Bayernwahl: Der Mythos CSU zerbröselt
Die Bayern und die CSU eins? Das war einmal. Nach dem Wahldesaster wird es viele Opfer geben. Selbst die Kanzlerin muss nun zittern. Eine Reportage.
- Robert Birnbaum
- Antje Sirleschtov
Als Markus Söder um kurz nach sechs Uhr abends in München ans Mikrofon tritt, stehen die drei Worte, mit denen er das Debakel kommentieren will, längst auf seinem Zettel. „Schmerzhaft“ sei das Ergebnis, das seine Partei an diesem Tag eingefahren hat. Mit „Demut“ werde man es annehmen, sorgsam analysieren, auch Lehren daraus ziehen. Aber nun gehe es erst einmal darum, für „Stabilität“ zu sorgen. Denn Bayern müsse regiert werden und eines sei unumstritten: „Die CSU hat den klaren Regierungsauftrag erhalten.“
Bei Lichte besehen ist das natürlich nur ein Taschenspielertrick auf höchstem politischen Niveau. Die CSU steht mit rund 37 Prozent da. Sie hat fast zehn Prozentpunkte ihrer Wähler verloren und muss künftig mit einem Koalitionspartner regieren. Der Mythos, dass Bayern und CSU eins seien, ist erst mal dahin. Als die erste Prognose auf dem Fernsehschirm erscheint, bleibt es im rappelvollen CSU-Fraktionssaal ziemlich still; erst als der AfD-Balken kleiner bleibt als befürchtet, trauen sich hier und da einige zu klatschen.
Markus Söder und Horst Seehofer gleichermaßen verantwortlich?
Söder hat sich in der Zwischenzeit eine tröstliche Relativitätstheorie zurechtgelegt. Erstens sei das Ergebnis immer noch besser als in den schlimmsten Prognosen, zweitens: „Wenn Sie die Zahlen woanders anschauen, ist das für uns ein ganz beachtliches Ergebnis, jedenfalls im internationalen Verbund.“ Und drittens: „Sich vom Bundestrend abzukoppeln ist nicht ganz leicht.“
Der Bundestrend macht sich erst einmal unsichtbar. Söder ist schon auf dem Weg von einem Fernsehstudio zum nächsten, da erscheint Horst Seehofer mit einer Traube Fotografen im Schlepptau auf der anderen Seite des großen Landtagsfoyers. Der CSU-Vorsitzende hat sich Zeit gelassen mit dem Erscheinen. Man könnte fast auf die Idee kommen, er habe aus der sicheren Parteizentrale heraus abgewartet, was da drüben im Landtag passiert und was Söder sagen wird. Jetzt stehen sie sich gegenüber. Ein Händedruck, die Kameras klicken.
Söder will gleich weiter, Seehofer hält ihn aber am Ärmel fest und flüstert ihm irgendetwas ins Ohr. Die Kameras klicken wieder. Dann darf Söder weitereilen nach links zum Bayerischen Rundfunk. Seehofer schreitet nach rechts zum ZDF, um seine Sicht der Dinge zu verkünden. Solch ein Ergebnis, doziert Seehofer, habe immer viele Ursachen. „Es hat Ursachen in Berlin, es gibt Ursachen in Bayern“, ja, es gebe sicher Ursachen auch bei ihm. Aber das Wichtigste sei doch, dass der Vorsitzende und der Ministerpräsident diesen ganzen Wahlkampf und auch die „längere gemeinsame Debatte“ über die Flüchtlingspolitik in Berlin gemeinsam geplant und geführt hätten.
„Es ist eine gemeinsame Verantwortung“, sagt Seehofer. Vor genau einer Woche hat er noch darauf bestanden, dass er sich in den Wahlkampf überhaupt nie eingemischt habe. Jetzt auf einmal hat die Niederlage viele Väter.
Noch hat niemand in der CSU Interesse an einer Personaldebatte
Ob er damit durchkommt, ist an diesem Abend eine offene Frage. Einerseits liegt keine Revolutionsstimmung in der Luft. Die CSU-Oberen, die im Landtag umherstreifen, verbreiten den Eindruck, dass sie ein seit langem erwartetes Ereignis jetzt bloß schulterzuckend quittieren: Eingetreten wie erwartet, und noch nicht mal ganz so schlimm wie in den schlechtesten Umfragen. Selbst Erwin Huber, der mit seinem Nachfolger Seehofer eine fette Rechnung offen hat, begnügt sich mit dem sybillinischen Satz: „Ein Weiter so kann es nicht geben.“
Andererseits – noch ist das Debakel nur eine Zahl. Wer die anderthalb Dutzend CSU-Abgeordneten sind, deren Karriere abrupt endet, wird wegen des komplizierten Wahlsystems erst spät am Abend feststehen. Ob in den Bezirken und an der Basis die Nonchalance gut ankommt, mit der die Oberen die Niederlage beiseite schieben, lässt sich schwer sagen.
Aber jetzt im Moment, sagt ein CSU-Insider, habe eben niemand ein Interesse an einer Personaldebatte. Söder nicht, weil er auf Seehofers Parteichefposten nicht sonderlich scharf ist. Das Berliner Spielfeld ist ihm fremd, auf dem er dann ja in den berüchtigten nächtlichen Koalitionsrunden die CSU vertreten müsste. Andere eventuelle Kandidaten drängen auch nicht; Manfred Weber zum Beispiel müsste die Frage beantworten, ob es sich nicht prinzipiell gegenseitig ausschließt, EU-Kommissionschef und CSU-Chef zugleich werden zu wollen.
Seehofers Kapriolen hat die Partei nicht vergessen
Vergessen wollen sie Seehofers Kapriolen in München so schnell allerdings nicht. Von wegen alles gemeinsam gemacht! „Der Rücktritt vom Rücktritt war nicht unsere Idee, und die 69 Abschiebungen zum 69. Geburtstag auch nicht“, ärgert sich ein Münchner Christsozialer. Aufgeschoben sei die Personalfrage, nicht gelöst.
Aber Zeit zu gewinnen ist für Horst Seehofer bisher immer eine gute Sache gewesen. Dass die Wahl nicht ganz so schrecklich ausging wie manche Umfragen, arbeitet für ihn. Dass nicht die gefürchteten Grünen, sondern die Freien Wähler der designierte Koalitionspartner sind, mag zur Beruhigung beitragen. Die Freien gelten als eine Art verlorene Kinder der großen Mutter CSU. Da drohen keine kulturellen Verwerfungen.
Selbst für die Koalition in Berlin liegt in dem absehbaren Münchner Bündnis ja ein kleiner Trost. Freie-Wähler-Chef Hubert Aiwanger pflegt zwar gelegentlich bundesweite Ambitionen, aber seine Truppe ist am Ende eine Regionalpartei mit sehr begrenztem bundespolitischen Anspruch. Für den CSU-Chef wird es künftig nicht mehr so einfach in Berliner Koalitionsrunden, weil er nicht mehr garantieren kann, dass seine Landeskoalition die CSU-Linie voll mitträgt. Gemessen an der Alternative, dass stattdessen die Grünen demnächst im Kanzleramt insgeheim mit am Verhandlungstisch säßen, erscheinen die Freien als überschaubares Übel.
So viel zum Tröstlichen. Ansonsten ist es natürlich eine böse Klatsche. „Nicht so schlimm wie die Nationalmannschaft“, versucht ein langjähriger Abgeordneter zu flachsen, muss allerdings einräumen, dass seine CSU mindestens auch drei Tore kassiert habe und, schlimmer, alles Eigentore waren. Da konnten sie Geld im Land verteilen wie Heu. Da konnte Söder ununterbrochen unterwegs sein – wer ihm auf Twitter oder Facebook folgte, den befiel bald der Verdacht, der kraftstrotzende Franke existiere mehrfach. Da konnten sie ihn im ganzen Land auf Plakate drucken und in Flaschen füllen, als „Söder-Water – anregend, belebend, erfrischend, spritzig, jung“, kurz: „Das Beste für Bayern“. Da konnte er sich sogar auf die Zunge beißen und nicht mehr vom „Asyltourismus“ reden.
Bei jeder Landtagswahl geht es immer auch um Berlin
Alles half nicht. Denn die Einsicht kam viel zu spät. Längst hatte sich bei den Bürgern der Eindruck festgesetzt, dass die in Berlin nur noch zum hässlichen Kleinkrieg gegeneinander in der Lage sind und die CSU-Oberen immer mittendrin. Zeitweise befeuert vom Spitzenkandidaten, jedes Mal aber sehr prominent vertreten durch den Parteivorsitzenden und Bundesinnenminister. „Es geht am Sonntag nicht um Berlin!“, beschwor Söder seine Wähler bis zuletzt.
Doch bei jeder Landtagswahl geht es immer auch um Berlin, und bei dieser erst recht. Die CSU hat ihre Alleinherrschaft stets ausdrücklich damit gerechtfertigt, dass sie nur so, frei von Koalitionsbanden, die Interessen Bayerns in der Bundespolitik konsequent vertreten könne. Was Wunder, dass die Bürger sie beim Wort nahmen und aus mieser Berliner Performance ebenfalls ihre Schlüsse zogen.
Die Folgen dürften übrigens wiederum in Berlin schneller und stärker zu spüren sein als in Bayern selbst. Angeschossene Löwen werden nicht berechenbarer. Und wenig spricht dafür, dass sie ihre Kampfmethoden ändern. Für die CSU-Oberen in der Hauptstadt ist das Auftrumpfende, oft aggressiv Besserwisserische, längst zweite Natur geworden. Dass auch dieser Tonfall ihnen die Wähler auf der liberalen Seite vertrieb, während ihre neuen Konkurrenten auf der Rechten sie in der Disziplin locker übertrumpfen – derlei selbstkritische Einsicht ist selten zu hören.
Die SPD hat die Wahlparty in Berlin vorsichtshalber abgesagt
Dass die CSU jetzt auf dem Weg zur normalen Volkspartei ist, die nicht mehr alle Strömungen einfach aufsaugt, sondern sie aktiv binden muss, was dann jedes Mal am anderen Ende des Spektrums Anhänger kostet – auch das will kaum einer hören.
Trübe Aussichten also für Angela Merkels große Koalition. Zur waidwunden CSU kommt die gedemütigte SPD, glatt halbiert wie sie ist. Zu beiden kommt eine unruhige CDU. Allein der Gedanke, dass die CSU als Stimmenbringer bei Bundestagswahlen ausfallen könnte, macht dort jetzt schon manchen kribbelig. Ob sie alle wenigstens bis zur Hessen-Wahl in zwei Wochen ruhig halten? Noch können die Sozialdemokraten dort auf ein kleines Wunder hoffen, und die Christdemokraten darauf, knapp davonzukommen. Hessen war immer ein Wechsel-Land, mal lagen die Roten vorne, mal die Schwarzen.
Im Willy-Brandt-Haus haben sie sicherheitshalber für den Sonntag die Wahlparty abgesagt; zu teuer, heißt die offizielle Begründung. Und dann steht Andrea Nahles doch da und drückt vor den Kameraleuten ein paar niedergeschlagene Sätze heraus. Eine „sorgfältige“ Analyse werde es geben, verspricht die SPD-Vorsitzende, überall, in Bayern und auch auf Bundesebene. Aber die „schlechte Performance“ der großen Koalition sei sicher ein wesentlicher Punkt.
„Fest steht, es muss sich etwas ändern“, sagt Nahles. Ob sie noch etwas ändern kann? Zu den Symptomen und Verstärkern der sozialdemokratischen Schwindsucht gehört ja seit Langem die Gewohnheit, auf Niederlagen mit Grundsatzdebatten zu antworten und auf Grundsatzfragen mit dem Sturz des Spitzenpersonals. Scheitern die Sozialdemokraten in Hessen wieder, will schon heute nicht mehr jeder für den Fortbestand der Bundeskoalition garantieren.
Aber auch bei der CDU herrscht nervöser Alarm. Angela Merkel hat für die Pressekonferenz nach den Sitzungen der CDU-Spitzengremien am Montag den hessischen Ministerpräsidenten Volker Bouffier dienstverpflichtet, als sichtbare Mahnung zur Disziplin. Was passiert, wenn Bouffier in Wiesbaden nicht weiterregieren könnte, wagen selbst sonst sehr prognosefreudige Christdemokraten nicht vorherzusagen. Kann sich der alte Recke halten, vermuten viele, dann könnte Merkel beim CDU-Parteitag im Dezember mit ein paar Schrammen davonkommen. Bouffier hat mit der eher konservativen Hessen-CDU eine schwarz-grüne Koalition krisenfrei geführt.
Bei einer Niederlage in Hessen wird es auch für Merkel eng
Doch was heißt das schon in diesen Zeiten für den eigenen Erfolg: gut Regieren? Bouffier jedenfalls will sich nicht darauf verlassen, dass seine Hessen trennscharf erkennen, was ihn von den Christsozialen unterscheidet. Noch am Wahltag im Nachbarland, ungewöhnlich genug, setzt er sich in der „Welt am Sonntag“ von der CSU und ihrem Führungspersonal ab. „Nicht hilfreich“ seien deren Auftritte in den vergangenen Wochen für die Union gewesen. Hessen darf nicht Bayern werden.
Für die Dritte im Bunde könnte daraus eine Schicksalsfrage werden. Bei einer Niederlage in Hessen droht Angela Merkel ein Standgericht. Am Sonntag steht die CDU-Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer in Berlin. AKK versucht den Schlag abzumildern. „Bitter“ sei das Ergebnis, aber irgendwie auch die eigene Schuld der Bayern. Das klingt ganz ähnlich wie Söders „Stabilität“. Die Niederlage mag viele oder wenige Väter haben – sie hat allemal viele Opfer.