Deutsche Geschichte: Wie Migranten das Holocaust-Gedenken verändern
Soll der Besuch einer KZ-Gedenkstätte Pflicht sein - für Deutsche und für Migranten? Daran knüpft sich eine andere Frage an: Wie deutsch bleibt Auschwitz überhaupt?
Aus Auschwitz wurde schon viel abgeleitet. Hier eine unvollständige Liste: der Pazifismus (Nie wieder Krieg!) und der Interventionswille (Joschka Fischer zum Kosovokrieg), das Europabekenntnis, die Ablehnung der Wiedervereinigung, das Asylrecht, der Datenschutz, die Sicherheit Israels (für Angela Merkel eine Staatsräson), der Schutz von Minderheiten, die Solidarität mit den Palästinensern, die Verachtung von Sekundärtugenden (Oskar Lafontaines Breitseite gegen Helmut Schmidt), der Widerstand gegen die Volkszählung. „Man bemächtigt sich des Vergangenen aus den Bedürfnissen des Gegenwärtigen“, hat der israelische Historiker Moshe Zuckermann gesagt, erinnerte Vergangenheit habe stets instrumentalisierenden Charakter.
Die Berliner Staatssekretärin Sawsan Chebli, eine Tochter palästinensischer Flüchtlinge, hat vor kurzem vorgeschlagen, den Besuch einer KZ-Gedenkstätte zur Pflicht zu machen – für Deutsche und für Migranten. „Ich fände es sinnvoll, wenn jeder, der in diesem Land lebt, verpflichtet würde, mindestens einmal in seinem Leben eine KZ-Gedenkstätte besucht zu haben. Das gilt auch für jene, die neu zu uns gekommen sind“, sagte sie. Bereits im Dezember hatte Chebli Muslime aufgefordert, sich gegen Antisemitismus zu engagieren. Deutsche Muslime seien Teil der deutschen Gesellschaft, die noch lange nicht damit fertig sei, die Verbrechen der NS-Zeit aufzuarbeiten, schrieb sie im Tagesspiegel. Als Deutsche hätten Muslime eine Verantwortung, gegen Schlussstrich-Debatten und das Vergessen einzustehen.
Cheblis Forderung stieß rasch auf Widerspruch. Formen von „Zwangspädagogik“ wirkten häufig kontraproduktiv, hieß es, sie könnten historisches Lernen eher verhindern als befördern. Es sei besser, wenn Jugendliche das Thema für sich selbst entdeckten. Auch Gedenkstättenpädagogen warnten. Es gäbe kaum ausreichend geschultes Personal, um angemessen mit Gruppen umzugehen, die nicht aus eigener Motivation zu einem solchen authentischen Ort kämen. Der Zentralrat der Juden in Deutschland hatte indes schon im November gefordert, dass Schüler der höheren Klassen eine KZ-Gedenkstätte besuchen müssten. In Bayern ist das bereits der Fall.
"Warum geschah der Holocaust in Deutschland?"
Wofür steht Auschwitz? Die Antwort darauf ist leicht und schwer zugleich. Auschwitz steht für ein von Deutschen an Juden und anderen Minderheiten begangenes, singuläres Verbrechen, für industriellen Massenmord, Euthanasie, Rassenhass und Homophobie. Dadurch ist Auschwitz untrennbar mit der deutschen Geschichte verbunden. „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“, heißt es, oft zitiert, in Paul Celans Todesfuge. „Es gibt keine deutsche Identität ohne Auschwitz“, hat der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck in seiner Gedenkrede zum Holocaust-Erinnerungstag am 27. Januar 2015 im Bundestag gesagt. Der ehemalige Verteidigungsminister Peter Struck drückte es 2009 im Bundestag so aus: „Mit der systematischen Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden während der Nazizeit haben die Deutschen unendliche Schuld auf sich geladen – eine Schuld, die niemals vergeht.“
Zehn Jahre zuvor hatte Joschka Fischer in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ beteuert: „Alle Demokratien haben eine Basis, einen Boden. Für Frankreich ist das 1789. Für die USA die Unabhängigkeitserklärung. Für Spanien der Spanische Bürgerkrieg. Nun, für Deutschland ist das Auschwitz. Das kann nur Auschwitz sein. Die Erinnerung an Auschwitz, das Nie-mehr-Auschwitz, kann in meinen Augen das einzige Fundament der neuen Berliner Republik sein.“ Und der Politikwissenschaftler Peter Reichel schreibt, die Deutschen müssten sich diese eine Frage in jeder Generation, in jedem Jahrzehnt aufs Neue stellen: „Warum konnte das Gewaltverbrechen, warum konnte der Holocaust gerade in Deutschland geschehen?“
Auschwitz ist deutsch und Deutschsein ohne Auschwitz nicht denkbar: Dieser Nexus hat sich tief ins kollektive Bewusstsein gegraben, auf der Rechten wie auf der Linken. Alexander Gauland von der AfD meint bedauernd, Hitler habe mehr zerstört als Städte und Menschen, „er hat den Deutschen das Rückgrat gebrochen“. Bernd Ulrich von der „Zeit“ dagegen wendet die geläuterte deutsche Post-Auschwitz-Haltung ins Positive. Das Land sei ökologischer, weiblicher, offener, föderaler, weniger militärisch geworden. Gerade wegen der richtigen Konsequenzen aus dem Holocaust und dem so genannten Dritten Reich sei es heute so erfolgreich und lebenswert. Die Deutschen könnten stolz darauf sein, nicht stolz zu sein. „Aus der Niederlage wurde eine Befreiung, die Befreiung erwies sich als Segen.“
Es gibt auch deutsche Nachfahren der Opfer
Wenn nun aber sämtliche Deutungen des Holocausts unlösbar mit der Konstruktion eines deutschen Wesens, einer deutschen Identität, verknüpft sind: Welche Rolle spielen in dieser Erinnerungskultur dann die Migranten? „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“: Meint das auch sie? Meint das die so genannten Gastarbeiter aus Italien, Griechenland, Portugal und der Türkei? Meint das die Aussiedler, darunter rund zwei Millionen Polen? Meint das die Vertragsarbeiter in der ehemaligen DDR aus Vietnam, Kuba, Algerien, Angola oder Mosambik? Meint das die Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien oder dem Irak? Kritische Fragen an die Adresse ihrer Großväter und Urgroßväter können sie kaum stellen. Womöglich haben Vorfahren von einigen von ihnen gegen Hitler-Deutschland gekämpft.
Haben Migranten ein anderes Verhältnis als Einheimische zu den Verbrechen während der Zeit des Nationalsozialismus? Über diese Frage wird seit fast zwanzig Jahren diskutiert. Dabei hätte eine differenzierte Betrachtung der mentalen und emotionalen Prozesse, die beim Besuch von KZ-Gedenkstätten ausgelöst werden, noch viel früher beginnen müssen. Auch deutsche Nachfahren der Opfer – Juden, Sinti und Roma, Homosexuelle, Zeugen Jehovas, Widerstandskämpfer – werden am authentischen Ort nicht in jene Verantwortungsgemeinschaft eintreten, die, metaphorisch gesprochen, aus der Schuld der Großeltern erwächst. Kann aus Auschwitz wirklich eine deutsche Identität abgeleitet werden, die gleichermaßen für Nachfahren der Täter wie der Opfer gilt?
Der Schriftsteller und Orientalist Navid Kermani, 1967 als Sohn iranischer Eltern in Siegen geboren, hielt im Sommer vergangenen Jahres eine Rede zum zwanzigjährigen Bestehen des Lehrstuhls für jüdische Geschichte an der LMU München. Er schildert, wie ein Besuch in Auschwitz auf ihn gewirkt hat. „Wenn es einen einzigen Moment gibt, an dem ich ohne Wenn und Aber zum Deutschen wurde, dann war es nicht meine Geburt in Deutschland, es war nicht meine Einbürgerung, es war nicht das erste Mal, als ich wählen gegangen bin. Schon gar nicht war es ein Sommermärchen. Es war letzten Sommer, als ich den Aufkleber an die Brust heftete, vor mir die Baracken, hinter mir das Besucherzentrum: deutsch.“
Migranten sind kein "erinnerungspolitischer Störfall"
Doch auch Kermani weiß, dass durch den Faktor Zeit und durch die demographische Entwicklung sich die verbindende Unmittelbarkeit der Auschwitz-Erfahrung ändert. Immer mehr Menschen leben in Deutschland, die keinen familiengeschichtlichen Bezug zum Nationalsozialismus haben. „Sie tragen keine Namen, wie sie sie die Täter getragen haben, sie gehören schon physiognomisch nicht der Volksgemeinschaft an, die Hitler zusammengeschweißt hat, sie stoßen bei der Entrümpelung nicht auf alte Abzeichen oder Feldpostbriefe.“ Falsch aber sei es, diese Gruppen, denen der biographische Bezug zur deutschen Vergangenheit fehlt, „als erinnerungspolitischen Störfall zu behandeln“. Denn diese Bezüge lösten sich ohnehin allmählich auf, spätestens für die Urenkel werde Schuld zu einem abstrakten Begriff.
Was verbinden Migranten mit Auschwitz? Schon die Frage provoziert abwehrende Kritik. Sie impliziere die prinzipielle Unfähigkeit von Migranten, sich über diesen Teil der deutschen Geschichte als Deutsche zu definieren, heißt es. Auf diese Gefahr hat im Jahr 2015 Rosa Fava in ihrer Dissertation über die „Neuausrichtung der Erziehung nach Auschwitz in der Einwanderungsgesellschaft – eine rassismuskritische Diskursanalyse“ hingewiesen. Die Betonung der „Andersartigkeit“ migrantischer Holocaust-Erfahrung diene einer völkisch orientierten Homogenisierung der „Deutschen“, die sich in der Deutung „ihrer“ Nationalgeschichte abschotteten.
Ähnlich reagierte die Sozialwissenschaftlerin und stellvertretende Direktorin des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BMI), Naika Foroutan, als sie nach der Kermani-Rede von der Redaktion des „Freitag“ gebeten wurde, sich an der Debatte über die Frage, wie man als migrantische Autorin mit der deutschen Schuld umgehe, zu beteiligen. Foroutan sagte ab. Unterstellt werde, dass sie als Muslimin, oder als Migrantin, „keine Deutsche und somit auch nicht verwoben mit dieser Geschichte sein kann“, schreibt sie. In der Anfrage schwinge mit: „Der Holocaust ist nicht ihre Geschichte. Subtext: Er ist unsere. Als Deutsche empfinden wir das anders als ihr.“ Statt dessen wirbt Foroutan dafür, den Holocaust nicht länger als rein deutsche Geschichte zu begreifen.
Im Jahre 2010 gab die „Zeit“ beim Forschungsinstitut Emnid eine Umfrage in Auftrag, wie die Deutschtürken über den Holocaust denken. Etwa die Hälfte von ihnen stimmte der Aussage zu, die intensive Beschäftigung mit der Judenverfolgung sei „eine Sache aller in Deutschland lebenden Bürger“. Drei Viertel gaben allerdings an, selbst noch nie eine KZ-Gedenkstätte, ein jüdisches Museum oder das Holocaust-Mahnmal in Berlin besucht zu haben. Sechzig Prozent halten den Umgang der Deutschen mit ihrer Geschichte für „eher abschreckend“, 53 Prozent stimmten der Forderung zu, „die Deutschen sollten sich heute weniger mit der Judenverfolgung, dafür mehr mit der Politik Israels gegenüber den Palästinensern beschäftigen“.
Sechs Millionen Juden! So viele?
Ein Jahr nach dieser Umfrage besuchten die Mitglieder der Muslimischen Jugend Deutschland zum ersten Mal die Gedenkstätte Auschwitz Birkenau. Wie konnte so etwas passieren? Warum hat niemand das Grauen verhindert? Solche Fragen stellten auch sie, einige mit Tränen in den Augen. Viele aber erinnerte das Schicksal der Juden an ihre eigene Lage als religiöse Minderheit in Deutschland, an Moscheebrände und Diskriminierung.
Es gibt auch andere, erschreckende Reaktionen. Im November 2015 begleitete die „Berliner Zeitung“ eine Stadtrundfahrt durch Berlin mit Asylbewerbern, die meisten davon Syrer. Der Ausflug endete am Holocaust-Mahnmal. Eine ehrenamtliche Flüchtlingshelferin erklärte den Flüchtlingen, wofür die Stelen sind, was sie symbolisieren. Dann geht die Reprotage so weiter: „Alle hören fasziniert zu, vor allem die jungen Araber. Sechs Millionen Juden! So viele? Wirklich? Wie haben die Deutschen das gemacht, fragt einer. Es klingt fast bewundernd.“
Die Zeit schreitet voran, die letzten Zeitzeugen sterben. Im Verbund mit den demographischen Entwicklungen verändern sich dadurch die Deutungen von Auschwitz. Die Lehren aus den Verbrechen werden universeller wahrgenommen, in gewisser Weise entdeutscht sich das Gedenken. Im November 2005 haben die Vereinten Nationen den 27. Januar zum Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust erklärt. Auch das macht die Erinnerung zu einem Teil des Menschheitsgedächtnisses. Auschwitz bleibt ein Teil der deutschen Identität. Aber zu dieser Identität gehören eben auch jene Lehren, die Migranten aus der Geschichte ziehen.
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