Hertha und Fritz Ascher: Der Fußball und der Künstler
Gefördert von Max Liebermann, geschätzt wie Grosz, Dix und Heartfield – doch es bedurfte des 125. Hertha-Geburtstages, um dem Maler Fritz Ascher neue Aufmerksamkeit zu verschaffen.
Schwarze Tusche und Grafit auf Papier: „Fußball konnte er also auch malen.“ Verena Veldes Augen huschen über den Ausstellungskatalog, „Leben ist Glühn“, Abbildung 37 auf Seite 202. Eine Zeichnung mit sechs kräftigen Burschen in knielangen Hosen. Einer kommt von links mit kräftigem Spreizschritt herangestürmt, zu spät, der Ball befindet sich schon in den Händen des Torhüters, der drückt ihn zugleich zärtlich und energisch an sich. Konzentriertes Schweigen am anderen Ende des Tisches.
So sah Fußball vor 100 Jahren aus – gar nicht so viel anders als heute. „Gefällt mir“, sagt Verena Velde, und dass sie das nun überhaupt nicht für möglich gehalten hätte, „Onkel Ascher und Fußball, also nein, einen größeren Gegensatz kann ich mir kam vorstellen. Und diese Zeichnung ist jetzt in dieser Ausstellung zu sehen? Irgendwas zum Geburtstag von diesem BSC?“
Der BSC heißt mit Vornamen Hertha und begeht in diesen Tagen sein 125. Jubiläum. Das Berlin-Museum im Ephraim-Palais widmet Berlins berühmtestem Klub eine Geburtstagsausstellung, sie trägt den Namen „Hauptstadtfußball. 125 Jahre: Hertha BSC & Lokalrivalen“. Als Überraschungsgast tritt auf: Fritz Ascher.
Ascher hat sich nicht groß für Sport interessiert
Wer kennt heute noch Fritz Ascher? Einen Berliner Expressionisten, der in den Salons der Weimarer Republik so geschätzt war wie George Grosz, Otto Dix oder John Heartfield. Gefördert von Max Liebermann, verfemt von den Nazis. Die Zeit ist über ihn hinweggegangen, und es bedurfte schon des 125. Geburtstages eines Fußballvereins, um Fritz Ascher in seiner Heimatstadt wieder einem größeren Publikum vor Augen zu führen. Sein Werk, aber auch seine Leidensgeschichte.
Expressionist und Jude zu sein, das war keine gute Voraussetzung für ein schönes Leben in den tausend Jahren zwischen 1933 und 1945. Fritz Ascher hat den Holocaust auf einem Trümmergrundstück in der Villenkolonie Grunewald überlebt. Es gibt von ihm nur drei Fotos, sie lassen auf einen verschlossenen und sensiblen Menschen schließen. Oder ist das nur ein Eindruck, der sich vor dem Hintergrund seiner persönlichen Tragik aufdrängt?
Fritz Ascher hat sich nicht groß für Sport interessiert, und auf den ersten Blick wirken seine „Fußballspieler“ im Ephraim-Palais wie ein Fremdkörper zwischen vergilbten Plakaten, bunten Leibchen und polierten Pokalen. Die Kunsthistorikerin Rachel Stern hat die 1916 angefertigte Zeichnung bei einem Sammler in New York ausfindig gemacht und der Ausstellung angedient. Vor bald 30 Jahren ist sie beim Studium in Köln eher zufällig auf Aschers Werk gestoßen, hat ihn dann vergessen und erst lange Jahre nach ihrem Umzug nach New York für sich wiederentdeckt. Mit allen Konsequenzen.
„Es müssen um die 100 sein, nur das Klo ist frei“
Vor zwei Jahren hat Stern ihren Job beim Metropolitan Museum aufgegeben und die „Fritz Ascher Society“ gegründet. Sie hat jene „Leben ist Glühn“-Retrospektive, zu der der Ausstellungskatalog auf Verena Veldes Tisch gehört, auf die Beine gestellt. Und dabei auch Verena Velde kennengelernt.
Am Telefon sagt Velde, es herrsche gerade in wenig Unordnung bei ihr, „meine Wohnung ist eine kleine Villa Kunterbunt. Wenn Sie das nicht stört, können Sie gern vorbeikommen.“ Sie lebt am Heidelberger Platz, im Ortsteil Wilmersdorf, Altbau, vier große Zimmer, alle Wände sind mit Bilden behängt. „Es müssen um die 100 sein, nur das Klo ist frei.“ Ihr Vater war Maler, sie ist mit Bildern aufgewachsen, „ohne kann und will ich nicht sein“.
Velde ist 67 Jahre alt, eine fröhliche Frau mit rotbraunem Haar und rundlichem Profil, „schon als ich noch ein kleines Kind war, haben mich alle Mondgesicht genannt.“ Sie war drei Jahre alt, als sie Fritz Ascher zum ersten Mal traf. 1953 war das, ihre Familie hatte die Heimat in Dresden verlassen müssen und ein Quartier in Grunewald zugewiesen bekommen. Bismarckallee 26, eine herrschaftliche Villa mit altem Baumbestand. Als der Umzugswagen vor die Tür rollt mit der Staffelei des Vaters, dem Maler und Kunsthistoriker, da stöhnen die zum Empfang angetretenen Mitbewohner: „Um Himmels Willen, noch ein Künstler!“
Ascher meidet die Menschen
Velde zieht mit ihrer Familie unters Dach und bekommt erst mal nichts mit von jenem anderen Künstler. Von diesem geheimnisvollen Mann, der parallel neben der Hausgemeinschaft lebt, abgeschirmt von einer herzlichen, aber auch resoluten Dame, sie ist elf Jahre älter als Ascher. „Wir haben sie Tante Graßmann genannt und ihn Onkel Ascher“, wie Kinder das halt so machen. Später erfährt Velde, dass Ascher dieser Frau sein Leben verdankt. Martha Graßmann hat ihn während des Krieges versteckt und versorgt.
Ascher meidet die Menschen, schwer traumatisiert von dem, was ihm in den braunen Terrorjahren widerfahren ist. „Er kam mir vor wie ein Gespenst“, erzählt Velde, „verstehen Sie das bitte nicht falsch, ich meine das nicht negativ. Es war nur so, dass er nie wirklich da war, er schwebte irgendwie über den Dingen.“
Fritz Ascher ist in Berlin geboren und aufgewachsen. Einer, der schon Künstler werden will, bevor er es selbst weiß. Als Sechsjähriger soll er bei einem Spaziergang mit dem Vater um den Schlachtensee einen Maler beim Malen entdeckt und sogleich in ein Gespräch über dessen Bild verwickelt haben. Als der Vater sich für seinen Sohn entschuldigt, antwortet der Maler: „Lassen Sie den Jungen, er sieht goldrichtig.“
„Da zieht ein ganz Großer in die Welt!“
Mit 16 bekommt Ascher ein Stipendium bei Max Liebermann, der ihn weiter an die Künstlerakademie nach Königsberg empfiehlt. Ob der Junge denn Talent habe, will der Vater zum Abschied wissen. Liebermann antwortet: „Da zieht ein ganz Großer in die Welt!“
Ascher bleibt vier Jahre in Königsberg, später reist er nach Oslo zu Edvard Munch und trifft in Bayern die Künstler des Blauen Reiters. Anders als Franz Marc, dem herausragenden Mitglied dieser Gruppe, bleibt Ascher der Erste Weltkrieg erspart. Marc findet 1916 den Tod an der Westfront. Ungefähr zur selben Zeit wirft Ascher mit schwarzer Tusche und Grafit seine undatierten Fußballspieler auf Papier. „Dieses Bild fällt in eine sehr starke Schaffensphase des Künstlers“, sagt Rachel Stern, „in dieser Zeit hat er seine expressionistische Bildsprache entwickelt.“
Die Versuchung liegt nahe, Aschers Skizze für das erste künstlerische Dokument der jungen Sportart überhaupt zu halten. Stimmt aber nicht. Dieses Verdienst gebührt Emil Limmer, der schon um 1890 herum ein Fußballspiel auf einem Exerzierplatz in Berlins Rosenthaler Vorstadt angefertigt hat - ebenda traten die Spieler von Hertha BSC zum ersten Mal gegen den Ball. Limmers Darstellung einer Spielszene verfügt jedoch längst nicht über die Dynamik, die Aschers Skizze von 1916 ausstrahlt. Ungefähr zur selben Zeit vollendet Ascher seinen monumentalen Golem, eine der jüdischen Mystik entlehnte Figur. Das Bild hängt heute in Berlins Jüdischem Museum.
Er weiß um die Gefahr für sein Leben
Verena Velde zündet sich eine Zigarette an und erzählt. Wie sie einmal Aschers Atelier im Hochparterre besuchen darf, „dieser Anblick läuft bis heute wie ein Film vor meinem inneren Auge.“ In der Mitte eine Staffelei mit Farben, Pinsel, Wasserglas, rundherum die hohen Altbauwände, sie sind vom Boden bis zur Decke mit gerahmten Bildern dekoriert. Seltsame Bilder, findet die kleine Verena, „ganz andere als bei meinem Vater, der hat ja eher gegenständlich gemalt, mit Menschen auf Straßen und in Häusern und so.“ Onkel Ascher eröffnet ihr den Zugang zu einer anderen Welt der Kunst.
Ganz und gar nicht so aufgeschlossen stehen die Nazis dem Werk des Expressionisten Ascher gegenüber. Ab 1933 darf er nicht mehr offiziell künstlerisch arbeiten, ausstellen oder verkaufen. Er weiß um die Gefahr für sein Leben und versucht, den Häschern dadurch zu entgehen, dass er alle paar Monate umzieht. Von einer Pension zur nächsten. Vom Schlachtensee zum Kurfürstendamm nach Potsdam.
Nach der Pogromnacht im November 1938 wird Ascher im KZ Sachsenhausen interniert, im Dezember freigelassen und kurz darauf ins Potsdamer Polizeigefängnis gebracht. Im Mai 1939 erreicht ein befreundeter Pfarrer seine erneute Entlassung. Ascher muss sich einmal monatlich im Polizeipräsidium am Alexanderplatz melden. Im Juni 1942 warnt ihn ein Wachtmeister, sein Name stehe auf einer Deportationsliste.
Himmler ist einer der Nachbarn
In seiner Not meldet sich Ascher bei Martha Graßmann, der Mutter seines früh verstorbenen Freundes Gerhard. Sie bringt ihn erst in der Villa an der Bismarckallee unter, später um die Ecke in einem leer stehenden Haus an der Lassenstraße. Es beginnt ein dreijähriges Leben im Untergrund, im unangenehmsten Sinne des Wortes. Ascher überlebt den Krieg in einem Kartoffelkeller, in der Gesellschaft von Ratten und verwilderten Katzen - und umgeben von Todfeinden.
Zu den Anwohnern im Grunewalder Villenviertel gehören Heinrich Himmler und Robert Ley, die Führer von SS und Reichsarbeitsfront. Die Gestapo unterhält hier eine Dienststelle und die SA ein Schulungsheim. Ab 1943 fliegen die britischen Bomber ihre Angriffe auf Berlin und treffen auch das Haus in der Lassenstraße. In den letzten Kriegstagen werden fast alle von Aschers Gemälden zerstört.
Bei der zweiten Zigarette erzählt Verena Velde, sie und die anderen Kinder hätten in den 50er Jahren schon gewusst, was die Tante Graßmann für den Onkel Ascher getan hat. Dass sie ihn versteckt hat, weil er Jude war, und dass er deshalb so menschenscheu sei und man ihn besser in Ruhe lasse. „Aber näher nachgefragt hat man da natürlich nicht. Wie wollen Sie denn so etwas als Kind verstehen?“
Er lehnt ab - wegen seiner Kontaktängste
Als die Rote Armee Berlin befreit, ist Ascher 51 Jahre alt. Das alte Leben von vor 1933 ist unendlich weit weg, aber es fehlt ihm auch die Kraft für einen Neuanfang. Seine einzige Bezugsperson ist Martha Graßmann. Ascher zieht zu ihr zurück in die Villa, die sich schnell füllt, mit Ausgebombten und Flüchtlingen. Es braucht seine Zeit, bis sich Ascher an die Hausgemeinschaft gewöhnt. Im Keller die aus Schlesien geflüchtete Familie Gustavus mit den kleinen Kindern Ute und Wolfgang. Darüber der Wirtschaftsberater Heinz Ullmann, der für die FDP im Abgeordnetenhaus sitzt und Berlin kurz als Verkehrssenator dient. Die Familie Ehrenberg, der das Haus gehört. Der Unternehmer Hugo Schumacher, der als „Hühner-Hugo“ am Wittenbergplatz gebratene Hähnchen verkauft. Und ab 1953 dann noch Familie Velde.
In der großen Wohnung am Heidelberger Platz versinkt Velde für einen Augenblick in diesen Nachkriegsjahren. Noch einmal tobt sie mit den Freunden durch den verwilderten Garten der Villa, noch einmal steht die Tür zu Onkel Aschers Atelier einen Spalt weit offen. Widmet er sich gerade der Arbeit? Oder streift er wieder einsam durch den nahen Grunewald?
Die Jahre im Untergrund haben Ascher verändert. Bekannte aus der Vorkriegszeit beschreiben ihn als fröhlichen, das Leben genießenden Mann mit Erfolg bei den Frauen. Ein gern gesehener Gast auf Vernissagen und Empfängen. Jetzt lehnt er einen von der Berliner Kunstakademie angebotenen Lehrauftrag wegen seiner Kontaktängste ab.
„Das Haus wird abgerissen“
Sein Misstrauen geht so weit, dass er sich anderen Menschen nicht mal mehr künstlerisch nähern mag. Umso intensiver widmet er sich der Darstellung von Landschaften, von Sonne und Mond, Bäumen und Blumen. Quell seiner Inspiration sind lange Spaziergänge durch den Wald. Ascher arbeitet so produktiv wie zu Weimarer Zeiten, aber er arbeitet weitgehend für sich allein. „Ich habe nie gesehen, dass da mal jemand gekommen ist, um ein Bild zu kaufen“, erzählt Velde. Ascher genügt sich und seiner Kunst.
Umso schwerer trifft es ihn, als Ende der 60er Jahre die Hausbesitzerfamilie Ehrenberg nach Kanada auswandert und die Villa verkauft. 1969, Verena Velde befindet sich gerade auf einem Schüleraustausch in den USA, bekommt sie einen Brief von den Eltern: „Das Haus wird abgerissen. Wir müssen ausziehen.“ Fritz Ascher empfindet das als erneute Vertreibung, von der er sich nicht mehr erholt. Als Velde ein paar Monate später nach Berlin zurückkommt, „da war er schon tot“. Zerrüttet von Depressionen, der Parkinson-Krankheit und einem Schlaganfall stirbt Fritz Ascher am 26. März 1970 im Alter von 76 Jahren, ein Jahr vor Martha Graßmann.
Das Porträt wacht über ihren Schlaf
Was bleibt? Für die Kunst ein ständig wachsender Nachlass, dem Rachel Stern mit ihrer Fritz Ascher Society hinterherreist und -telefoniert. Am Ende dieses Jahres kommt die Retrospektive „Leben ist Glühn“ - nachdem sie zum Beispiel schon in Chemnitz zu sehen war - in Aschers Heimat. Vom 8. Dezember bis zum 1. März 2018, parallel in der Berliner Villa Oppenheim und im Museum Potsdam.
Auch Verena Velde wird ein Bild beisteuern, das Porträt einer unbekannten Frau, das ihr Ute Gustavus überlassen hat, die Freundin aus Kindheitstagen in der Grunewalder Villa.
Lange Zeit hat sie geglaubt, der scheue Künstler habe sie kaum wahrgenommen und sei ihr mit ähnlichem Misstrauen begegnet wie denen da draußen, den Fremden. Umso mehr überrascht es sie, als die Freundin eines Tages erzählt: „Weißt du eigentlich, dass er auch ein Porträt von dir gemalt hat?“ Weiße Gouache, schwarze Tinte und Aquarell auf Papier. Ein kleines Mädchen mit Mondgesicht, datiert von 1955. Vor ein paar Jahren hat ihr die Freundin das Bild geschenkt.
Warum hängt es nicht an der Wand, irgendwo zwischen den anderen 100 Bildern hier am Heidelberger Platz? Verena Velde schüttelt den Kopf. „Das geht nicht, das ist zu privat.“
Onkel Aschers Porträt wacht seit Jahren am Bett über ihren Schlaf.