mit der Auswertung der Unfallforscher haben die Beteiligten noch mal schriftlich bekommen, was sich schon kurz nach dem Start abgezeichnet hatte: Die Fahrradpolizei füllt eine Lücke, an der rechtschaffene Berliner stetig leiden. Der ansprechbare, bürgernahe Freund und Helfer in Uniform ist aus dem Stadtbild verschwunden, weil er stattdessen im Streifenwagen von Einsatz zu Einsatz hetzt und nicht mehr weiß, wohin mit seinen Überstunden.

Deshalb wurde die Fahrradstaffel etabliert – bewusst ohne zusätzliche Aufgaben und mit Geld von Verkehrsverwaltung und Versicherungswirtschaft für die Erstausstattung sowie die wissenschaftliche Begleitung der dreijährigen Pilotphase.

Polizeikommissarin Nadine Hartung, 41, und Hauptkommissar Carsten Baß, 51, waren von Anfang an dabei, wie alle im Team. Wenn Hartung von ihrer Wohnung bei Bernau morgens in der Dienststelle nahe dem Hauptbahnhof ankommt, hat sie schon 29 Kilometer in den Beinen. Sie ist nicht die Einzige in der 19-köpfigen Truppe mit einem solchen Arbeitsweg. Über den Tag kommen dann noch mal 15 bis 20 Kilometer zusammen.

Sie stehen, mahnen und schreiben

Sie stehen, mahnen und schreiben viel wie jetzt und hier, wo die erwischte Wiederholungstäterin schaut wie sieben Tage Regenwetter, während der Bärtige den Polizisten ganz ironiefrei ebenfalls einen schönen Tag wünscht, als er seine Quittung verstaut. Weil er niemanden gefährdet und den Regelverstoß sofort eingesehen hat, bekommt er statt einem „qualifizierten“ nur einen „einfachen“ Rotlichtverstoß angerechnet – für 60 Euro plus Bearbeitungsgebühr plus Punkt in Flensburg. Für die Frau werden 100 Euro plus Gebühr und Punkt fällig; „die hat’s ja offenbar noch nicht begriffen. Jeder fährt so, wie er sich’s leisten kann“, sagt Baß.

Angefangen hat der Tag im kargen Frühstücksraum der Containerwache nahe dem Hauptbahnhof, wo zwischen Tupperdosen und Bäckertüten Honiggläser und Kräutersalzstreuer stehen. Ankommende Kollegen wurden mit Küsschen oder kurzer Umarmung begrüßt, der Ton war auffallend freundlich. „Man merkt halt, dass wir alle freiwillig hier sind“, hat Nadine Hartung erklärt. Sie haben sich damals von anderen Dienststellen hierher beworben.

Die Schutzwesten sind schwer - „aber ich hab halt Familie“

Hartung und Baß tragen Schutzwesten unter den Radeljacken. Es gäbe welche, die kaum ein Kilo wiegen, aber ihre wiegen drei. Das geht auf den Rücken, erschwert das Atmen und ist im Sommer arg warm, „aber ich hab halt Familie“ und „jeder Zweite hat heutzutage ein Messer“, sagt die Kommissarin. Der Gürtel mit Waffe, Pfefferspray, Handschellen, Taschenlampe, Funkgerät und Stock wiegt weitere drei Kilo. „Das hat der Bürger, der uns wegfährt, eben nicht.“

Wobei der Bürger sich das Wegfahren allmählich abgewöhnt: Am Anfang sind sie regelmäßig Kurieren und Rabauken hinterhergesprintet, soweit sie es verantworten konnten. Meist haben sie gewonnen, bei Gewohnheitsrowdies spätestens im zweiten Anlauf; man sieht sich ja öfter. Dann gab es ein Ticket – und Respekt für die Polizisten, die den Outlaws auf Augenhöhe gegenübertraten statt wie sonst aus der Autotür. „Das macht viel aus“, sagen beide, die aus ihrer früheren Arbeit im Streifendienst einen härteren Umgangston gewohnt sind.

Das Pfefferspray haben sie allerdings erst am Tag zuvor gebraucht, als sie ein bremsenloses Edelfahrrad einkassieren wollten zwecks Gefahrenabwehr: „Wenn ihr mein Rad haben wollt, dann holt’s euch doch!“, habe der Besitzer gesagt und eine Angriffshaltung eingenommen. So was passiert aber selten, sagen die beiden.

Telefoniert der Lkw-Fahrer da?

Im Grunde verteidigen sie ja nur den zivilisatorischen Wertekanon gegen den Wahnsinn des Großstadtverkehrs. So wie jetzt in der verstopften Friedrichstraße, in der ein Rechtsabbieger im Getümmel einen Radler abdrängt. Der winkt nur ab, als Nadine Hartung ihn bittet, als Zeuge dazubleiben: Ist ja nichts passiert. Carsten Baß sprintet dem Auto hinterher. Ein Mietwagen mit slowakischem Kennzeichen und neuseeländischem Fahrer. Auf Englisch erklären sie ihm sein Vergehen, er schwört, beim nächsten Mal besser aufzupassen. Die Polizisten könnten jetzt einen weltumspannenden Papierkrieg anzetteln, während ihr Zeuge – der Geschädigte, falls die Sache vor Gericht landet – längst verschwunden ist. Also belassen sie es bei einer Ermahnung, obwohl Nadine Hartung es krass findet, „dass der Radfahrer sich offenbar schon so ein dickes Fell zugelegt hat, dass er das einfach hinnimmt, wenn ihn einer fast umfährt“.

Dann ermahnen sie einen BMW-Fahrer, der zum Telefonieren auf der Radspur in der Axel-Springer-Straße gehalten hat. Und später den Skoda-Fahrer am Nordbahnhof, der zum selben Zweck halb auf dem Gehweg, halb auf dem Radstreifen steht – und ebenfalls sofort verschwindet, worauf es ja ankommt. Und zwischendurch checken sie den Lieferwagenfahrer, der an der Schlossbaustelle in die gesperrte Rathausstraße fährt, aber ausweislich seines Lieferscheins tatsächlich dorthin muss. Baß ist ihm ziemlich waghalsig vor die Nase gefahren, als er ihn sah.

Die beiden Polizisten sehen viel, weil sie mit eingeschaltetem Ordnungswidrigkeitenradar durch die Stadt rollen: Telefoniert der Lkw-Fahrer da? Nein, kratzt sich nur beim Selbstgespräch. Steht der Sattelzug dort auf dem Radweg? Nein, er rangiert, vorbildlich mit Sicherungsposten. Fährt die Frau über den Gehweg? Okay, jetzt ist sie abgestiegen.

Der Unterschied zwischen Checkpoint Charlie und Mauergedenkstätte

Nach drei Stunden und 15 Kilometern waren sie in allen Kiezen ihres Reviers und haben zwischendurch noch zwei Japanern den Unterschied zwischen Checkpoint Charlie und Mauergedenkstätte erklärt und an der Ackerstraße Ecke Bernauer ein paar Minuten hinterm Trafokasten gestanden, um zu gucken, ob jemand auf der Gefällestrecke bei Rot durch die Fußgängertrauben pflügt wie so oft hier, wo Touristengruppen oszillieren, viele Behinderte wohnen und Kita-Kinder queren müssen. „Morgens kommen wir hier manchmal zu dritt mit dem Aufschreiben nicht hinterher“, erzählt Nadine Hartung.

Den Rückzugsraum des Funkwagens vermissen sie nicht, sagen beide. Sie wollen ja ansprechbar sein, dafür seien sie schließlich Polizisten geworden. Und für die Erwischten verschlechtert sich die Verhandlungsbasis, wenn ihr Ticket wegen Falschparkens nicht in einem hinter ihnen auf der Radspur stehenden Funkwagen erstellt wird. Es gibt solche Staffeln auch in anderen Städten, aber die Berliner ist die einzige mit Vollzeitradlern.

Die beiden rollen jetzt wieder die Invalidenstraße entlang in Richtung Mittagspause. Kurz vor dem Naturkundemuseum schreibt Nadine Hartung drei Umzugshelfern ein Ticket zum Mindesttarif von 20 Euro, weil ihr Transporter auf dem Radstreifen steht statt links daneben auf der Autospur, in die er ohnehin hineinragt. Ohne ein Widerwort parken die Männer einen Meter weiter links. An der Großbaustelle am Humboldthafen steht ein Sattelschlepper korrekt in der Autospur und hat den Radstreifen freigehalten. „Wir haben denen das beigebracht“, sagt Baß.

Prenzlauer Berg? Eine andere Welt

In der Statistik der Unfallforschung fällt auf, dass die Fahrradpolizisten von Jahr zu Jahr weniger Radfahrer, aber immer mehr Autofahrer angezeigt haben. Sterben die Gehwegradler und Rotfahrer aus? „Es ist nun mal gefährlich, die Radspuren zuzuparken!“, sagt Baß ehrlich empört. Nadine Hartung denkt nach: Ja, doch, „wenn ich durch Prenzlauer Berg nach Hause radle, bin ich schlagartig in einer anderen Welt. Da fährt jeder, wie er will. Gerade die Latte-Macchiato-Mütter haben wirklich null Unrechtsbewusstsein.“ Aber es könnte auch sein, dass das mobile EC-Zahlungsgerät, das ihnen die Bußgeldstelle neuerdings zur Verfügung gestellt hat, die Statistik verzerrt: Wer sofort bezahlt, fliegt bei kleineren Delikten unterm Radar durch. „Dieser Service wird sehr gut angenommen“, sagen sie.

Ausweislich der Evaluation und dieser so selten gewordenen klassischen, aber dabei so hochgradig effizienten Ordnungshüterei müssten Fahrradstaffeln in der ganzen Stadt etabliert werden, das fordern jedenfalls die Unfallforscher ebenso wie der Radfahrerverband ADFC, und die Beamten im Pausenraum finden es auch. Aber sie wissen, wie das ist mit der Ausstattung der Polizei. 2019 könnte es so weit sein oder 2020, heißt es im Präsidium. Falls Stellen bewilligt werden.

Zur Startseite