75 Jahre Wannsee-Konferenz: Die Erfindung der Tötungsmaschinerie
Es begann mit einer Einladung: "Besprechung mit anschließendem Frühstück". Das Ende ist bekannt – die "Endlösung der Judenfrage". Ein Besuch im Haus der Wannsee-Konferenz 75 Jahre danach.
Mag sein, dass der Blick des einen oder anderen Konferenzteilnehmers gelegentlich auch über die Decke des Raumes schweifte, in dem das Treffen stattfand. Vielleicht blieb er dann an den Stuckreliefs hängen, den halb bäuerlichen, halb bukolischen Szenen, den verspielten Blumengirlanden und Rosetten.
Womöglich hatten die 15 Herren sich anfangs im angrenzenden Wintergarten versammelt, vom Konferenzraum abgetrennt, durch zwei Glastüren und ein hohes, von Säulen aus Kunstmarmor flankiertes Bogenfenster, und man hatte das dortige weißmarmorne Wasserbecken mit der einen Schwan umarmenden Putte und das griechisch-antik anmutende Relief an der Wand gebührend bewundert. Auch der Garten, der sich vor den Fenstern des Konferenzraumes vom Schnee weiß überpudert zum Wannsee hinunterzog, mit Blick aufs Strandbad am jenseitigen Ufer, war wohl eine willkommene Ablenkung fürs Auge.
Doch, es war ein überaus angenehmer, geradezu idyllischer Rahmen, den sich Reinhard Heydrich, Chef der Sicherheitspolizei und des SD, des Reichsführers SS, für die von ihm in der Villa Am Großen Wannsee 56–58 anberaumte Konferenz zur „Endlösung der Judenfrage“ ausgesucht hatte – selbst wenn nicht ganz gesichert ist, dass das Treffen tatsächlich im ehemaligen Speisezimmer der als Gäste- und Erholungsheim der SS genutzten Industriellenvilla stattgefunden hat. Wie es ohnehin wenig Informationen über die äußeren Umstände des Treffens am 20. Januar 1942, heute vor 75 Jahren, gibt.
Fast wäre das Protokoll der Konferenz verloren gegangen
Fotos oder etwa eine Sitzordnung sind nicht überliefert, immerhin weiß man aus der Vernehmung des Protokollführers Adolf Eichmann vor einem israelischen Gericht im Juli 1961, dass es „sehr ruhig, sehr freundlich, sehr höflich, sehr artig und nett“ zuging, die Ordonanzen zwischendurch Cognac reichten und, anders als in seinen Aufzeichnungen festgehalten, „in sehr unverblümten Worten“ gesprochen wurde, „von Töten und Eliminieren und Vernichten“, auch über „die verschiedenen Tötungsmöglichkeiten“.
Fast wäre nicht mal das Protokoll der nur etwa 90 Minuten dauernden Sitzung erhalten geblieben. 30 Ausfertigungen des 15-seitigen Schriftstücks waren verteilt worden, fast alle wurden wohl kurz vor Kriegsende in den jeweiligen Behörden oder Dienststellen vernichtet oder gingen bei der Schlacht um Berlin verloren. Nur das Exemplar des Unterstaatssekretärs Martin Luther vom Auswärtigen Amt ist überliefert. Es wurde schon Monate vor Kriegsende mit anderen Unterlagen des Ministeriums ausgelagert und erst 1947 im ehemaligen, von den Amerikanern beschlagnahmten Telefunken-Werk in der Lichterfelder Goerzallee entdeckt, als Teil einer rosafarbenen Akte mit der Aufschrift „Endlösung der Judenfrage“.
Der Raum der Konferenz als Mittelpunkt einer historischen Ausstellung
Man kann sie im Wintergarten als Faksimile durchblättern oder das Protokoll, gleichfalls ein Faksimile, im ehemaligen Speisezimmer der 1915 errichteten, 1941 von der SS gekauften Villa Seite für Seite studieren, auch in englischer Übersetzung. Der Raum, in dem das Treffen stattgefunden haben soll, ist der Mittelpunkt der sich über das gesamte Erdgeschoss erstreckenden, 1992 eröffneten und 2006 überarbeiteten Ausstellung der Gedenk- und Bildungsstätte „Haus der Wannsee-Konferenz“, die von einem gemeinnützigen Verein getragen wird.
In seiner Mitte erinnert eine lang gestreckte Vitrine, unter Glas die ausgebreiteten Protokollseiten und andere Dokumente, an einen Konferenztisch mit den für die Sitzungsteilnehmer bereitliegenden Unterlagen. An den Wänden zeigt eine Karte den Frontverlauf am 20. Januar 1942, und ein Organigramm informiert über die Biografien der 15 Teilnehmer und ihre Zugehörigkeit zu Ämtern und Dienststellen.
Keine Entscheidungs-, vielmehr eine "Organisationskonferenz"
Die Heinrich Himmler, dem Reichsführer SS und Chef der deutschen Polizei, unterstellten Abteilungen waren gleich sechsmal vertreten, darunter durch den ein knappes halbes Jahr später an den Folgen eines Attentats gestorbene Heydrich und der 1962 in Israel hingerichtete Eichmann, zwei Jahrzehnte zuvor Leiter des Referats „Judenangelegenheiten und Räumungen“ im Reichssicherheitshauptamt. Das Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete hatte zwei Vertreter entsandt.
Jeweils einer kam von der Parteikanzlei der NSDAP, der Reichskanzlei, der Regierung des Generalgouvernements, also des besetzten Polens, vom Innenministerium, vom Auswärtigen Amt und vom Justizministerium, das durch Roland Freisler, den späteren Präsidenten des Volksgerichtshofs, vertreten wurde. Schließlich war auch das Amt des Beauftragten für den Vierjahresplan, Hermann Göring, mit einem Staatssekretär präsent. Über die genaue Bedeutung des Treffens für den Holocaust haben sich Historiker bis heute nicht auf eine gemeinsame Linie einigen können. Konsens ist immerhin, dass an jenem 20. Januar 1942 kein Beschluss über die „Endlösung der Judenfrage“ ergangen ist. Es war keine Entscheidungs-, vielmehr eine „Organisationskonferenz“, wie der Historiker und ehemalige Leiter der Gedenkstätte, Norbert Kampe, schrieb.
Im großen Stil gemordet wurde auch schon vorher, und besonders kurz nach dem Angriff auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 eskalierte das Töten. Doch zweifellos ölte die Wannsee-Konferenz die nun immer perfekter laufende Tötungsmaschinerie der Nazis, diente Heydrich dazu, die mit dem aktuellen und künftigen Morden befassten Ministerien, Ämter und Dienststellen auf ein gemeinsames Handeln einzuschwören, wohl auch, Verantwortung möglichst breit zu verteilen und nicht zuletzt, seine Position als Führungsfigur abzusichern.
Der erste Zug verließ Berlin, Bahnhof Grunewald am 18. Oktober 1941
Die engere Vorgeschichte der „Besprechung mit anschließendem Frühstück“, wie Heydrich in seiner Einladung formuliert hatte, begann bereits ein Jahr zuvor, als er in Gesprächen mit Heinrich Himmler und Reichsmarschall Hermann Göring mit der „Vorlage eines Endlösungsprojekts“ beauftragt wurde.
Am 31. Juli 1941 – der Angriff auf die Sowjetunion war wenige Wochen zuvor erfolgt, das Ermorden jüdischer Männer, Frauen und Kinder in den eroberten Gebieten hatte begonnen – ließ Heydrich sich dies von Göring, damals nach Hitler der mächtigste Mann im NS-Staat, auch schriftlich geben. Ausdrücklich wurde er in dem von ihm selbst aufgesetzten Schreiben beauftragt, „alle erforderlichen Vorbereitungen in organisatorischer, sachlicher und materieller Hinsicht zu treffen für eine Gesamtlösung der Judenfrage im deutschen Einflussgebiet in Europa“. Auch habe er „in Bälde einen Gesamtentwurf Endlösung der Judenfrage vorzulegen“.
Damit hatte Heydrich einen Freibrief in der Hand, der ihn als Cheforganisator des geplanten Holocausts auswies und den er auch entsprechend einsetzte. Überliefert ist in der Luther-Akte des Auswärtigen Amtes ein Schreiben, in dem er mit Hinweis auf seine „Bestellung“ durch Göring für den 9. Dezember 1941 zu einem Treffen in der Villa am Großen Wannsee einlädt – „im Interesse der Erreichung einer gleichen Auffassung bei den in Betracht kommenden Zentralinstanzen“. Und organisatorische Abstimmung war aus seiner Sicht dringend geboten: Die als „Evakuierung“ beschönigte Deportation der deutschen Juden hatte wenige Wochen zuvor begonnen, aus Berlin etwa verließ der erste Zug am 18. Oktober 1941 den Bahnhof Grunewald.
"Auf legale Weise den deutschen Lebensraum von Juden zu säubern"
Die „gemeinsame Aussprache“ musste aber von Heydrich kurzfristig verschoben werden. Zwei Tage vor dem Termin überfiel Japan Pearl Harbor, am 11. Dezember erging Hitlers Kriegserklärung an die USA, und in deren Folge wurde der Kreis der zur Deportation vorgesehenen Juden auf die gesamten unter deutschem Einfluss stehenden Teile Europas ausgedehnt. Als neuen Termin bestimmte Heydrich den 20. Januar. Es war ein mit unter minus 13 Grad bitterkalter Dienstag, eine leichte Schneedecke hatte auch Wannsee überzogen, wo die geladenen Teilnehmer der Konferenz kurz vor 12 Uhr eintrafen.
Wie aus dem von Eichmann, nach wiederholter Rücksprache mit Heydrich, erstellten Protokoll hervorgeht, informierte der SS-Obergruppenführer anfangs noch einmal über seine „Bestellung zum Beauftragten für die Vorbereitung der Endlösung der europäischen Judenfrage“, resümierte dann die bisherigen Anstrengungen, „auf legale Weise den deutschen Lebensraum von Juden zu säubern“, also diese zur Auswanderung zu drängen, was Himmler nun verboten habe. Anstelle der Auswanderung sei „nach entsprechender vorheriger Genehmigung durch den Führer die Evakuierung der Juden nach dem Osten“ getreten. Auch die Größenordnung hatte Heydrich parat, nach einer von Eichmann erstellten Statistik: Elf Millionen Menschen.
Das Protokoll lässt keinen Zweifel daran, was mit denen geschehen würde: Sie sollten „in geeigneter Weise im Osten zum Arbeitseinsatz kommen“, etwa im Straßenbau, „wobei zweifellos ein Großteil durch natürliche Verminderung ausfallen wird“. Der „Restbestand“ müsse dann, „da es sich bei diesem zweifellos um den widerstandsfähigsten Teil handelt, entsprechend behandelt werden“.
Zum Abschluss: Cognac und Zigarren
Grundsätzliche Einwände gegen den so skizzierten Weg zur „Endlösung“ und einige mehr ins Detail gehende Ausführungen Heydrichs erfolgten nicht, die Teilnehmer gaben nur Ratschläge aus der Sicht ihrer Behörden, so Unterstaatssekretär Luther vom Auswärtigen Amt, der in den nordischen Ländern Schwierigkeiten befürchtete und eine dortige Zurückstellung der Deportationen empfahl, schon „in Anbetracht der hier in Frage kommenden geringen Judenzahlen“.
Und Staatssekretär Josef Bühler, Vertreter des Generalgouvernements, setzte sich dafür ein, mit der „Endlösung“ am besten gleich dort zu beginnen. Heydrichs Vorschlag, den Kreis der Betroffenen im Reichsgebiet auch auf „Mischlinge“ und jüdische Ehepartner von „Ariern“ auszuweiten, scheiterte allerdings vor allem am Widerstand des Innenministeriums, vertreten durch Staatssekretär Wilhelm Stuckart, der „eine unendliche Verwaltungsarbeit“ befürchtete und Zwangssterilisierung empfahl.
Zum Abschluss wurden „die verschiedenen Arten der Lösungsmöglichkeiten" besprochen, also die „Tötungsmöglichkeiten“, wie Eichmann in seiner Vernehmung klarstellte. Heydrich bat noch die Teilnehmer, „ihm bei der Durchführung der Lösungsarbeiten entsprechende Unterstützung zu gewähren“, dann gab es letzte Cognacs und Zigarren.
Die Gedenkstätte „Haus der Wannsee-Konferenz“, Am Großen Wannsee 56–58, ist bei freiem Eintritt täglich von 10 bis 18 Uhr geöffnet. Weitere Informationen unter www.ghwk.de. Im Zusammenhang mit dem Jahrestag wurde jetzt in der Gedenkstätte das im Berliner Metropol-Verlag erschienene Buch „Die Teilnehmer. Die Männer der Wannsee-Konferenz“ (336 Seiten, 24 Euro) vorgestellt. Herausgeber sind Hans-Christian Jasch, Direktor der Gedenkstätte, und Christoph Kreutzmüller, Kurator im Jüdischen Museum Berlin. Die Autoren porträtieren die 15 Teilnehmer der Konferenz, stellen deren jeweiligen Biografien dar, ihren Anteil am Holocaust und ihr Ende: Drei Teilnehmer, darunter Eichmann, wurden nach Kriegsschluss hingerichtet. Heydrich starb an den Folgen des Attentats in Prag, Freisler bei einem Bombenangriff auf Berlin. Ein Teilnehmer gilt als verschollen, zwei nahmen sich bei Kriegsende das Leben. Die übrigen Teilnehmer wurden teilweise für Jahre interniert, danach freigelassen oder verurteilt – so Otto Hofmann, Chef des SS-Rasse- und Siedlungshauptamts, gegen den 1948 ein Urteil zu 25 Jahren Haft erging, der aber schon 1954 begnadigt wurde. Martin Luther, dessen Abschrift des Konferenzprotokolls als einzige überliefert ist, geriet 1943 nach einem Versuch, Außenminister Ribbentrop zu stürzen, selbst in die Fänge der NS-Justiz. Er wurde im KZ Sachsenhausen als „privilegierter Schutzhäftling“ interniert und 1945 von der Roten Armee befreit. Einen Monat später starb er in Berlin.
Eine aktuelle Umfrage unter Holocaustforschern zur historischen Bedeutung der Wannsee-Konferenz lesen Sie hier.