Auschwitz-Befreiung vor 75 Jahren: So erinnert sich Berlin mit zahlreichen Veranstaltungen
Vor 75 Jahren befreite die Rote Armee die Häftlinge des deutschen Vernichtungslagers Auschwitz. In Berlin gedenken Bürger und Politiker der NS-Opfer.
Mit zahlreichen Veranstaltungen hat Berlin am heutigen Montag an die Befreiung des deutschen Vernichtungslagers Auschwitz vor 75 Jahren erinnert. Überall in der Stadt fanden und finden Veranstaltungen statt, um den Juden und Jüdinnen, den Homosexuellen, den Sinti und Roma und den Menschen mit Behinderung zu gedenken, die von den Nationalsozialisten ermordet wurden.
Am Gedenk- und Informationsort für die Opfer der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Morde in der Tiergartenstraße 4 haben sich am Mittag mehrere hundert Menschen versammelt. Junge und alte Menschen, schwarz und bunt gekleidet. Neben Touristen sind auch Politiker und Politikerinnen gekommen. „Ehre den vergessenen Opfern“ steht auf einer dicken Metallplatte im Boden. Hier organisierten die Nazis 1940 den ersten Massenmord, töteten Menschen, deren Leben sie als „lebensunwert“ einstuften. Aktion T4, benannt nach der Adresse: Tiergartenstraße 4.
80 Jahre später liegen Blumen an diesem Ort, mehr als 20 Kränze, aus der Nähe riecht man ihren Duft. Mehrere Hundert Menschen sind gekommen: Junge Frauen in bunten Leggins neben alten Männern mit schwarzen Hüten. Grünen-Politikerin Claudia Roth zieht sich den Mantelkragen enger, Staatssekretärin Sawsan Chebli von der SPD legt eine weiße Rose auf einen Kranz.
[Sehen Sie hier unsere interaktive Karte mit den Gedenkorten in Berlin]
Dann singt ein Chor: „Notre Père, qui es aux cieux“, Vater unser im Himmel, eine Version von Maurice Duruflé. Die Sängerinnen und Sänger sind von „Thonkunst“, einige sitzen im Rollstuhl, es ist ein inklusives Ensemble. Sebastian Korth singt Bass, im Rauschen der Autos hört man ihn kaum. Für den Auftritt sind er und der Chor aus Leipzig angereist. „Das Thema gehört zu uns“, sagt er. Das Gedenken, findet Korth, darf nicht aufhören.
Im Anschluss findet eine Gedenkveranstaltung für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen statt. Das Denkmal befindet sich ebenfalls im Tiergarten, in der Eberstraße. Schon von weitem sieht man eine riesige Regenbogenfahne im Wind flattern. An der Gedenkveranstaltung nehmen Ramona Pop (Grüne) und Petra Pau (Linke) teil, aber auch viele Berlinerinnen und Berliner, die der queeren Community angehören. Darunter auch Franka, Moxi und Lea.
Sie haben ein komisches Gefühl bei der Gedenkveranstaltung. „Früher wäre ich nichts wert gewesen“, sagt Lea. Die drei finden es aber gut, dass sie hier die Vielfalt Berlins demonstrieren können. Die Erinnerungskultur sei auf einem guten Weg. Doch Lea stört es, dass nur der homosexuellen und nicht der transsexuellen Opfer gedacht wurde. „Wir müssen ein diverseres Bild erlangen“, sagt sie.
Den Auftakt des Gedenktages machte am morgen eine Veranstaltung am Holocaust-Mahnmal, an der die Publizistin Lea Rosh, der Direktor der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden, Uwe Neumärker und der Berliner Bischof Christian Stäblein teilnahmen. Stäblein hat bei der Gedenkveranstaltung eine bundesweite Gedenkminute zur Erinnerung an die Opfer des Holocaust vorgeschlagen. „Ich meine, unser Land täte gut daran, das Gedenken an diesem 27. Januar zu verstärken durch eine zweiminütige Gedenkunterbrechung, in der alles ruhen soll“, sagte er.
Im Rathaus Köpenick haben sich am Morgen viele Menschen versammelt, um die Namen der über 1360 NS-Opfer zu schreiben, die auf dem Friedhof von Altglienicke begraben liegen. Eine von ihnen ist Kristin Höch. Die Köpenickerin hat über die Facebook-Seite des Bezirksamtes davon erfahren und sich sofort angemeldet, auch Mann und Schwester wollen noch kommen.
Menschen Namen und Würde zurückgeben
Bürger wurden dazu aufgerufen, die Lebensdaten der Getöteten in ihrer Handschrift zu verewigen, in Druckbuchstaben, damit man die Namen später gut lesen kann. Die Namen werden auf einer Wand versammelt, die an der Grabstelle aufgestellt werden soll. Es sei eine schöne Geste, um den Menschen ihren Namen und ihre Würde zurückzugeben, sagt Höch. Bisher erinnert nur ein anonymer Gedenkstein an die Menschen, die in den Konzentrationslagern und Tötungsanstalten der Nationalsozialisten ermordet wurden.
Höch möchte die Grabstelle demnächst auf jeden Fall besuchen. Nach einem Namen wird sie dann besonders Ausschau halten: Johann Dillmann, dem Mann, den sie mit ihrer Handschrift aus der Anonymität befreit hat. Geboren 1912 in Düsseldorf, gestorben 1941 im KZ Sachsenhausen, keine 30 Jahre alt, „Arbeiter“ steht auf einer Liste, mehr weiß man nicht über ihn.
Viele Möglichkeiten des Gedenkens
Höch feiert heute, am Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus, ihren 36-Geburtstag. Allein dadurch, sagt sie, habe sie immer eine persönliche Verbindung zu dem Tag gehabt. Im Rathaus Köpenick haben heute schon nach zwei Stunden rund 200 NS-Opfer einen Paten gefunden. Die Veranstaltung geht noch bis 19.30 Uhr.
In Mitte wurde der Sinti und Roma gedacht, die von den Nationalsozialisten verfolgt und getötet wurden. Die Fahnen am Reichstag sind auf Halbmast, es ist 12 Uhr 50, als Petra Rosenberg ans Rednerpult tritt. Sie ist Vorsitzende des Landesverbands Deutscher Sinti und Roma. Einige Touristen stellen sich zu den Zuhörern und gehen wieder; die Lautsprecher sind kaputt und so hört man nur von Nahem, wie Rosenberg sich bedankt: bei ihrer Vorrednerin Rita Prigmore, die den Holocaust überlebte und soeben ihre Geschichte erzählt hat.
Sie ist die einzige Zeitzeugin, die hier zum Gedenktag spricht, und ist extra aus den USA angereist. „Danke, dass du diese Reise auf dich genommen hast“, sagt Rosenberg. Prigmore, eine kleine Frau mit schwarzen Haaren, nickt und wischt sich eine Träne von der Wange.
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Geigenklänge schweben aus einem Lautsprecher am Rande des Denkmals. „So soll man zur Ruhe kommen“, sagt Alexander Diepold. Er ist Geschäftsführer der Hildegard-Lagrenne-Stiftung, benannt nach der NS-Überlebenden und Bürgerrechtlerin der Sinti und Roma. Der Gedenktag ist für Diepold ein Zeichen der Versöhnung, sagt er, „ein verspätetes“ zwar, aber ein Zeichen des Respekts. „Der Schuldvorwurf“, sagt er, „gilt nicht den nachfolgenden Generationen“. Er schaut über den Brunnen. Kerzen flackern am Wasserrand, in der Mitte des Teichs, auf einer dreieckigen Steinplatte, liegt ein Halm Löwenzahn. „Die Jungen haben den Auftrag, wachsam zu sein.“
Wer den Opfern des Nationalsozialismus gedenken will, hat am Montag viele Möglichkeiten: Im Berlin Story Bunker am Anhalter Bahnhof ist die Ausstellung „Women in the Holocaust - Frauen im Holocaust“ zu sehen. Die Volt-Partei lädt zum Stolpersteinputzen, um 15 Uhr sollte in Lichtenberg der Opfer des Faschismus gedacht werden. Um 18 Uhr sollte ein interreligiöser Gedenkgottesdienst in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche stattfinden.
Auch mehrere Berliner Schulen erinnern am Montag an die Auschwitz-Befreiung. Eine davon ist das Charlottenburger Schiller-Gymnasium. Wer dort in die Aula will, begegnet unweigerlich den 18 Schülern, die den Holocaust nicht überlebten - zumindest symbolisch: Eine kleine Schülerbank als Platzhalter für die, die da waren und nicht bleiben durften. Sechs von ihnen wurden in Auschwitz ermordet.
Von Generation zu Generation
Am frühen Abend des Gedenktages sollten die Namen aller jüdischen Schüler, die ermordet, in den Suizid getrieben oder zur Emigration gezwungen wurden, wieder durch die Schule klingen – verlesen von ehemaligen Schülern, die zusammen mit dem Haus der Wannseekonferenz die Lebensläufe, die Flucht- oder Todesumstände zwischen 2012 und 2015 recherchierten und zusammentrugen.
„Dafür werden die ehemaligen Schüler heute hierherkommen,“ berichtet Schulleiter Gerold Hofmann am Montagmorgen. Zusammen mit zwei Zehntklässlern ist er zu der kleinen Schulbank vor die Aula gegangen, um zu zeigen, wie die Gedenkveranstaltung am Abend ablaufen soll. Sie ist Teil des Projektes #LichterGegenDunkelheit, bei dem bundesweit Gedenk- und Bildungsstätten an den Holocaust erinnern.
„Unsere Stimme soll es von Generation zu Generation tragen: Um Gedenken, nicht um Rache, bitten unsere Schatten. Mag unser Schicksal eine Mahnung für Euch sein! Und sollten die Menschen je verstummen, werden die Steine schreien“, steht auf der Platte, die die kleine Schülerbank bedeckt. Dieses Gedicht des polnischen Dichters Franciszek Fenikowski soll das Selbstverständnis der Arbeitsgemeinschaft, die das Schicksal der ehemaligen Schüler recherchiert hat, beschreiben.
Baerbock legt einen Kranz nieder, Giffey putzt Stolpersteine
Auch zahlreiche Bundespolitiker und Politikerinnen erinnern heute an die Befreiung von Auschwitz. Im Schloss Bellevue traf der Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier auf drei Überlebende des Holocaust. Die Grünen-Bundesvorsitzende Annalena Baerbock legte einen Kranz vor dem Denkmal für die ermordeten Juden Europas nieder, die Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) putzte Stolpersteine in der Dresdener Straße in Kreuzberg.
Am Abend findet ein Konzert in der Staatsoper Unter den Linden unter der musikalischen Leitung von Daniel Barenboim statt, zu dem Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki erwartet werden.
Am 27. Januar 1945 befreite die Rote Armee die Häftlinge des deutschen Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz im von Hitler-Deutschland besetzten Polen. Allein dort brachten die Nationalsozialisten mehr als eine Million Menschen um. Der Holocaust kostete insgesamt rund sechs Millionen Juden und Jüdinnen das Leben. Sie wurden von den Deutschen erschossen und in Gaskammern ermordet oder starben an den Folgen von Hunger, Krankheit und Erschöpfung. (mit dpa,epd)
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