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Für die vom Nazi-Terror verfolgten war Auschwitz die Hölle.
© imago images/Eastnews

Postkarten aus Auschwitz: Was Häftlinge aus dem KZ schreiben durften

Der Berliner Heinz Wewer sammelt Nachrichten von Insassen deutscher Konzentrationslager. Zu Besuch bei einem Forscher der besonderen Art.

Für alle, die es erlebt und als wenige überlebt haben, war es die Hölle. Dieses sonst eher religiöse Wort kehrt in Zeugnissen der vom Nazi-Terror verfolgten, gefolterten, in den Konzentrationslagern versklavten Menschen immer wieder. Die Hölle aber ist für die Anderen, für die Nachgeborenen ein eigentlich unvorstellbarer Ort.

Leichter vorstellen kann man sich aber: was es bedeutet haben mag, wenn die aus der menschlichen Welt so unbegreiflich Fortgerissenen wenigstens noch auf einer Postkarte ein Lebenszeichen nach außen senden konnten oder selber eine Botschaft zu empfangen hofften. Als letzten Kontakt mit jener Welt, die nun zum Jenseits geworden war. Hiervon erzählt nun auch ein Forscher der besonderen Art.

Auf der ganzen Welt versuchen Historikerinnen und Historiker, das vor 75 Jahren zu Ende gegangene Mord- und Terrorregime des Nationalsozialismus immer weiter zu ergründen. Das geschieht zumeist in wissenschaftlichen Institutionen, an Universitäten oder renommierten Forschungs- und Gedenkstätten.

Ein bisher freilich kaum bekannter Ort dieser historischen Forschung liegt tief im Berliner Südwesten. Man findet ihn in einer nahezu verwunschen wirkenden Wohnsiedlung aus den späten 1980er Jahren, hinter kleinen Vorgärten am Seitenweg einer verkehrsberuhigten Sackgasse. Auf dem Türschild steht nur der Name Heinz Wewer, denn diese Stätte der zeitgeschichtlichen Forschung samt einem außergewöhnlichen Privatarchiv ist: ein Einmann-Institut. Und Heinz Wewer gilt inzwischen als international angesehener Vertreter einer auf die Jahre der Nazidiktatur ausgerichteten „Social Philately“.

Er sammelt, analysiert und dokumentiert

So lautet die angelsächsische Bezeichnung für eine Zunft von Philatelisten, die sich nicht um die schiere Seltenheit oder um geografische oder bloß bildmotivische Eigenarten von Briefen, Karten, Marken und Poststempeln schert. Heinz Wewer nämlich geht es um inhaltliche historische Beweisstücke. Er sammelt, analysiert und dokumentiert „Postalische Zeugnisse zu Verfolgung und Terror im Nationalsozialismus“.

Heinz Wewer in seinem Arbeitszimmer.
Heinz Wewer in seinem Arbeitszimmer.
© Mike Wolff

Das war auch, nach rund zwei Jahrzehnten Recherche-Arbeit, der Untertitel seines ersten großformatigen Buchs „Abgereist, ohne Angabe der Adresse“, das 2017 im Berliner Verlag Hentrich & Hentrich erschienen ist. Dieser Tage liegt nun Wewers dritter, wiederum reich illustrierter Band vor: „Spuren des Terrors. Postalische Zeugnisse zum System der deutschen Konzentrationslager“.

Heinz Wewer, ein mehr als rüstiger Pensionist, der dieses Jahr 85 Jahre alt wird, hat volles weißes Haar und eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Autor Alexander Kluge. Freundlich bittet er den Besucher zunächst die Straßenschuhe abzulegen. Alles in seinem Zehlendorfer Häuschen wirkt privat, intim verwinkelt, die Räume klein und fast überall voller Papiere, Bücher, dazu im Erdgeschoss, wo Frau Wewer als Musikerin und Privatlehrerin ihr Arbeitszimmer hat, auch Notenblätter. Nach diesem ersten Einblick auf Socken hoch ins Oberstübchen, wo Heinz Wewer schreibt und denkt und kramt und vieles immer sehr schnell zur Hand hat. Auch Erstaunliches.

Während er mit der Rechten aus einem Regal die broschierte amerikanische Originalausgabe von Hannah Arendts berühmter Studie über den Totalitarismus („The Origins of Totalitarism“) angelt, greift die andere Hand schon ins gegenüberliegende Fach, wo in schwarzen Ordnern etliche Dokumente der schwärzesten deutschen und europäischen Epoche liegen. Post zum Beispiel aus dem Konzentrationslager Auschwitz.

Überlebende vertrauten sich ihm an

In dem Klassiker über die Ursprünge des Totalitarismus steht auf der linken Innenseite noch eine handschriftliche Widmung: „Mit guten Wünschen, Hannah Arendt“. Die Zueignung stammt von 1957. Damals studierte der in Köln geborene, dann im ostfriesischen Emden aufgewachsene Heinz Wewer als früher Stipendiat der Fulbright-Stiftung Geschichte und Politikwissenschaft an der amerikanischen Ostküste, in Amherst und in Princeton. Dort hörte er auch Vorlesungen bei Hannah Arendt, die als Gastdozentin aus dem nahen New York kam. Und in dieser Zeit hat Wewers Engagement für die Aufarbeitung der deutschen Vergangenheit seine Quelle.

Wewers Vater war im Krieg als an Land stationierter Marineoffizier im niederländischen Amersfoort. „Dort befand sich das größte Außenlager des KZs Herzogenbusch. Ich weiß nicht, was mein Vater davon wusste und ob er damit zu tun hatte. Er starb 1947, bevor ich begann, kritische Fragen zu stellen.“

Zehn Jahre später als Student in den USA aber wurde er auf solche Fragen gestoßen. „In den drei Sommern zwischen 1957 und ’59 arbeitete ich während der Uniferien als ,bell hop’, also Junge für alles, in einem Hotel in den Catskill Mountains im Bundesstaat New York. Das Hotel gehörte einem Deutschen, der mit einer polnischen Jüdin verheiratet war, und die meisten Gäste in den Catskill Mountains, die auch „Jewish Alps“ genannt wurden, waren jüdische Emigranten aus Deutschland. Für die meisten von ihnen war ich dort der erste Deutsche, dem sie nach der Katastrophe begegneten – und jung genug, um nicht mehr zu den einstigen Tätern zu gehören.“

Die Erinnerungen an das, was ihm viele dieser Sommergäste anvertrauten bewegt ihn bis heute. Daraus entstanden, oft als Gespräch bei einem Bier an der Bar begonnen, wo der junge Wewer bediente, häufig auch Freundschaften.

Folgenreiche Begegnungen

„Die meisten Gäste, die vor 1939 geflüchtet waren, hatten Verwandte und Freunde in den Vernichtungslagern verloren. Und in meinem letzten Sommer logierte in dem Hotel auch eine Gruppe Frauen, die selbst das Fürchterlichste durchlebt hatten. Sie gehörten zu den so- genannten ,Versuchskaninchen’ des Frauen-KZs Ravensbrück, wo an ihnen NS-Ärzte und -Ärztinnen grausame, sinnlose Experimente anstellten. Ihnen wurden Knochen gebrochen, Entzündungen beigebracht, innere Organe versehrt oder ohne Narkose entnommen. Die meisten sind dabei gestorben. Und die Überlebenden, mit denen ich ins Gespräch kam, litten noch immer unter den Folgen.“

Folgen hatte diese unverhoffte Begegnung auch später, als Heinz Wewer mit einem Magister-Abschluss der Universität Princeton nach Deutschland zurückkehrte. Weil er erfahren hatte, dass die Bundesregierung bis dahin jede finanzielle Entschädigung für die überlebenden, zumeist polnischen Opfer der Menschenversuche in Ravensbrück ablehnte, publizierte er dazu einen Aufsatz in den „Frankfurter Heften“. Der Autor Heinz Wewer war bis dahin völlig unbekannt, doch zu den Herausgebern der renommierten Zeitschrift gehörte die Ravensbrück-Überlebende und Autorin Margarete Buber-Neumann sowie der prominente Publizist und Buchenwald-Überlebende Eugen Kogon (Autor des frühesten Buchs über den „SS-Staat“).

Das hatte Wirkung. Sogar in den USA, wo die deutsche Botschaft in Washington zuvor schon mit dem unter Emigranten virulenten Thema im Bonner Auswärtigen Amt nur auf taube Ohren und kalte Ignoranz gestoßen war. Die Bundesregierung, aufgeschreckt durch weitere Reaktionen, gewährte etwa 70 polnischen Jüdinnen als Opfern von Ravensbrück schließlich eine bescheidene „Wiedergutmachung“, wie das eigentlich Unmögliche euphemistisch genannt wurde.

1961 saß er als Reporter im Eichmann-Prozess

Zu Wewers persönlicher Bescheidenheit gehört freilich, dass er in seinem neuen Buch, das auch ein Kapitel über Ravensbrück enthält, jene Episode wie beiläufig erwähnt und nur von „einem Beitrag in den Frankfurter Heften" spricht. Den eigenen Verfassernamen nennt er erst 150 Seiten später in einer der über tausend kleingedruckten Anmerkungen.

Heinz Wewer trägt keinen deutschen Doktor- oder gar Professorentitel. Er war überwiegend in der Kultur- und Bildungsverwaltung tätig, bis zu seiner Pensionierung im Jahr 2000 zuletzt für „Internationale Beziehungen“ der damaligen Hochschule, heute Universität der Künste in Berlin verantwortlich. Hörer des einstigen Berliner Radiosenders RIAS konnten den Namen Heinz Wewer freilich schon 1961 wahrnehmen. An dem Thema Ravensbrück hatte zu jener Zeit auch der West-Berliner Innensenator Joachim Lipschitz Anteil genommen. Lipschitz gründete später das Besuchsprogramm des Senats für Überlebende des Holocausts, die als ehemalige Berliner Bürger und Bürgerinnen in die Stadt eingeladen wurden.

„Mithilfe von Lipschitz bekam ich 1960/61 tausend Mark Zuschuss für meine erste Reise nach Israel, wo ich Yad Vashem und das dortige Archiv aufsuchen wollte. Als davon der RIAS-Redakteur und spätere Senatssprecher Hans Peter Herz erfuhr, fragte er mich, ob ich mit meinen Vorkenntnissen nicht Lust hätte, für den Sender über den gerade anstehenden Prozess gegen Adolf Eichmann zu berichten. So saß ich 1961 in Jerusalem im Gerichtssaal dem Organisator des Holocausts gegenüber und verfasste insgesamt zwölf Prozessberichte, die ich jeweils per Luftpost nach Berlin schickte.“

Geheimbotschaften, geschrieben mit Urin

Wewer lächelt dazu mit jener mitmenschlichen Liebenswürdigkeit, die es ihn überhaupt aushalten lässt, sich bis heute in Büchern und Vorträgen voll anhaltendem Engagement mit dieser schwarzen, von Deutschland angerichteten Historie zu beschäftigen. „Ach ja“, fügt er mit seinem sanften Lächeln hinzu, „Hannah Arendt bin ich dort im Gerichtssaal auch wiederbegegnet. Ich habe sie aber nicht gewagt anzusprechen, weil sie immer so heftig in ihre Notizen versunken schien, die dann zu ihrem berühmten Buch über Eichmann in Jerusalem wurden.“

Näher als Arendt ist er indes zahlreichen Zeitzeugen gekommen, nicht nur als Student. So nennt er als langjährigen Freund den aus Berlin gebürtigen, vor Jahren im amerikanischen Exil gestorbenen Publizisten und Historiker Kurt R. Großmann, der Generalsekretär der deutschen Liga für Menschenrechte war – und ein Jugendfreund und Biograf des von den Nazis letztlich zu Tode malträtierten Friedennobelpreisträgers Carl von Ossietzky. In seinem ersten Band „Abgereist, ohne Angabe der Adresse“ hat Wewer erschütternde Karten und Briefe Ossietzkys aus dem KZ Esterwegen an seine Frau Maud im Faksimile dokumentiert.

Zu den als Faksimile abgebildeten besonderen Funden des jetzt erschienenen Bandes gehören wiederum Zeugnisse aus dem KZ Ravensbrück. Erstmals werden drei von weiblichen Häftlingen mit Urin auf Polnisch geschriebene, nur durch Erhitzen lesbare und als Geheimbotschaften durch die postalische Lager-Zensur gebrachte Mitteilungen an die Außenwelt präsentiert.

Polnische weibliche Häftlinge schrieben Geheimbotschaften mit Urin. Deren Faksimiles zeigt erstmals Wewers neues Buch „Spuren des Terrors. Postalische Zeugnisse zum System der deutschen Konzentrationslager“, soeben erschienen im Verlag Hentrich & Hentrich, Berlin/Leipzig.
Polnische weibliche Häftlinge schrieben Geheimbotschaften mit Urin. Deren Faksimiles zeigt erstmals Wewers neues Buch „Spuren des Terrors. Postalische Zeugnisse zum System der deutschen Konzentrationslager“, soeben erschienen im Verlag Hentrich & Hentrich, Berlin/Leipzig.
© Mike Wolff

Im Zusammenhang mit Häftlingspost beschreibt Wewer im neuen Buch auch seltener dokumentierte Lager wie das bei Krakau gelegene Plaszow, aus dem nicht nur der spätestens durch Steven Spielbergs Film legendär gewordene Unternehmer Oskar Schindler jüdische Zwangsarbeiter vor der Gaskammer rettete. Wewer bedenkt dort den Textilfabrikanten Julius Madritsch – einen der kaum bekannten, in Yad Vashem als „Gerechter unter den Völkern“ geehrten Retter.

Eine infame Falle

Was gleichfalls erst Heinz Wewers Forschungen ins Licht rücken, ist die Tatsache, dass Juden, mit wenigen Ausnahmen, als einzige Häftlingsgruppe in den Lagern keine Post empfangen oder schreiben durften. Wenn dennoch Zeugnisse wie die zensierten und mit vorgeschriebenen Texten („Bin gesund und munter“) versehenen Karten etwa aus Auschwitz-Birkenau existieren, dann hängt dies zumeist mit einer vom „Reichssicherheitshauptamt“ der SS ab 1942 betriebenen „Briefaktion“ zusammen. Nach außen sollten todgeweihte Häftlinge über den Charakter der Lager mit einem Lebenszeichen täuschen, während die NS-Behörden mithilfe der Adressen der Postempfänger noch versteckte oder ihnen bislang unbekannte Juden ausfindig machen wollten. Eine infame Falle, die Wewer mehrfach dokumentiert. Oft mit Postkarten, die den Opfern kurz vor ihrer Ermordung abgenötigt wurden.

Postsache aus Auschwitz.
Postsache aus Auschwitz.
© Mike Wolff

Wie aber kommt man an diese Schriftstücke, von denen Heinz Wewer auch etwa fünfhundert in seinem Privatarchiv besitzt? „Man muss in den Archiven der KZ-Gedenkstätten suchen, in Museen, Instituten, natürlich im Bundesarchiv in Berlin, bei betroffenen Familien nachfragen, und manches wird vor allem aus Nachlässen von Antiquariaten oder auf Auktionen angeboten.“ So gibt es einige spezielle Händler für jederlei Dokumente der „Postgeschichte“.

Stoff für weitere Bücher

„Und es gibt Flohmärkte“, fügt Wewer hinzu und holt aus einer Mappe zwei handgeschriebene Karten des von den Nazis als „Geltungsjude“ verfolgten Dresdner Romanisten Victor Klemperer hervor, dessen eindrucksvolle Tagebücher vor zwanzig Jahren noch posthum zu Bestsellern wurden. Wewer hatte die inhaltsreichen, von Klemperer 1944 an seine in Schweden verheiratete Tochter Hilde gerichteten Postkarten im Jahr 2000 bei einem Stockholmer Straßenhändler entdeckt und das Stück für umgerechnet etwa 10 Euro erworben. Als Autografen wären sie ein Vielfaches wert, aber Wewer geht es um das historische Zeugnis.

„In Stücken wie diesen ruht auch noch Stoff für zwei weitere Bücher“, sagt der bald 85-Jährige. Und wieder sein Lächeln, mit einem Augenaufschlag zum Himmel. „Die möchte ich noch schaffen, wenn mir das vergönnt ist.“

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