Zoff um die Bergmannstraße: Bürger*innen, hier werdet ihr begegnet!
Die Bergmannstraße in Kreuzberg ist mehr als eine Straße. Sie hat fast alles zu bieten, womit Berlin zu kämpfen hat. Ein Blick ins Brennglas.
Am Anfang war das Wort, und das Wort war falsch: Begegnungszone.
Wer braucht so etwas? Und ausgerechnet in der Kreuzberger Bergmannstraße, in der sich doch bekanntermaßen massenhaft Menschen ganz von allein begegnen, zu Fuß, per Rad, im Auto und in den Geschäften und Kneipen? Sie ist mehr als eine Straße – Spiegel der (West)-Berliner Stadtgeschichte ebenso wie Bühne allerneuester verkehrspolitischer Spiegelfechtereien. Wer sie kennt, der versteht zumindest ein bisschen mehr darüber, warum Berlin als Ganzes ewig unverständlich bleibt.
Die Bergmannstraße also hat eine Begegnungszone bekommen. Da hören politisch sensible Menschen allerhand hinein. Sie fühlen die unsichtbare Hand des Staates, die ihrem Leben Sinn geben will wie einst die Mutter am Sandkastenrand: Jetzt spiel doch mal mit den anderen Kindern! Begegnungszonen gehören zum Instrumentarium unserer Stadtplaner, die immer Siena wollen und doch immer nur Hohenschönhausen hinbekommen.
In Begegnungszonen soll der junge Einwohner des Mehrgenerationenhauses mit anderen über seine sexuelle Identität diskutieren, während ältere Eingeborene im Kontakt mit Geflüchteten spielerisch ihre Vorurteile überwinden lernen und sich mit Tipps zum Energiesparen revanchieren. Bürger*innen, hier werdet ihr begegnet! So etwa sieht der stadtsoziologische Hallraum aus, der dazu führt, dass hinterher, wenn alles fertig ist, die einen das Ergebnis doof finden und die anderen trotzdem misslungen.
Und dann die Bergmannstraße in echt, na ja, geht so. Sie ist sogar manchmal richtig schön, zumal wenn im Sommer die Sonne scheint. Mittags sind unzählige einfache Restaurants geöffnet, was in Berlin immer auf touristische Trampelpfade hindeutet; mit ein wenig Fantasie könnte das auch Kopenhagen oder Boston sein, ein weltläufiges Altbauviertel mit dickem Eintrag in den internationalen Reiseführern, das sich nichts mehr beweisen muss. In den Läden stehen entspannte Menschen und zupfen an schönen, überflüssigen Gegenständen, und nur ab und zu eilt einer vorbei, dem man den genervten Habitus des Ureinwohners ansieht: Das war hier mal ein linkes Projekt, wir wollten unseren Uckermärker Ziegenkäse selbstbestimmt und geduldig reifen lassen – aber nun kaufen wir ihn teuer bei Butter-Lindner!
Kreuzberg - das gibt der Sache Wumms
Wenn die Sonne scheint und der Verkehr nicht zu stark ist, dann sitzen sogar Menschen in den klapprigen Parklets, um den wesentlichen Vorzug dieser Einrichtung zu genießen: Man kann dort verschnaufen, ohne irgendein Getränk kaufen zu müssen. Dafür gab es früher öffentliche Bänke, aber die sind irgendwie zwischen Vandalismus und Sparzwang zerrieben worden, wenngleich sie länger gehalten haben, als das von den Parklets jemals zu erwarten ist. Am längsten würden zweifellos die frisch abgeladenen Findlinge vor der Markthalle halten, auf die wir gleich noch kommen. Aber ist das Ganze nun gleich das „Gespött der Nation“, wie sie bei der Kreuzberger CDU höhnen?
Die Bergmannstraße liegt in Kreuzberg, das gibt der Sache den Wumms. Denn die erste möblierte Berliner Begegnungszone befindet sich in der Maaßenstraße in Schöneberg, und dort wurde der Beweis längst erbracht, dass das Blödsinn ist – nur hat es außer den Anwohnern niemanden aufgeregt. Kreuzberg aber hat einen polarisierenden grünen Baustadtrat, Florian Schmidt, der sich selbst als städtebaulichen Aktivisten sieht, jede Gelegenheit nutzt, aktiv zu werden und nun die ganze Erregungslawine sehenden Auges losgetreten hat.
Willkür war das nicht
Willkür war das nicht, die Straße wird zum Leidwesen ihrer Anwohner vom Ladeverkehr, vom Parkplatzsuchverkehr und vom Hauptstraßenstau-Umgehungsverkehr genervt und kann deshalb steuernde Eingriffe dringend brauchen. Man könnte sogar glatt eine Fußgängerzone draus machen, aber da heißt es in Berlin dann auch gleich wieder, nun werde auch die letzte Ecke dem Kommerz und den Konzernen preisgegeben, das traut sich nicht mal ein komplett schmerzbefreiter Stadtrat wie Schmidt.
Ach, gentrifiziert: Dieses Phänomen ist in der Bergmannstraße praktisch erfunden worden, nur wusste damals noch niemand, dass das so heißt. Alle dachten, oh, prima, da wird jetzt endlich mal was hübsch gemacht im ollen West-Berlin. Anfang der Achtziger fing es an. Vor allem die Hausbesetzer hatten die Wahrnehmung komplett verändert: Die Plattmacher, die die alten Stadtgrundrisse mit ihren brutalistischen Sozialwohnungsklötzen überzogen hatten, kamen in Verruf, wurden abgelöst von Charismatikern wie dem Planer Hardt-Waltherr Hämer, der das Prinzip der Stadtreparatur und „behutsamen Stadterneuerung“ durchsetzte.
Kein Wunder, dass sich der Blick der Erneuerer vor allem auf jene Quartiere richtete, die den Krieg einigermaßen wohlbehalten überstanden hatten und auch ohne Sanierung noch den stuckverzierten Charme der Gründerzeit verströmten. Das war nun hier zwischen Gneisenaustraße und Tempelhofer Berg zweifellos der Fall, und 1980 verbreitete Rudolf Thomes Film „Berlin Chamissoplatz“ das neue, alte Kreuzberger Lebensgefühl im ganzen Land.
Die Wohnungen gab's zu Spottpreisen
Das Schicksal der Bergmannstraße hing nun daran, dass sie zwar schon immer Platz für zahllose kleine Geschäfte und Kneipen bot, aber nie so vom Verkehr durchtost wurde wie Mehringdamm und Gneisenaustraße, die Hauptschlagadern dieses traditionellen Subzentrums. Urbanes, traditionelles Lebensgefühl bei relativ geringen Nebenwirkungen: Diese Mischung zog Mieter und Wohnungskäufer ebenso an wie Touristen. Lustigerweise wurde mit der leisen Gentrifizierung im Westen auch der alte Gegensatz der Kreuzberger Postzustellbezirke wieder aktiviert: Im Osten lag SO36, das proletarische, arme Kreuzberg, im Westen SW61, das bürgerliche, aufstrebende.
Das fühlten auch die schwäbischen Bürgerkinder, die sich im ungebärdigen, von der Mauer umschlossenen SO36 bei rauem Punkrock von der Last ihrer Herkunft befreiten, dann aber doch, wenn möglich, den Rückweg in großzügigere WGs und Eigentumswohnungen weiter westlich suchten, die damals noch zu Spottpreisen zu haben waren.
Heute wohnen hier in großen, hohen Wohnungen also selbstsichere, oft wohlhabende Akademiker, die ihre Interessen artikulieren und sich organisieren können. Es ist sicher kein Zufall, dass auf all den Versammlungen der letzten Zeit kaum ein Migrant zu sehen war. Hier bleibt man unter sich, hier fällt aber auch kein internationales Kapital auf der Suche nach Verzinsung ein, kein Architekt plant Stadtvillen mit Auto-Aufzug oder spektakuläre Penthäuser für flexible Milliardäre.
Hip ist die Bergmannstraße nicht
Und bei allem Wandel: Hip ist die Bergmannstraße nicht, jedenfalls nicht, wenn man darunter eine Gegend versteht, wo coole Barkeeper Kräuterauszüge in bunte Drinks rühren, dänische Sauerteig-Artisten überteuerte Brote ins handgefertigte Holzregal legen oder junge Köche aus Portugal und Neuseeland schicke Nova-Regio-Menüs zum maischevergorenen Chenin blanc servieren. Das gibt es alles in Mitte und Nordneukölln sowie in Kreuzberg am Paul-Lincke-Ufer, es ist aber in der Bergmannstraße bislang ausgeblieben.
Auch hier ansässig: Die Vorreiterin des Kaffee-Booms
Deren gastronomisches Zentrum ist natürlich die muntere Marheinekehalle, die mit ihren gehobenen, aber nicht abgehobenen Geschäften das Lebensgefühl der Nachbarschaft besser trifft als die hippe Markthalle IX oder die Arminiushalle in Moabit. Dann ist da das Feinkostgeschäft und Restaurant „Knofi“, das die türkische Familie Celik schon seit 1986 führt, und Cynthia Barcomis Rösterei-Café weiter östlich, das 1994 eröffnete und damit ein wichtiger Vorreiter des Kaffee-Booms war; längst sind natürlich auch einige der bekannten Berliner Kaffeeketten präsent.
Das „Weing’schäft Bernhard & Hess“, dessen Apostroph noch dezent an die süddeutsche Herkunft der Gründer erinnert, besteht dort schon seit 1976 und ist gewissermaßen die imaginäre Schaltzentrale der Straße, wenngleich der junge Besitzer Peter Klunker mit der Gründergeneration nichts zu tun hat.
Viele skeptische Anwohner haben die Eröffnung einer Lindner-Filiale jüngst als eine Art Kipp-Punkt interpretiert: Lindner Feinkost, auch unter dem alten Namen Butter-Lindner bekannt, ist eine Art Wohlstandsanzeiger, der wie die Fische im Wasserwerk funktioniert: Kommt eine Filiale und bleibt sie, sind Durchschnittseinkommen und Anspruchsniveau gehoben, geht sie, besteht Grund zur Sorge. Ganz in der Nähe stehen ein paar kleine Läden leer, das kommt vor, dauert aber meist nur so lange, wie es eben dauert, den alten Kram rauszureißen und durch Neues zu ersetzen.
Die Gewerbetreibenden werden verdrängt
Die aktuell anstehenden Neueröffnungen werden die latent immer spürbare Gentrifizierungsangst vermutlich wieder ein bisschen anfachen: Für den September hat der Berliner Pralinenhersteller Sawade die Eröffnung eines „Flagship Store“ angekündigt, wie er bereits in den Hackeschen Höfen existiert, und mit „Coming Soon“ wirbt „Hakoramen“ für sich, der vermutlich erste Auftritt der japanischen Nudelsuppe Ramen auf dem Boden der Bergmannstraße. Subjektiver Eindruck: Trödel, Geschenkartikel und Kleidung sind auf dem Rückzug, verdrängt von Essen und Trinken, der wohl umsatzstärkeren Branche.
Schmidt, der Stadtrat im Porzellanladen
In dieser Gemengelage agiert nun Florian Schmidt, der Stadtrat im Porzellanladen. Mit der Einrichtung der Begegnungszone war er grundsätzlich auf der sicheren Seite, hatte für den Start der planerisch schon 2014 angeschobenen Testphase die Zustimmung der BVV, die sich weniger Durchgangsverkehr und mehr Sicherheit für Radler und Fußgänger erhoffte und die Bürger beteiligte. Man war vorsichtig und baute nach den Erfahrungen der Schöneberger nichts Festes, sondern setzte auf „Parklets“, zusammengezimmerte Provisorien, und da geschah, was in Berlin eben schneller geschieht als in zivilisierten Städten: Obdachlose zogen ein, Müll sammelte sich, Partygänger lärmten vor Tau und Tag, und ein anonymer Nachbar pflanzte hingebungsvoll eine kleine Marihuana-Plantage hinein, die dann von der Polizei mit geräuschvoller Siehste-Geste abgeerntet wurde.
Auch Parkplätze wurden von den Parklets vernichtet, was naturgemäß den motorisierten Anwohnern so wenig behagte wie den Gewerbetreibenden, die ohnehin froh sind, wenn jemand mit dem Auto vorfährt, statt gleich alles im Internet zu bestellen. Die Bezirksverordneten zogen schon im Januar gegen die Stimmen der Grünen die Notbremse, die der Stadtrat dann aber sogleich wieder lockerte. Er ließ die 15 „Verweilzonen“ nicht wie gefordert bis Juli abräumen, sondern benannte sie in „Diskussionsorte“ um, die bis November bleiben sollen. Sein Gegenargument: Bei einem Abbruch ohne Verkehrszählung, die erst nach Abschluss der Bauarbeiten in der Friesenstraße möglich sei, hätte der Senat Fördergelder zurückgefordert. Eine Rüge der inzwischen ziemlich genervten BVV fing er sich trotzdem ein.
Runde Zebrastreifen? Für 146 000 Euro!
Ostern legte Schmidt noch einmal nach und ließ sämtliche Kreuzungen zwischen Mehringdamm und Marheinekeplatz mit gelbgrünen Punkten verschiedener Größe bedecken. Wozu? Viele rätselten, viele juxten über die runden Zebrastreifen oder schimpften über die Kosten, stämmige 146 000 Euro. Der Stadtrat stellte klar: „Die Punkte signalisieren den Autofahrern, dass hier eine spezielle und verkehrsberuhigte Zone ist.“ Die Farbintensität, anfangs kreischend neon-intensiv, hat indessen rasch nachgelassen. Sichtbarste Folge der umstrittenen Testphase war der Umzug des traditionellen Bergmannstraßenfestes, das nun zwischen den Diskussionsorten keinen Platz mehr hatte und erstmals westlich des Mehringdamms in der Kreuzbergstraße stattfand. Das alles verstärkte das allgemeine Grummeln und die Spannung auf das, was nach den Parklets kommt.
Möglicherweise sind es Findlinge? Die mächtigen Steine, die Stadtrat Schmidt im Juni an der Kreuzung Zossener/Bergmann-/Friesenstraße hinwerfen ließ, haben allerdings einen anderen Hintergrund. Die Friesenstraße wird mit EU-Geldern derzeit mit einem neuen, geräuschmindernden Belag versehen, musste voll gesperrt werden – und das gefiel vielen Anwohnern, die schon lange gegen die Haltung von Senat und Verkehrslenkung die dauerhafte Sperrung der Querverbindung Zossener/Friesenstraße fordern. Ihre Idee war es, den Bau zum Test zu nutzen und die ganze Kreuzung vor der Markthalle solange für Autos zu sperren.
Mit Neandertaler-Methoden gegen autofahrende Neandertaler
Das Ergebnis: Die Autofahrer eroberten den freien Raum trotz Haltverbot und Absperrungen rücksichtslos zum Parken – und Schmidt ließ die Findlinge schicken. Mit Neandertaler–Methoden gegen autofahrende Neandertaler, das funktionierte und eroberte den Platz für Fußgänger und Radler zurück. Die Aktivisten von „Leiser Bergmannkiez“ freuten sich: „Das massenhafte Parken vor der Apotheke hat aufgehört, Radfahrer haben eine klare Orientierung, und Fußgänger fühlen sich beim direkten Queren des Platzes sicherer.“
Na bitte, geht doch. Aber wie nun weiter? Läuft alles wie verabredet, werden im August die Findlinge abgeholt und im November die Parklets. Dann ist im Prinzip alles wieder wie vorher, es gibt einen Stadtrat voller Tatendrang, skeptische Bezirksverordnete, genervte Anwohner und besorgte Händler. Vielleicht doch mal das mit der Fußgängerzone?