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Als Frank-Walter Steinmeier die Schleife am Kranz richtet, kommt er einem Kniefall sehr nahe.
© Britta Pedersen/dpa

75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz: Das Böse von damals als Mahnung für heute

Zum ersten Mal besucht Frank-Walter Steinmeier die Gedenkstätte Auschwitz. Voller Sorge trifft er Überlebende – Menschen wie Pavel Taussig.

Er war noch nie da. Überall auf der Welt war Frank-Walter Steinmeier – aber nicht in Auschwitz. Als Minister, als Privatmann hat er viele Gedenkstätten, etliche Konzentrationslager besucht. Aber nichts ist wie Auschwitz. Der Bundespräsident kommt mit allem Respekt, wie seine Frau, Elke Büdenbender. Dieser Besuch ist für beide ein wesentlicher Moment ihres Lebens.

Von Yad Vashem, der nationalen israelischen Gedenkstätte für den Holocaust, nach Auschwitz; und dann gemeinsam von Auschwitz in einem Flugzeug, einem der deutschen Luftwaffe, mit dem israelischen Präsidenten Reuven Rivlin nach Berlin. Es sind Tage, in denen sie alle Wege der Erinnerung gehen. Mit „Ruvi“ Rivlin, der den Steinmeiers zum Freund geworden ist.

Nicht furchtsam, aber voller Sorge ist der deutsche Präsident. Das lässt ihn nicht los: „Ich wünschte, sagen zu können: Wir Deutschen haben für immer aus der Geschichte gelernt“, sagte Steinmeier in Yad Vashem. Doch das könne er nicht, wenn und weil sich Hass und Hetze in Deutschland ausbreiten. „Wir Deutsche erinnern uns“, stellte er fest. „Aber manchmal scheint es mir, als verstünden wir die Vergangenheit besser als die Gegenwart.“ Und diese Gegenwart sieht er so: „Es sind nicht dieselben Täter. Aber es ist dasselbe Böse.“

Er geht tief in die Knie

Jetzt sagt er einige Sätze in Auschwitz. Er ist sich der Situation sehr bewusst. Ergriffen spricht Steinmeier von „deutscher Schuld“. Seine Gesichtszüge zeigen Anstrengung, Lebenslinien treten hervor. An diesem Ort, an dem „wir wissen, was Deutsche anderen angetan haben“. Ein Grauen ohnegleichen. Er sagt, er ringe um Worte – und tut es auch. Jedes ist wohlüberlegt. Dankbar ist er, dass ihn Überlebende begleiten, darunter einer, der 36 Verwandte in Auschwitz verloren hat. Begleiten nach Auschwitz, der „Summe von völkischem Denken, Rassenhass und nationaler Raserei“. Auschwitz, der Mahnung, vorbereitet zu sein und als Ort „bleibender Verantwortung den Anfängen zu wehren, auch in unserem Land“.

Zuvor hat Steinmeier an der Todeswand, der „schwarzen Wand“, wo Häftlinge nach dreiminütigen Prozessen erschossen wurden, einen Kranz niedergelegt. Seine Frau Elke Büdenbender und er hatten tief bewegt und zugleich vollkommen still nebeneinander stehend auf diese Wand geschaut. Dann, nach schweren, gemessenen Schritten, beim Ordnen der Schleifen des Kranzes – da geht Frank-Walter Steinmeier so tief in die Knie, dass es einem Kniefall sehr nahe kommt.

Sich das Böse von damals als Mahnung noch einmal vor Augen zu führen, darum geht es heute. Auch. Darum gehen die Steinmeiers durchs Stammlager.

Auschwitz! Das ist, was wir Deutsche wissen müssen, nie vergessen dürfen: Auschwitz war mehr als ein Lager. Zur Zeit des Nationalsozialismus war es eine immer weiter ausgebaute Vernichtungsmaschinerie. Es war Auschwitz I, das sogenannte Stammlager, es war das Vernichtungslager Birkenau, Auschwitz II, das Konzentrationslager Monowitz und noch 50 Außenlager.

Pavel Taussig (hier in heller Jacke) ist einer der wenigen Auschwitz-Überlebenden.
Pavel Taussig (hier in heller Jacke) ist einer der wenigen Auschwitz-Überlebenden.
© Stephan-Andreas Casdorff

Die Kleinen und Schwächeren starben zuerst

Die europaweit gefangen genommenen Menschen wurden mit der Bahn nach Auschwitz gebracht, weit überwiegend Juden. Sie kamen aus Deutschland, Belgien, Frankreich, Griechenland, Italien, Jugoslawien, Luxemburg, den Niederlanden, aus Österreich. Es waren Polen, Rumänen, Menschen aus der Sowjetunion, der Tschechoslowakei, aus Ungarn. Sie wurden hierher gebracht – und umgebracht.

Ihre Qualen sind im Übrigen im Urteil zum Frankfurter Auschwitz-Prozess 20 Jahre nach der Befreiung festgehalten. Heribert Prantl, der Publizist und gelernte Staatsanwalt, hat daraus zu diesem Tag noch einmal zitiert. „Das Zyklon B befand sich im körnigen Zustand in verschlossenen Blechdosen. Die SS-Männer öffneten die Dosen unter dem Schutz von Gasmasken erst unmittelbar vor dem Einschütten. (...) Es entwickelten sich Blausäuredämpfe, an denen die in der Gaskammer befindlichen Menschen in wenigen Minuten qualvoll erstickten. Dabei spielten sich fürchterliche Szenen ab.

Die Menschen, die nun merkten, dass sie eines qualvollen Todes sterben sollten, schrien und tobten und schlugen mit den Fäusten gegen die Türen und gegen die Wände. Da sich das Gas vom Boden des Vergasungsraums aus nach oben ausbreitete, starben die kleinen und schwächeren Menschen zuerst. Die andern stiegen dann in ihrer Todesangst auf die am Boden liegenden Leichen, um noch etwas Luft zu erhalten, bis sie selbst qualvoll erstickt waren. Um die Todesschreie der im Vergasungsraum befindlichen Menschen zu übertönen, ließ man beim kleinen Krematorium häufig Lastwagenmotoren laufen oder SS-Männer mit Motorrädern herumfahren.“

Es war die Rote Armee, die sowjetische, die die Lager am 27. Januar 1945 befreite. Auschwitz ist zum Symbol und Synonym für die Shoah geworden. Der Jahrestag der Befreiung des KZ ist seit 1996 in Deutschland und seit 2005 international der Tag des Gedenkens an die Opfer der Nazi-Schreckensherrschaft. Bis zu diesem Tag, dem der Befreiung, sind weit mehr als eine Million Menschen in Auschwitz umgebracht worden.

Der Todesmarsch – und das Wunder

Nicht Pavel Taussig. Er ist heute dabei, kommt als Ehrengast der Steinmeiers mit nach Auschwitz. Sonst wäre Taussig nicht hingefahren, vor fünf Jahren war er da, dachte: Es reicht. Aber jetzt, eingeladen vom Bundespräsidenten, „das kann doch nicht wahr sein“, am „Tag X“ – „so weit habe ich es noch nie gebracht. Davon kann ich meinen Enkelkindern noch erzählen“, sagt er mit einem feinen Lächeln.

Geboren am 24. November im Jahr der Machtübernahme der Nazis, 1933, in Pressburg, heute Bratislava, wurde er evangelisch getauft, zum Schutz. Taussig wusste nicht, dass er Jude ist. 1939 scheitert die Flucht der Familie nach England, sie muss nach Pressburg zurück. In den 1940er Jahren beginnt das große Leiden, sie alle kommen in ein Lager nach dem anderen, am 3. November 1944 werden sie nach Auschwitz-Birkenau geschickt, Pavel kommt in den Kinderblock, Vater und Onkel werden ins „Zigeunerlager“ gebracht. Der Vater wird krank, die Mutter zur Zwangsarbeit nach Lippstadt deportiert. Heinrich Himmler, Reichsführer SS, hat in diesem November angeordnet, die Gaskammern zu zerstören. Zum Glück für den jungen Pavel.

Auschwitz: Zur Zeit des Nationalsozialismus eine immer weiter ausgebaute Vernichtungsmaschinerie.
Auschwitz: Zur Zeit des Nationalsozialismus eine immer weiter ausgebaute Vernichtungsmaschinerie.
© Stephan-Andreas Casdorff

Dann der 5. Januar 1945: Todesmarsch. Es geht in andere Lager, nach Mauthausen, nach Gunskirchen. Aber ein Wunder geschieht: Pavel, Paul, überlebt. Vater und Mutter auch. Sie kehren nach Pressburg zurück. Der Sohn geht zur Schule, macht das Abitur, studiert Slawistik, auch in Prag. Er absolviert seinen Militärdienst und schreibt nebenher satirische Kurzgeschichten. 1968, im berühmten Prager Frühling, reist Taussig aus, über Wien nach Frankfurt am Main. Seinen Vater holt er nach, 1969. Er wird erst Redakteur des „Pardon“, und dann, bis 1996, der „Titanic“.

Das Schreckliche weglachen

Pardon, das passte. Das Leben nehmen, wie es ist, aber anders. Nach allem, was war. Das alte „Pardon“, die Zeitschrift, verband Politik mit Humor, Information mit Satire. Mit mehr als 1,5 Millionen Lesern war „Pardon“ zeitweilig die größte Satirezeitschrift in Europa. Erich Kästner war Pate, von Loriot kam das erste Titelblatt, Werner Finck, Hans Magnus Enzensberger, Martin Walser und Günter Grass waren Autoren. Dazu junge Leute wie Robert Gernhardt und F. W. Bernstein, Kurt Halbritter, Hans Traxler, F. K. Waechter. In „Pardon“ veröffentlichten Alice Schwarzer und Günter Wallraff Reportagen, Robert Jungk war dabei, Wilhelm Genazino. Und Paul Taussig.

Das Schreckliche weglachen: Oft die einzige Möglichkeit, sich zu wehren. Vielleicht ist es das, was Taussig Satire gelehrt hat. Wie Ephraim Kishon sagte: „Adolf Hitler hat mich persönlich zum Satiriker gemacht.“ Weil er in seinem Versteck nichts machen konnte, habe er sich hingesetzt und einen „außerordentlichen guten satirischen Roman geschrieben über eine politische Bewegung gegen die Glatzköpfigen“.

30 Jahre, 40 Jahre hat Taussig nicht über Auschwitz, über die Lager geredet. In der damaligen Tschechoslowakei wollte man nichts davon wissen, „nur statistisch“, wegen der Zahl der Kriegstoten. Aber in Deutschland, da wussten die Menschen Bescheid, stellten „gescheite Fragen“, nicht solche, ob das Tätowieren der Häftlingsnummer weh getan habe.

Wer seine Lebensgeschichte hört, eine Überlebensgeschichte, davon, wie sie dem Tode geweiht auf engstem Raum auf Leichen sitzen mussten, wie sie dann befreit wurden – er am 4. Mai von amerikanischen Soldaten nach einem Todesmarsch – der fühlt den Jubel mehr, als dass er ihn sich wirklich vorstellen kann. Denn sie waren doch so geschwächt, „lebendige Leichen in Lumpen“, wie die GIs danach schriftlich festhielten.

Nur 7.000 Inhaftierte erlebten die Befreiung

Pavel Taussig erzählt, durchsetzt von feiner Ironie, von den schrecklichsten Erlebnissen. Dass er kein Wasser aus einer Zisterne trinken wollte, nachdem er am Grund eine ertrunkene Frau gesehen hatte, kommentiert er mit dem Satz, auf Wasser habe er dann lieber verzichtet. Er sagt es auf Deutsch. Weil die deutsche Sprache doch nicht gleichzusetzen sei mit dem Faschismus. Ja, und deshalb Pardon: „Ich hatte immer einen Hang zur Satire. Auch Auschwitz hat mir den nicht genommen.“

Nachts ließen die Krematorien und Gaskammern in Birkenau den Himmel rot leuchten. Tags verdunkelten sie ihn mit Asche.
Nachts ließen die Krematorien und Gaskammern in Birkenau den Himmel rot leuchten. Tags verdunkelten sie ihn mit Asche.
© Stephan-Andreas Casdorff

Aber als er Präsident Steinmeier durch das KZ gehen sieht, übermannt ihn die Rührung. Ein Schluchzen, es ist, als seien da Tränen, nur kurz. Es ist ein Bild, das er entschlossen wegwischt. Denn etwa 200 Überlebende sind heute in Auschwitz, wo damals, am Tag der Befreiung, nur noch 7.000 lebten. Und er, Pavel Taussig, gehört dazu. Geht aufrecht. Frei.

Dann dieser Weg vom Stammlager nach Birkenau. Sieben Kilometer Distanz, und wo früher Leere war, das eine oder andere Wäldchen, deshalb ausgesucht von Himmler, um daraus inmitten Europas einen riesigen Totenacker zu machen. Es sind mit der Zeit Häuser gebaut worden, viele, näher herangerückt an das ehemalige Vernichtungslager. Das der Gaskammern und Krematorien, die nachts den Himmel rot leuchten ließen und tags den Himmel mit Asche verdunkelten.

Hier findet die Gedenkfeier statt, auf der Überlebende sprechen und weinen, mit geschlossenen Augen zuhören, Seite an Seite mit Präsidenten und Königlichen Hoheiten. Präsident Andrzey Duda spricht, was er in Yad Vashem nicht konnte, Ronald Lauder, auch er ein Präsident, der des Jüdischen Weltkongresses. Ihre Adressaten sind alle die, die da sind, auch Vertreter der vielen anderen Opfergruppen, ganz besonders die, von denen viele gestreifte Tücher tragen. Wie zum Triumph.

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