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Durch das unterirdische Endlager in Bure ziehen sich riesige Tunnel.
© Reuters/Benoit Tesier

Endlagersuche für Atommüll in Frankreich: Bis in alle Ewigkeit

Alle paar Wochen prügeln sich Polizisten und Atommüllgegner im französischen Dorf Bure. Hier soll ein Endlager entstehen. Die Bewohner wollen ihre Ruhe zurück.

Im Juni 2017, um kurz nach sechs Uhr morgens, hört Michel Maltrud ein Rumpeln in der Küche seines Hotels. Im nächsten Moment das Splittern von Glas. Ein lautes Zischen. Maltrud, ein 69-jähriger Mann mit weißen Haaren und roten Wangen, öffnet seine Bürotür, sieht am Ende des Ganges sechs Männer, maskiert, zwei von ihnen halten Baseballschläger. Sie bemerken ihn, Maltrud schließt die Tür und drückt sich dagegen. An der Wand lehnt sein Jagdgewehr. Er überlegt kurz, dann nimmt er stattdessen den Feuerlöscher, entsichert ihn, stößt die Tür auf. Die Einbrecher sind weg. Aus der Küchentür steigen meterhohe Flammen in den Gang, am Boden liegen Ölflaschen.

Auf der Flucht schmieren die Einbrecher Strahlenwarnzeichen auf Schilder mit der Aufschrift „Technologiepark Andra“ und schmeißen die Fenster eines Nebengebäudes ein. Dann verschwinden sie ins „Haus des Widerstands“, eine alte Scheune mitten im Dorf.

„Die glauben, dass wir zur Atombehörde gehören“, sagt Michel Maltrud ein halbes Jahr später, als er von dem Vorfall erzählt. Er tappt mit dem Schuh neben das noch immer verkohlte Parkett, zeigt auf die notdürftig wiederhergestellten Fenster. Die Reparaturen ziehen sich hin, es ist zu viel zu tun für zu wenig Leute. Wie in der ganzen Region.

Maltrud läuft hastig durch den Frühstücksraum, in dem rund 60 Gendarmen sitzen, bewaffnet, in kugelsicheren Westen, die Helme auf dem Tisch abgelegt. „Zu Anfang waren hier höchstens ein paar Geologen und Physiker“, sagt Maltrud, „seit dem Brand ist die Hälfte meiner Kundschaft bewaffnet.“ Dutzende Polizisten und Gendarmen frühstücken regelmäßig bei Maltrud, essen hier zu Abend. Für das Geschäft sei das ein Segen, sagt er, „mit dem Frieden im Dorf aber ist es vorbei.“

100.000 Jahre soll der Abfall bleiben

Maltruds Hotel steht auf einem Hügel oberhalb des Dorfes Bure, im Nordosten Frankreichs, eingezwängt zwischen einem Betonwürfel des Stromanbieters EDF und einer gigantischen Testanlage der Atombehörde Andra. Hier entsteht das Atommüllendlager für die größte Atomnation der Welt: Kein Land hat mehr Atomkraftwerke pro Kopf, kein Land mehr Atomenergie im Energiemix als Frankreich.

Fast jedes westliche Land arbeitet derzeit daran, Möglichkeiten der Endlagerung für den Atommüll der letzten 50 Jahre zu entwickeln. Weltweit gibt es zwei weit im Bauprozess fortgeschrittene Endlager für hochradioaktiven Müll – Olkiluoto in Finnland, und eben Bure.

Die Endlagerkommission in Deutschland richtete ihre Suche auch nach dem Fortschritt in Frankreich aus. Ihr Abschlussbericht wurde 2016 vorgestellt. Bis 2031 muss Deutschland ein Endlager gefunden haben. Dann soll Bure schon in Betrieb sein. Weil es so einzigartig und die Menge an Atommüll in Frankreich so riesig ist, blicken andere Atombehörden genau auf diesen Ort. Und lernen aus den Problemen.

Davon gibt es in Bure genug. Und nur wenig Zeit, sie zu lösen. 2030 will die Atombehörde Andra die erste Tonne Nuklearabfall in Bure einlagern. Dort soll sie 100.000 Jahre lang bleiben. Der Präfekt des Departements, der oberste Verwaltungsbeamte, hat sich in einer Ausschreibung um das Endlager beworben. Das Dorf hat zugestimmt. Der Bürgermeister posierte stolz mit den Chefs der Atombehörde. Jetzt wird Bure belagert. In den vergangenen zwei Jahren ist eine Art Krieg zwischen Aktivisten und Polizei ausgebrochen. Die Leidtragenden sind die neunzig Einwohner, auf deren Boden der Konflikt ausgetragen wird. Die sich oft nur eines wünschen: dass alle einfach wieder verschwinden.

Ein Polizeiauto folgt in 20 Metern Abstand

Bure liegt zwischen Feldern, Wiesen und schmalen Zufahrtsstraßen, dreieinhalb Autostunden von Paris entfernt. Kurz vor der Dorfeinfahrt tauchen die ersten Polizeibusse auf, dann immer mehr. Wer hier durch will, wird kontrolliert.

Auf der brandneu geteerten Hauptstraße blitzt manchmal noch das alte Bauerndorf durch: Steinmäuerchen vor einstöckigen Häusern, Blumenkästen vor den Fenstern. Keine Geschäfte, dafür eine alte Backsteinkirche. Gleich daneben steht das „Haus des Widerstands“, mit besprühten Fenstern, bunten Transparenten, überall hängen Schilder. „Geopfertes Dorf“, „Stop Bure“. Hinter dem Haus ist eine Art Camp entstanden, Wohnwagen, Zelte, Werkbänke und ein Feuerplatz. Dutzende junge Menschen sitzen herum. Keiner will sprechen.

Beim Versuch, sich ihnen zu nähern, kann es passieren, dass man eine halbe Stunde lang von Polizisten befragt und dann des Platzes verwiesen wird: Eine neue Befugnis der französischen Polizei seit dem Gesetz gewordenen Ausnahmezustand 2014.

Auf dem Weg durch das Dorf folgt ein Polizeiauto in 20 Metern Abstand. Ein Mann mittleren Alters steht vor seinem Gartentor und erzählt, dass er gerade ausziehe. Die Aktivisten hätten herausgefunden, dass er bei Andra arbeite. Seitdem habe er keine Ruhe mehr. Ein 85-jähriger Nachbar des „Haus des Widerstands“ war am Anfang selbst Aktivist, weil er sich von Andra belogen fühlte. Dann aber seien immer mehr Leute gekommen, denen es nur um Zerstörung gegangen sei. Das müsse er in seinem Alter nicht mehr mitmachen.

Auf der Auffahrt vor der Kirche putzt ein Mann in Jogginghose sein Auto. Er berichtet, dass er einmal von der Polizei angehalten und dann wegen Waffenbesitz angezeigt wurde, weil er ein Taschenmesser und einen Tortenheber im Wagen hatte. Eine Frau erzählt, dass sie jede Nacht Schlaftabletten nehme, weil nachts ständig Helikopter über dem Dorf kreisten. Auch von Drohnen ist die Rede, mit denen zuerst die Polizei durch Bure flog, und dann die Aktivisten.

„Andra, Bombe, morgen“

Eine Mittvierzigerin, die ihren Hund spazieren führt, erzählt von Vans mit Antennen und geschwärzten Fenstern. Jedes Mal, wenn wieder einer vorbeifahre, rufe sie eine Freundin an und sage: „Andra, Bombe, morgen.“ Dann kichern sie, legen auf und schauen, was der Van so macht. Anhalten, oder besonders langsam fahren. Oder gar nichts.

Der Grund für den Ausnahmezustand liegt weniger als einen Kilometer von der Hauptstraße entfernt in 500 Metern Tiefe und sieht aus wie eine Raumstation. Drei lange Minuten braucht der Aufzug bis in die Tiefe, Statuen von Bergbauheiligen stehen am Eingang des 1,8 Kilometer langen Röhrensystems. Breit und hoch wie Autobahntunnel ziehen sie sich durch die Testanlage, Gabelstapler fahren kreuz und quer, riesige Baugeräte, in transportierbare Einzelteile zerlegt, stehen herum, Schutthaufen, daneben glattpolierte Wände mit Monitoren. Regelmäßig dringen unverständliche Worte durch die Lautsprecher und über allem liegt ein röhrendes Brummen der Belüftung.

Das Endlager in Bure, betrieben von der französischen Atombehörde Andra, soll mindestens 25 Milliarden Euro kosten. Es ist Frankreichs teuerstes Bauprojekt. Rund zwei Milliarden hat die Forschung schon gekostet, sobald ausgeforscht ist, soll der Ausbau schnell gehen. Der hochradioaktivste unter allen Nuklearabfällen soll hier versenkt werden. Nur 0,2 Prozent der Masse macht er aus, dafür hat er 98 Prozent der Radioaktivität gebunden.

Um sie zu lagern, werden die drei Meter hohen Brennelemente bis auf die Größe von Mikadostäben zerteilt, danach verspant, zu schwarzem Pulver gemahlen und mit geschmolzenem Glas übergossen, in Edelstahltonnen gepackt, mit zwanzig Zentimeter dickem Stahl ummantelt, in einen vier Quadratmeter großen Block einbetoniert und schließlich in einen gusseisernen Käfig gepresst.

30 Millionen für die „wirtschaftliche Entwicklung“

Das älteste noch bestehende Bauwerk der Menschheit, der Ggantija-Tempel, ist 5600 Jahre alt. Gusseisen kennt die Menschheit seit dem fünften Jahrhundert vor Christus, Beton seit den Römern, Edelstahl seit 1912. Keines der Materialien existiert schon so lange, wie es von jetzt an halten soll: für immer. Mindestens aber für 100.000 Jahre. „Die Wahrheit ist ja auch“, sagt Mathieu Saint-Louis, ein Sprecher von Andra, „dass es bisher keine Vorbilder gibt, an denen man sich orientieren kann.“

Diese Hybris ist der Hauptantrieb für die Gegner des Endlagers. Doch die Risiken, die der Müll mit sich bringt, sind Gold wert. Die Départements Haute-Marne und Meuse, an dessen Grenze Bure liegt, bekommen seit 1999 pro Jahr 30 Millionen Euro für die „wirtschaftliche Entwicklung“, dazu Subventionen für Gas, Wasser und Strom. Die Kommunen in einem Radius von zehn Kilometern um Bure bekommen zusätzlich jährlich 500 Euro pro Einwohner.

Die Dörfer wissen aber nicht so richtig was damit anzufangen. Und wenn es nicht ausgegeben wird, wird es gekürzt. Also versuchen die Bürgermeister, so schnell es geht, zu bauen. Bure etwa hat heute eine neue Mehrzweckhalle, neue Straßenlaternen, Kreisverkehre, Trottoirs. Und das Drei-Sterne Hotel von Michel Maltrud, das 500.000 Euro gekostet hat und mitten auf einem zukünftigen Atommüllendlager steht.

„Die Meusianer haben sich schon in Verdun geopfert“

Meuse und Haute-Marne sind noch immer im unteren Drittel der Départements Frankreichs, was das Pro-Kopf-Einkommen angeht, dafür im oberen, was Schulden, Landflucht und Bildung betrifft. Die Atombehörde versprach, diese Probleme zu lösen. Mit Geld.

Claude Kaiser, Mitte fünfzig, sitzt in seinem spärlich eingerichteten Büro in Nancy, eine Autostunde von Bure entfernt. Kaiser spricht wie ein Theaterschauspieler, laut, gestikulierend, intensiv. Er hat das als Bürgermeister eines 174-Einwohner-Dorfes nahe Bure gelernt. Er ist einer der wenigen, die von Anfang an Nein zum Endlager sagten, so etwas wie der erste Anti-Bure-Aktivist. „Die Meusianer haben sich schon bei der Schlacht von Verdun geopfert“, sagt Kaiser. „Und jetzt tun sie es wieder.“

Kaiser hat Proteste in Meuse und Haute-Marne organisiert, was schwierig war angesichts von vier Einwohnern pro Quadratkilometer. Zumal die Bewohner zunächst begeistert waren, endlich ein wichtiges Projekt hier. Atomkraft hat in weiten Teilen Frankreichs noch immer die Konnotation von Fortschritt, weniger die von Müll und Verstrahlung. Bald schon hörte der Geheimdienst Kaisers Telefon ab, was später vor Gericht bestätigt wurde. „Wer ein ruhiges Leben will“, sagt Kaiser, „sollte kein Gegner von Bure sein.“

2015 sammelten Kaiser und seine Mitstreiter Unterschriften gegen das Endlager, 60.000 von 180.000 Bürgern der Meuse und Haute-Marne unterschrieben. Ein Referendum fand nie statt, da es sich um ein nationales Projekt handelt. Nationale Abstimmungen macht das Parlament.

33 der 80 gemeldeten Bürger sind Aktivisten

Kaiser sprach mit Kollegen in Paris, die ihm sagten, er brauche mindestens 10.000 Leute auf der Straße, Sichtbarkeit, einen Protest. Unmöglich in so einer dünn besiedelten Region. „Eben deshalb wurde Bure gewählt“, sagt Kaiser. Und jene Politiker, die wie Kaiser selbst anfangs gegen das Projekt waren, wurden nach und nach abgewählt. Heute seien zumindest alle Bürgermeister der Region auf Linie mit der Atombehörde. Aus Kaisers Wut wurde Machtlosigkeit. Aus dem Protest Resignation.

„Bis Etienne Ambroselli auftauchte“, sagt Claude Kaiser. Ein berühmter französischer Anti-Atom-Anwalt, aufgewachsen im reichen Westen von Paris. Katholisch und bourgeois, arbeitete er lange Zeit am Berufungsgericht in Paris, oft an Fällen zivilen Ungehorsams. Er vertrat auch mehrfach die Menschen aus dem „Haus des Widerstands“ in Bure, das schon seit 2004 verschiedenen Anti-Atom-Vereinen gehört. 2016 begann Ambroselli, junge Aktivisten aus Frankreich, Belgien und Deutschland einzuladen.

Er mietete weitere Häuser in der Umgebung, meldete Dutzende Bewohner an und stellte sie für die Gemeinderatswahl auf. Andere Aktivisten machten es ihm nach. In Mandres-en-Barois, Bures Nachbarort, sind 33 der 80 gemeldeten Bürger Aktivisten. „Einige der jungen Leuten begannen dann, etwas muskulösere Methoden zu nutzen“, sagt Kaiser. „Ich mache ihnen keinen Vorwurf, denn sie haben, wie man das hier so sagt, die Mayonnaise zum Kochen gebracht.“

Sie besetzten ein Waldstück auf dem designierten Bauland, brachen in mehrere Gebäude von Andra ein, legten das Feuer im Hotel von Michel Maltrud. Mit jeder neuen Provokation kamen mehr Medien, mehr Aufmerksamkeit, mehr Aktivisten. Jahrelang war das Symbol des französischen Protests ein Provinzflughafen im westfranzösischen Dörfchen Notre-Dame-des-Landes. Am 18. Januar 2018, einen Tag, nachdem Präsident Emmanuel Macron die Entscheidung verkündete, das Flughafenprojekt sei gestrichen, tauchten Hunderte siegesverwöhnte Aktivisten in Bure auf, auf der Suche nach einer neuen Aufgabe.

„Uns wurden Geld und Jobs versprochen“

Bei Demonstrationen oder nach Vandalismusaktionen sind bis zu 600 Gendarmen aus ganz Frankreich in Bure, sieben Polizisten auf einen Einwohner. Alle paar Wochen eskaliert es, dann kommen die Helikopter, Drohnen. Werden Steine geworfen und Eimer mit Urin aus den Fenstern des „Haus des Widerstands“ geschüttet. Und die Bewohner? Verschließen sich in ihren Häusern.

Aus dem Fenster eines Hauses schaut eine Frau. „Wir sind enttäuscht“, sagt sie. „Uns wurden Geld und Jobs versprochen. Aber Geld brauchen wir nicht, und Jobs kommen keine.“ Andra verweise immer auf die Bauarbeiten, da würden doch Tausende neue Bewohner kommen, die brächten Geld und kauften in lokalen Geschäften, nutzten Dienstleistungen vor Ort. Das sei Unsinn, ruft die Frau.

Die Atombehörde rechnet damit, dass der Bau des eigentlichen Endlagers mindestens ein Jahrzehnt dauert. „Ein Jahrzehnt mehr mit den Aktivisten und Polizisten im Dorf, die sich gegenseitig die Köpfe einhauen“, sagt sie. Die Frau stützt sich auf das Fensterbrett, spricht, als riefe sie in eine Menge, in Richtung Polizei, oder Aktivisten, oder der Gemeinschaft, die durch das Projekt zerstört wurde. „Ich wünschte, Andra wäre nie gekommen“, ruft sie. „Ich hoffe, die Wissenschaft findet noch vor Baubeginn eine andere Möglichkeit, den Müll zu behandeln. Denn wenn das Projekt hier wirklich stattfindet, gibt es für die Menschen nur noch eines: weg aus Bure.“

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