Norbert Lammert: Der Rückzug kann warten
Als Bundestagspräsident war Norbert Lammert der Herzschrittmacher der Demokratie. Er weiß um den Wert des Streits. Und seinen eigenen: Der Rückzug ins Private? Kann warten.
Wenn es um die oft beschworene Brücke zwischen Geist und Macht, zwischen Kultur und Politik geht, dann ist Norbert Lammert gerne dabei. Auch auf den Brücken über historischen Gräben.
Gerade wurde dem Bundestagspräsidenten a. D., der für viele lange auch als Bundespräsident in spe galt, im Jüdischen Museum in Berlin der Leo-Baeck- Preis verliehen. Es ist die höchste, nach dem berühmten, von den Nazis einst in Theresienstadt malträtierten Rabbiner benannte Auszeichnung der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland.
Bei solchen Ehrungen, erzählt Lammert ein paar Tage vor der Preisfeier in seinem Büro im Jakob-Kaiser-Haus schräg hinterm Reichstag, sei er meist etwas hin- und hergerissen. Erfreut natürlich über die Anerkennung, weil ihm in seinen zwölf Jahren als Präsident des Parlaments (2005 bis Oktober 2017) das Bekenntnis zu Israel und zur geschichtlichen Verantwortung Deutschlands nach den Verbrechen an Europas Juden eine Angelegenheit des denkenden Herzens war. Er hat nicht allein zum Holocaust- Gedenktag am 27. Januar 2016 eine seiner herausragenden Reden im Bundestag gehalten. Er sagt, zu den „bewegendsten Momenten meines Lebens“ habe bei einer seiner zahlreichen Israelreisen die Einladung gehört, im Jahr 2016 auch („auf Deutsch!“) vor der Knesseth in Jerusalem zu sprechen.
Sawsan Chebli imponiert ihm
Lammert hatte fünf Jahre zuvor bereits Israels damaligen Staatspräsidenten Schimon Peres bewogen, im deutschen Bundestag eine Rede über Abgründe und Gemeinsamkeiten der beiderseitigen Geschichte zu halten. Und er war 2016 zum Begräbnis des ungarischen Auschwitz-Überlebenden und Literaturnobelpreisträgers Imre Kertész nach Budapest gereist, selber freundschaftlich bekannt mit Kertész und dessen Ehefrau Magda. Dazu merkt Lammert ironisch an: „So habe ich wohl immerhin bewirkt, dass auch Orbán am Grab erscheinen musste.“ Jener Ministerpräsident, der Fremdenfeindlichkeit und antisemitische Affekte in seinem Land oft genug bestärkt hat.
Warum aber neben der Freude auch Vorbehalte gegen eigene Auszeichnungen? Lammert, der zuvor als Parlamentspräsident in der Beletage des Reichstags über dem westlichen Hauptportal seine Amtssuite hatte, steht bei dieser Frage nun im fünften Stock des Jakob-Kaiser-Hauses im bescheideneren neuen Büro vor einer Bücherwand, in der eine kleine Schriftskulptur mit dem versalen Wort „ZWEIFEL“ platziert ist. Direkt vor den „Jahrbüchern für Kulturpolitik“ – was „ästhetisch gewollt, indes nicht inhaltlich begründet“ sei. Und ja doch, er zweifle bisweilen, ob Preise an ohnehin Prominente nicht besser an Menschen vergeben werden sollten, die (noch) keinen Auslober mit ihrem Namen schmücken, aber dank ihrer Begabung eine Ermutigung für die Zukunft bedeuten würden. „Mir imponiert zum Beispiel die junge Berliner Staatssekretärin Sawsan Chebli.“
Er ist bekennender Katholik
Für Lammert wäre Chebli, die sich als in Berlin geborene Tochter palästinensischer Flüchtlinge gegen Antisemitismus und Antiisraelismus einsetzt, gerade jetzt eine Kandidatin für den Leo-Baeck-Preis gewesen. Den übrigens auch schon mal Helmut Kohl, Iris Berben, Joschka Fischer, Angela Merkel und Christian Wulff erhielten. „Aber“, fügt er mit seinem typisch schmalen, diesmal jedoch nicht ironischen Lammert-Lächeln hinzu, „mir gefällt, dass den Preis des Zentralrats der Juden in Deutschland ein bekennender Katholik erhält und ein bekennender Muslim der Laudator ist!“
Navid Kermani würdigt Lammert im Atrium des Jüdischen Museums dann als Präsident, der gegenüber der Macht der politischen Mehrheit immer den Schutz der Minderheiten verteidigt und so das Parlament selbst zum „Herz der Demokratie“ erklärt habe. In Anwesenheit von Lammerts Nachfolger Wolfgang Schäuble, von Repräsentanten der Synagogen, Kirchen und Moscheen, des israelischen Botschafters und auch von Sawsan Chebli als Vertreterin des Berliner Senats, verweist Kermani vor allem auf Lammerts Vorbild: den langjährigen früheren Bundestagspräsidenten Eugen Gerstenmeier. Der hatte zuvor als Mitglied des Kreisauer Kreises bis 1945 zum kirchlich-politischen Widerstand gegen die NS-Diktatur gehört. Etwas kühn wirkt danach freilich Kermanis Versuch, eine Verbindungslinie zwischen dem 1948 geborenen Lammert und dem 1945 hingerichteten Widerständler Helmut James von Moltke zu ziehen.
Vom Witz schlägt er jederzeit die Volte zum richtig Wichtigen
Einen der in der Festrede gerühmten „Lammert-Pfeile“, die als rhetorische Waffen mal Freund, mal Feind treffen können, bekommt Kermani dann selbst zu spüren. Lammert flicht in seine, wie bei ihm üblich, weitgehend freie Dankesrede ein, er müsse „manche Übertreibungen des Lobs schon der Wahrheitsliebe wegen zurückweisen“. Kurze Wirkungspause. Und mit leichtem Schalkaugenblitzen fährt er fort: „Aber ich muss einräumen, dass ich das ein oder andere gleichwohl ganz gerne gehört habe.“
Vom Witz und der manchmal nicht völlig uneitel koketten Ironie schlägt Lammert jederzeit auch die Volte zum richtig Wichtigen. Er spricht über alten und neuen Antisemitismus – mit dem Hinweis, dass „mehr als 90 Prozent aller erfassten antisemitischen Straftaten von deutschen Rechtsextremen begangen“ würden. „Statistisch fallen dabei weder Muslime im Allgemeinen noch Flüchtlinge im Besonderen ins Gewicht.“ Dies werde in der aktuellen politischen Diskussion meist verdrängt. Gleichwohl verlangt Lammert: „Wer nach Deutschland kommt, wandert ins Grundgesetz ein. Mit allen Rechten und Pflichten. Und wer in Deutschland bleiben will, muss das Existenzrecht Israels anerkennen.“
In der Anzugtasche nimmt das Handy alles auf
Lammert hat übrigens selbst schon mal eine Lobrede auf seinen jetzigen Laudator gehalten. Das war im November 2012 im Berliner Ensemble, wo an Navid Kermani der Heinrich-von-Kleist-Preis verliehen wurde. Damals rühmte Lammert vor allem Kermanis „grandiose Bekenntnis- und Streitschrift Wer ist Wir? Deutschland und seine Muslime“, die er als Pflichtlektüre bezeichnete, bevor sich „noch jemand in Deutschland über Migration und Integration äußert“.
Als der Kölner Literaturwissenschaftler und Präsident der Kleist-Gesellschaft Günter Blamberger anschließend um den Redetext bat, antwortete Lammert, er habe ohne Manuskript, gestützt auf ein paar Notizen gesprochen. Daraufhin blankes Entsetzen, da kein Band mitgelaufen war, aber aus Tradition alle Kleist-Preisreden immer auch gedruckt erscheinen sollen. Worauf Lammert lächelnd offenbart, dass er sein Handy in der Anzugtasche zuvor auf Diktatfunktion gestellt habe. Und die Aufnahme war, wie die freie Rede, druckreif.
Kleist, das muss man hier einflechten, ist Lammerts erklärter Lieblingsdichter. Er bewundert dessen Sprachbilder und die oft weit ausschwingenden oder jäh sich auftürmenden Satzkaskaden. Und lange verwobene, durch elegante Wendungen zu hinreichend klaren Schlüssen findende Sätze gehören (in nüchternerer Weise) zu Lammerts eigener Rhetorik.
Ideologen und Lobbyisten geraten bei ihm an den Falschen
„Hinreichend“ ist dabei eine typische Vokabel, sogar im direkten Gespräch. Und statt der Floskel, etwas liege „in der Natur der Sache“, sagt er lieber „in der Natur der Versuchsanordnung“. Leben und Politik sind für den liberalen Katholiken Lammert, wenngleich auf humanistischer Wertgrundlage, auch etwas Experimentelles, Offenes. Nichts sei im Regelfall „alternativlos“. Gerade in der Politik gehe es um den Streit der „Meinungen und Interessen“, nicht um absolute Wahrheiten. Ideologen und Lobbyisten geraten bei ihm so an den richtig Falschen.
Er ist einer der besten Redner im Lande, und das weiß er auch. Schon deswegen, weil es viele andere wissen und ihn dabei umwerben. Obwohl Norbert Lammert nach fast vier Jahrzehnten als Bundestagsabgeordneter der nordrheinwestfälischen CDU und zwölf Jahren als Präsident des Parlaments sich im Herbst aus freien Stücken aus der offiziellen Politik zurückgezogen hat, werden seine beiden Berliner Büros fast geflutet von Anfragen. Das meiste erreicht noch das Vorzimmer seines Raums im Jakob-Kaiser-Haus, der ihm als Ex-Präsident mit gleicher Dauer wie seine vorige Amtszeit zusteht. Zudem gibt’s am Tiergarten noch sein neues, bislang nicht richtig bezogenes Büro in der Konrad-Adenauer-Stiftung, deren Vorsitz er seit Jahresbeginn übernommen hat.
Als Redner schaut er sehr genau hin – aber nicht aufs Geld
Es geht um Eröffnungs- und Abschiedsreden, Grußworte, Danksagungen, Laudationes, Leitsprüche. Hauptsache O-Ton Lammert. Manchmal sind es mehrere Dutzend Angebote pro Tag, um die hundert in der Woche: von Kleinvereinen oder Konzernen, von Verbänden, Unis, Schulen, Kulturinstitutionen, Agenturen, Archiven. Bisweilen werden dem bis vor Kurzem noch protokollarisch zweiten Mann im Staat auch Honorare angeboten. Freilich eher im Tausend-Euro-Bereich, also nichts von den astronomischen Summen für amerikanische Expräsidenten oder deutsche Altkanzler. Bei derlei Vergleichen muss Gelsomina Beatrice lachen, und dann fügt die mit ihren Gastarbeitereltern als Kind aus dem süditalienischen Salerno eingewanderte Büroleiterin im Jakob-Kaiser-Haus hinzu: „Herr Lammert schaut immer sehr genau hin, aber nicht aufs Geld. Er sagt nur etwas zu, wenn ihn das Thema interessiert und er eine Sache für unterstützenswert hält.“
Frau Beatrice wacht auch über eine Regalwand, in der mehr als 150 Aktenordner aufgereiht sind mit Materialien zu Lammerts – nach dessen Schätzung „mindestens 1500“ – Reden in und außerhalb des Parlaments. Er hat Gelsomina Beatrice vor Jahren als Mitarbeiterin im Referat „Internationale Parlamentarische Versammlungen“ entdeckt. Natürlich ging es nur um ihre fachlichen Fähigkeiten. Doch bezeichnet es Lammert als „besonders schönen Zufall, dass man beim Namen Beatrice sofort an Dante und die ,Divina Commedia’ denken darf“.
Seine Frau liebt er seit Schulzeiten
So viel menschliche Komödie gefällt dem belesenen Mann, der auch Klavier und ein bisschen Orgel spielt und außer Loriot als bisher einziger Laie schon mal ein Stück bei den Berliner Philharmonikern dirigiert hat.
Er ist als musischer Politiker heute eine Rarität. Ein Bildungsbürger, dem das als ältestes von sieben Kindern eines Bochumer Bäckermeisters nicht an der Wiege bestimmt war. In Bochum ist er aufgewachsen, hat dort Sozialwissenschaften studiert und seine Karriere als CDU-Abgeordneter im Stadtrat begonnen. Dort ist er mit einer inzwischen pensionierten Lehrerin für Deutsch und katholische Religion verheiratet, eine Liebe seit Schulzeiten. Die Lammerts haben vier Kinder, zwei sind aus Brasilien und Indien adoptiert, und eine zweijährige Enkeltochter. Zumindest an den Wochenenden versucht er im siebzigsten Lebensjahr, schlank und rege durch Geist, Disziplin und Jogging, nun auch etwas mehr ein physisch anwesender Familienmensch zu sein.
Selten jedoch hat er das Glück, am Beginn einer Arbeitswoche eine Aufgabe just in Bochum zu haben. Wie vergangenen Montag, als das neue, Staatsanwaltschaft und alle Gerichte vereinende „Justizzentrum Bochum“ fünf Gehminuten vom Hauptbahnhof eröffnet wurde. Mit dem Festredner Norbert Lammert. Die Bochumer und auch der aus Düsseldorf angereiste NRW-Justizminister sind jetzt stolz auf den elegant-monumentalen Neubau der Berliner Architekten Hascher und Jehle, die in etwas kleinerem Maßstab an der Spree auch das ARD-Hauptstadtstudio entworfen haben. Neben dem Justizzentrum steht freilich noch Norbert Lammerts einstiges Bochumer Gymnasium. Das wurde mit einer anderen Schule an einem anderen Ort fusioniert und der von 1890 stammende trutzig ehrwürdige Sand-Backsteinbau innen entkernt und vom neuen Justizzentrum geschluckt.
Alle feiern Grönemeyer. Er lobt Heinrich von Kleist
Nachdem seine Vorredner mehrmals den zweiten berühmten Bochumer namens Herbert Grönemeyer zitieren (der aufs selbe altsprachliche Gymnasium ging), bedauert Lammert den Verlust jenes Orts, „an dem als Schüler meine Liebe zu Literatur und Politik geweckt wurde“. Ein Lammert-Pfeil. Später, auf der zugigen Straße, erzählt er mit spürbarer Melancholie vorm früheren Schulportal, dort drinnen habe er „erstmals Perikles und Kleist gelesen“. Im Justizzentrum hatte er auch über Kleists Auseinandersetzungen mit dem Recht gesprochen, vom Dorfrichter Adam im „Zerbrochnen Krug“ (inklusive sexuellem Missbrauch) bis hin zur Selbstjustiz des Michael Kohlhaas. Die Gerechtigkeit sei ein irdisches Ziel. Aber wie in der Politik bleibe so vieles unvollkommen.
Bochum, die Familie, das eigene Neubauhaus mit Bibliothek und Klavier, sind Lammerts Anker. Darauf legt er Wert. Trotz aller Pendelei nach Berlin, wo er in einem der sanierten DDR-Plattenbauten an der Leipziger Straße eine kleine Eigentumswohnung besitzt. Kaum weniger als früher wird er nun in Berlin oder fern in der Welt sein, seit er Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung ist, die als globaler politischer, wissenschaftlicher, kultureller Thinktank in mehr als 120 Ländern operiert. Von dem zuvor vielfach berichteten oder vermuteten Rückzug ins Private: keine Rede.
Die Koalition trägt ihr Ende in der Geburtsurkunde
Den Verzicht auf den Bundestag hat er allerdings gewollt. Genau wie den Verzicht auf die ihm von der Kanzlerin angebotene und von einer Mehrheit über Parteigrenzen hinweg gewünschte und erwartete Kandidatur für das Amt des Bundespräsidenten. Warum, wenn nicht wegen der Familie? „Weil ich schon das schönste Amt innegehabt habe, das es für meine Fähigkeiten gab.“ Als Abgeordneter und Parlamentspräsident habe er sich immer noch als Teil der „operativen Politik“ gefühlt und „nicht nur der repräsentativen“. Dass der Bundespräsident jetzt bei der verzögerten Regierungsbildung einen gesteigerten Einfluss habe, sei ja bloß „eine historische Ausnahme“.
Zur möglichen Dauer einer weiteren Kanzlerschaft Angela Merkels möchte er öffentlich nichts sagen. Er schätzt die Duz-Kollegin, sagt, sie sei „anders als Helmut Kohl“ bei punktueller Kritik auch nicht nachtragend. Er hat auch die neue Groko erwartet. „Allerdings ist das die kleinste große Koalition, die es bisher gab, und die erste, die ihr Ende wohl schon in ihrer Geburtsurkunde trägt.“
Lesen werde er auch künftig vor allem im Urlaub. Nicht auf, sondern hinter seinem Schreibtisch liegt gerade „Olga“, der neue Roman von Bernhard Schlink. Nicht weit davon unter einem Glassturz eine Originalfahne vom Dach des Reichstags, das Geschenk der CDU-Fraktion zu seinem Abschied. Das Parlament als „Herz der Demokratie“ – er durfte der Herzschrittmacher sein. Memoiren werde er dennoch keine schreiben. Er habe, was öffentlich zu sagen sei, in seinen – ohne Ghostwriter– formulierten Reden schon gesagt. Alles andere sei privat. Wie sein Klavierspiel, in Bochum oder im Ferienhaus am Bodensee. Zuletzt habe er sich erneut an Bachs „Goldberg-Variationen“ versucht. „Aber mit all den virtuosen Einspielungen im Kopf, kann man da immer wieder nur scheitern.“ So freilich wird noch ein Scheitern zum eigenen Glück.