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Diese Klischee-Grünen also gibt es, aber das Berlin innerhalb des Bahnrings wird nicht nur von ihnen bestimmt.
© Kai-Uwe Heinrich

Grünen-Erfolg bei der Europawahl: Kreuzberg ist bald überall

Der lächelnde Etatismus der Grünen hat längst sein spezifisches Milieu übersprungen und dominiert die Innenstadt. Ein Kommentar.

Da und dort spotten sie schon, die Insel West-Berlin sei in neuer Form zurückgekehrt, ohne sichtbare Mauer, aber als grünes Biotop inmitten bläulich müffelnder brandenburgischer Ländereien. Drinnen der achtsame Stadtmensch mit dem Lastenfahrrad, auf ökologische Korrektheit und Gendersensibilität bedacht, draußen der AfD-Dumpfkopf, der mit seiner dieselnden Rostlaube zwischen Kohlengrube und Dorfdisko pendelt und sich ausschließlich von der Angst vor imaginären Flüchtlingen sowie um seinen Arbeitsplatz leiten lässt.

Klischees, natürlich, aber aus der aktuellen politischen Situation in Berlin lässt sich kaum erklären, weshalb es ausgerechnet die mitregierenden Grünen so glänzend schaffen, sich vom desaströsen Gesamtbild des Senats abzusetzen und in immer neue Höhen der Wählergunst zu schrauben.

Ja: Eine Europawahl ist keine Abgeordnetenhauswahl, die Wahlbeteiligung ist niedriger und die strategischen Überlegungen beim Ankreuzen sehen vermutlich anders aus. Dennoch ist bemerkenswert, wie sich Kreuzberg, das einst wegen seiner kauzigen, querköpfigen Wählerschaft belächelte gallische Dorf, langsam über die ganze Stadt erstreckt, Reinickendorf und Marzahn eventuell mal ausgenommen.

Die Demoskopen werden uns dazu in den kommenden Wochen noch allerhand erzählen können. Aber man wird wohl auch hier wieder annehmen dürfen, dass Klischees allein nichts erklären. Sicher gibt es das grüne "juste milieu" rund um die teuren Eigentumswohnungen in Prenzlauer Berg und Pankow, wo begüterte Start-upper ihre Kinder mit dem SUV zum Geigenunterricht fahren und sich dafür moralisch auf dem Wahlzettel absichern, Buße tun mit dem Einkauf im Biomarkt und den irren Strompreisen – es trifft ja keine Armen, und ein paar Bäumchen zum Ausgleich für den Fernost-Urlaub sind sicher auch noch im Budget drin.

Viele junge Grünen-Wähler leben ein Leben gegen die Kompromisse der Politik

Diese Klischee-Grünen also gibt es, aber das Berlin innerhalb des Bahnrings wird nicht nur von ihnen bestimmt. Offenbar hat sich nämlich ein ganzer großer Teil der Generation 30 minus komplett von den Weltbildern abgekoppelt, deren Heimat die Traditionsparteien sind.

Bei ihnen fließt ein übergroßer Teil der ohnehin schmalen Einkommen in die Miete, der Besitz eines Autos gilt als weder sinnvoll noch finanzierbar, Meinungen außerhalb der eigenen Filterblase werden als exotisch wahrgenommen und der Ton macht die Musik: Zieht einer mit blauen Haaren weitgehend faktenbefreit gegen die fucking Bundesregierung vom Leder, hat er diese Generation schon formal auf seiner Seite. Da schmiert die als historisches Überbleibsel wahrgenommene CDU zwangsläufig ab, egal wie viele talentierte Social-Media-Manager sie auch einstellt.

Viele junge Grünen-Wähler, so scheint es, leben ein Leben gegen die schwerfälligen, bürokratischen und unbefriedigenden Kompromisse der etablierten Politik. Wenn dort mit Mühe unter Wahrung aller Standpunkte ein Kohlekompromiss zusammengeschraubt wird, nehmen sie dies in allfälliger Klima-Panik als Versagen der Kanzlerin Merkel wahr, die doch eigentlich diktatorisch auf den Tisch hauen müsste, um die Welt rasch noch zu retten.

Die etablierten Parteien haben in diesem Diskurs keine Chance

Den grünen Politikern gelingt in dieser Situation glänzend das Doppelspiel zwischen seriöser Staatsträgerei – sind nicht die letzten Fundis längst auf die Galerie verbannt worden? – und gezielter Obstruktion zugunsten des linkspopulistischen Milieus. Sie zeigt sich in den Winkelzügen des Kreuzberger Stadtrats Florian Schmidt ebenso wie im flexiblen Stellungsspiel der womöglich nächsten Regierenden Bürgermeisterin Ramona Pop, die sich – als Wirtschaftssenatorin! – berechnend für die Enteignungsinitiative starkmacht.

Die Parteien, die wir früher die etablierten nannten, haben in diesem auf wenige Themen beschränkten Diskurs der Innenstadt keine Chancen mehr. Ihr Führungspersonal ist verbraucht, ihre Bekenntnisse gelten als unglaubwürdig. Und bezeichnenderweise hat auch die starr staatssozialistische Linkspartei keine Chance gegen den lächelnden Etatismus der Grünen – jedenfalls nicht in Berlin.

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