Debatte um das Kopftuch: Deutschlands ewiger Diskussionsstoff
Die eine trägt Kopftuch, die andere tut es nicht. Zwei junge Frauen aus Berlin, gläubige Musliminnen, Schwestern – und ihr Leben mit der deutschen Kopftuchdebatte.
Der Kern des Islam, das sagt ihr Vater immer, der Kern ist das reine Herz – und nicht ein Kopftuch. Eines Sommertages im vergangenen Jahr band sich Sakina Hassan trotzdem eins um.
Das Tuch war blau, es war das erstbeste, das sie finden konnte.
Natürlich hatte Sakina Hassan, damals 15 Jahre alt, lange darüber nachgedacht. Selbst als sie schon beschlossen hatte, dass zu ihr und ihrem Glauben, wie sie ihn sieht, auch ein Tuch gehört, übereilte sie nichts. Als sie in Bremen Verwandte besuchte, traute sie sich erstmals mit Kopftuch auf die Straße. Ein Testlauf.
Wie fühlt sich das an? Gut.
Wer guckt? Alle – oder?
Denn das ist ja das Paradoxe an diesem Tuch. Man deckt sich zu – und wird umso sichtbarer. Das muss man wollen. Sakina Hassan will.
Vor rund vier Wochen war das Kopftuch zuletzt deutschlandweit Thema. Der nordrhein-westfälische Integrationsminister Joachim Stamp hatte angekündigt, ein Kopftuchverbot für Mädchen unter 14 Jahren zu prüfen. Erst mit 14 sind Jugendliche religionsmündig, können also selbst entscheiden, ob, und wenn ja, wie sie einen Glauben leben möchten. Davor, die Vermutung lag dem Vorstoß zugrunde, geht es lediglich um Zwang und Elternwille. In Österreich, wo seit Wochen die gleiche Debatte geführt wird, kündigte die Regierung eine Gesetzesinitiative an.
Sofort äußerten sich jede Menge Politiker zum Thema – bis hin zur Bundeslandwirtschaftsministerin. Ja, gibt es denn nicht immer mehr Grundschülerinnen mit Kopftuch? Das Kopftuch sexualisiert die Mädchen! Kinder sollten unbeschwert und frei sein!
Einige wenige wiesen darauf hin, wie absurd es sei, das Kind in den Mittelpunkt eines Konflikts zwischen Staat und Elternhaus zu stellen, jemanden, der sich schon aus Gründen der Loyalität immer für die Eltern entscheiden wird. Die Debatte nahm ihren Lauf, eine Woche, zwei, dann geschah, was in der Diskussion immer geschieht: Tuch drüber und gut ist. Nichts ist gut. Sakina Hassan sagt: „Wäre ich von so einem Verbot betroffen gewesen, damals, das hätte mich tatsächlich sehr unglücklich gemacht.“
"Religion wurde uns vorgelebt"
Ihr beigefarbenes Tuch leuchtet fast, so grau und trübe ist dieser Nachmittag im April. Sakina Hassan sitzt neben ihrer älteren Schwester Mariam auf dem Sofa, zwei zarte Frauen, Berlinerinnen, 16 und 22 Jahre alt, zwei gläubige Musliminnen, die jüngere mit Tuch, die ältere ohne; die jüngere mit geändertem Vornamen, weil es sich um sehr private Überlegungen handelt, die ältere allein mit verfremdetem Nachnamen, der Anonymität für den Rest der unbefragten Familie wegen. Alle Frauen darin halten es unterschiedlich mit der Kopfbedeckung. Sie sind Repräsentantinnen eines modernen Islam, ihre Entscheidungen treffen sie freiwillig und mit Respekt vor der Verschiedenheit ihrer Lebensentwürfe. Auch die Schwestern haben sich viele Gedanken gemacht – und tun es noch.
Mariam und Sakina Hassans Vater kam zum Studium aus dem Sudan nach Deutschland, lernte in Bremen seine spätere deutsche Ehefrau kennen. Die beiden bekamen drei Töchter und trennten sich vor wenigen Jahren. Die Mutter ist Christin. So oder so spielt Glaube eine wichtige Rolle in der Familie.
„Religion wurde uns immer nahegebracht und vor allem: vorgelebt“, sagt Mariam Hassan, die sogar ein Studium der Religionswissenschaften begann und erst kürzlich zu sozialer Arbeit wechselte. Ihrem Vater sei es zu verdanken, dass die Schwestern auch Bescheid wüssten über andere Glaubensrichtungen, vom Buddhismus bis zum Judentum. „Er hat immer versucht, uns viel zu vermitteln.“ Er hat einen Keller voller Bücher. Wie sie ihren Glauben leben, das sollen die Töchter selbst entscheiden. Und doch: Als er seine Jüngste zum ersten Mal mit Kopftuch sah, fiel es ihm schwer, seine Freude zu verbergen: „Mashallah!“ Die Schwestern lachen.
Ob etwas von der Notwendigkeit, ein Kopftuch zu tragen, im Koran steht, darüber wird seit jeher gestritten. Es gibt jene, die eine Pflicht in Textpassagen erkennen wollen. Und viele andere, die nichts derartiges herauslesen können. Sure 33 Vers 59 zum Beispiel. „Sag deinen Gattinnen und Töchtern und den Frauen der Gläubigen, sie sollen sich etwas von ihrem Gewand herunterziehen. So ist am ehesten gewährleistet, dass sie erkannt und daraufhin nicht belästigt werden.“
Doch was soll heruntergezogen werden – und was damit verhüllt? Die Erklärungen füllen wissenschaftliche Artikel, sie berücksichtigen den sozialen Kontext, den historischen und unterschiedliche Übersetzungen aus dem Arabischen. Mariam und Sakina Hassan sagen: „Jeder muss selber entscheiden, was er für richtig hält.“ Generell sei nicht derjenige der bessere Gläubige, der – nach außen hin – am meisten mache.
Eine persönliche Entscheidung
Nie würden sie ein Kopftuch tragen, weil jemand anders das wünscht. Es aus dem Grund auch nie ablegen. In ihrem Umfeld sind sich alle einig: Das ist eine persönliche und individuelle Entscheidung. Zu einer Zeit, in der sich in Sakina Hassans Leben einiges änderte, ein Umzug anstand und damit verbundene Entscheidungen, gab ihr das Tuch ein Gefühl von Sicherheit und Selbstbestimmtheit.
„Ich habe viele Freundinnen, die ein Kopftuch tragen“, sagt Sakina Hassan. Und, wie ihre Schwestern auch, Freundinnen ohne, muslimische Freunde und Nicht-Muslime. In ihrer Schulklasse war sie nicht die erste, die ein Tuch anlegte, doch groß thematisiert haben die Schülerinnen das nicht. Auch Reaktionen von Freunden und Mitschülern fielen unspektakulär aus: Aha, okay, schön, mach doch.
„In unserer Generation sind die meisten offen und haben Kontakt mit vielen unterschiedlichen Menschen“, sagt ihre Schwester Mariam, „da kommt es selten zu blöden Kommentaren oder Unverständnis.“ Vielleicht ist es eine Blase, in der sich die konfessionell und kulturell durchmischte Jugend in der Großstadt bewegt. Vielleicht ist es auch eine Vision für die Zukunft. In der Generation der zwanzig Jahre älteren dagegen haben viele nicht nur keine Muslime im Freundeskreis – sie kennen nicht mal welche.
„Ich versuche, fünfmal am Tag zu beten“
„Ich versuche, fünfmal am Tag zu beten“, sagt Mariam Hassan, und dass just in dem Augenblick aus ihrem Handy ein Muezzin-Gebetswecker ertönt, verstärkt, wie wichtig ihr das ist. Als meditative Unterbrechung des Tages, ein kurzes Luftholen, Zu-sich-kommen – und zu Allah.
In ihrer Handtasche trägt sie eine Gebetskette durch Berlin, sie liegt neben einem Apfel, Adressbuch, Lipgloss. „Seit ich 16 bin, habe ich im Kosmetikbereich gearbeitet, meinem Schönheitsideal entspricht einfach eine Frau mit offenen Haaren“, sagt Mariam Hassan. Dass sie über ihr eigenes, langes schwarzes Haar irgendwann einmal ein Kopftuch legen könnte, hält sie trotzdem nicht für ausgeschlossen. „Für mich ist Kopftuchtragen auch etwas ganz Schönes und Wunderbares.“ Weil damit jemand eine klare Entscheidung getroffen hat, fest zu etwas steht und bereit ist, die eigene Eitelkeit etwas Höherem unterzuordnen.
Der Glaube stärkt sie
Als ihre jüngere Schwester beschlossen hatte, ihrem Bauchgefühl zu folgen und fortan bedeckt durchs Leben zu gehen, kauften sie gemeinsam ein paar Tücher, setzten sich zu Hause hin und probierten, was gut aussieht, was nicht. „Das war total schön und lustig“, erinnert sich Mariam Hassan. Auch wenn es Sakina Hassans beiden älteren Schwestern lieber wäre, sie würde das Tuch mal anders binden, so dass es „ihre Kopfform schöner macht“; oder sie nähme mal einen anderen Stoff, schließlich sind die Möglichkeiten quasi ungezählt und Styling-Vorbilder leicht auf Instagram zu finden. Meriem Lebdiri zum Beispiel, eine algerisch-deutsche Designerin. Mariam Hassan zeigt Bilder auf ihrem Handy. Sakina Hassan lacht. „Ich sag’ dann: Wenn’s euch so gut gefällt, dann tragt’s doch selber.“
„Ich finde es stark, dass sie das macht“, sagt Mariam Hassan. Und stockt. Wieso stark? Sollte es nicht natürlich sein, so etwas selbstbestimmt zu entscheiden, Religionsfreiheit, Grundgesetz, Artikel 4.
„Ist das nicht das Tolle an Deutschland: Man kann hier so leben, wie man möchte“, sagt Sakina Hassan. Oder nicht?
Theoretisch schon. Praktisch spürt Sakina Hassan wie ein Seismograf das Anschwellen und Abebben der ewigen Kopftuchdebatte. Auch sie wird von Fremden gelegentlich beleidigt – und versucht, es mal mit Humor zu nehmen, mal mit Gleichgültigkeit. Ihr Glaube stärke sie, sagt sie, und sicher bedarf es göttlicher Superpower, die Doofe-Sprüche-Macher wieder und wieder abtropfen zu lassen.
„Ich hab’ nicht so Probleme, weil ich nicht so muslimisch aussehe“, sagt ihre ältere Schwester, und es liegt Bestürzung in ihrem Ton. Sie trifft das Vorurteil anders herum: „Was, du bist Muslimin? Krass.“ Wie jetzt, krass?
Muslimische Frau zu sein, das bedeutet immer auch, dass alle anderen schon alles über dich zu wissen glauben. Mehr noch: es besser zu wissen.
Ekin Deligöz kennt das. Vor rund zwölf Jahren stand sie monatelang unter Polizeischutz. Wegen eines Kommentars zum Kopftuch.
Ein politisches Symbol
Die 47-jährige türkischstämmige Grünen-Politikerin, seit 1998 Mitglied des Bundestags, empfängt an einem heißen Apriltag in ihrem Büro. Das Kopftuch symbolisiert für sie die unterdrückte Frau in einem patriarchalischen Gesellschaftssystem. Daran hat sich über all die Jahre nichts geändert. „Das Kopftuch ist ein politisches Symbol“, sagt Deligöz, und die Diskussion darüber sei Politik.
Im Oktober 2006, um das Kopftuch wurde gerade wieder besonders laut gestritten, zitiert die „Bild am Sonntag“ Deligöz mit den Worten: „Ich appelliere an die muslimischen Frauen: Kommt im Heute an, kommt in Deutschland an. Ihr lebt hier, also legt das Kopftuch ab! Zeigt, dass ihr die gleichen Bürger- und Menschenrechte habt wie Männer.“ Die Wut der Kopftuchbefürworter trifft sie hart.
Die zierliche Frau wuchtet einen Leitz-Ordner voller Hassbriefe auf den Tisch. Ein Ordner von insgesamt sechs. Ekin Deligöz blättert und liest vor: „Wer zu viel Schweinefleisch isst, der wird irgendwann ein Schwein“, „Hure“, „atheistische Ex-Türkin“, „fick dich“. Islamisten drohen damals, sie umzubringen.
Die Politisierung aufzubrechen, sei die einzige Möglichkeit, die Debatte mal wieder runterzuholen, sagt Ekin Deligöz. „Wir müssen das als Frauen unter uns ausmachen und entpolitisieren“, sagt sie. „Man darf das den Musliminnen ruhig zutrauen.“ Tut man aber nicht.
So diskutiert jeder mit. Christian Lindner. Horst Seehofer. Julia Klöckner. Längst verschleiert diese Diskussion ganz andere politische Probleme. „Es ist eine Stellvertreterdebatte für vieles“, sagt Ekin Deligöz und erzählt von einer nicht veröffentlichten Studie, die zeige, dass die Zahl der Kopftuchträgerinnen in der Türkei derzeit abnehme. Weil die Frauen besser gebildet seien, ökonomisch unabhängig und so auch bereit, eigene Entscheidungen zu treffen. „Wenn man die Migranten nicht ständig in die Minderheitenrolle drängen würde, dann änderte sich das hier vielleicht auch.“ Das Kopftuch ist ein Signal in zwei Richtungen: eines der Zugehörigkeit zur migrantischen Gesellschaft; und zugleich bestätigt es der Mehrheitsgesellschaft ein ohnehin schon unterstelltes Anderssein.
Es gibt die unterschiedlichsten Gründe, warum Frauen Kopftuch tragen. Rebellische Teenager mögen darunter sein, Mädchen, die es tun, weil alle Freundinnen es tun, dazu gezwungene Ehefrauen und jene, denen das Tuch auf dem Kopf Freiheiten verschafft, weil die Eltern einer vermeintlich sittsamen Tochter mehr erlauben. „Der Anteil der Frauen, die hochgebildet sind und das für sich und unabhängig entscheiden, ist noch sehr gering“, sagt Ekin Deligöz. Sakina Hassan sagt: „Als ich mich für das Kopftuch entschieden habe, habe ich auf keinen Fall gedacht: Das ist ja ein politisches Symbol.“
"Wir müssen den Mund aufmachen"
Es ist ein sonniger Samstagvormittag, ein paar Tage sind seit dem ersten Gespräch vergangen, die Schwestern sitzen in einem Café in einer friedlichen Wohngegend in Moabit, sie wohnen ganz in der Nähe. Mit ihrer Entscheidung vor einem Jahr folgte Sakina Hassan einem Gefühl, war das nicht ihr gutes Recht? „Die anderen können ja nicht wissen, was ich als Freiheit empfinde“, sagt sie.
Freiheit ist die Möglichkeit, ohne Zwang zwischen verschiedenen Optionen zu entscheiden. Wenn es ums Kopftuch geht, ist Freiheit offenbar nicht gleich Freiheit.
Als sie vor einem Jahr zum ersten Mal mit Tuch das Schulgelände betrat, fragten die Lehrer sie: Warum trägst du das? Sie grinst. Klar, die hätten schon wissen wollen, ob sie gezwungen wird.
Thema im Unterricht sei das Kopftuch bei ihnen nie gewesen, sagen die Schwestern. Nicht in Kreuzberg, wo sie die Grundschule besuchten, nicht in Bremen, wo sie anschließend ein paar Jahre lebten. Und auch nicht in Sakina Hassans weiterführender Schule in Moabit.
Sakina Hassan erzählt, dass sie selber Lehrerin werden möchte. Mit Kopftuch. In Berlin ist das nicht möglich, das Neutralitätsgesetz verbietet es. Immer wieder klagen Lehrerinnen dagegen, zurzeit sind mehrere Verfahren anhängig. „Es sind ja noch ein paar Jahre hin“, sagt Sakina Hassan hoffnungsvoll.
Bis dahin versucht sie, die gute Muslimin zu sein, setzt sich im Unterricht in die ersten Reihen, macht viel mit, vor allem wenn neue Lehrer vor ihr stehen. Oder beim Amt. Da ist sie dann besonders freundlich. „Es ist halt unser Job, der Mehrheitsgesellschaft zu helfen, Muslime zu verstehen, Ängste abzubauen.“ Die Schwestern lachen. Aber sie meinen das ernst. So ernst, wie es die Debatte verlangt. „Wir müssen den Mund aufmachen“, sagt Mariam Hassan. „Muslimische Frauen sollten dafür einstehen können, wie sie leben.“ Auch deswegen engagiert sie sich beim Berliner Projekt Juma: jung, muslimisch, aktiv.
Es gibt Tage, an denen kommt es Sakina Hassan so vor, als gehe das Tuch mit ihr spazieren, nicht anders herum. Dann ist sie ihr Kopftuch, ist eine aus Syrien Geflohene, eine Unterdrückte, eine Islamistin – all das, wofür das Tuch in den Augen der anderen steht. Aber es gibt auch andere Tage, da wird sie vom Tuch getragen, im positiven Sinn. Es gibt ihr Kraft. Diese Tage überwiegen.