Auschwitz-Prozess in Lüneburg: "Beihilfe zum Mord an 300.000 Menschen"
Der "Buchhalter von Auschwitz", Oskar Gröning, wird am Ende seines Lebens zu vier Jahren Haft verurteilt. Ein Anwalt kämpfte dafür, dass 300.000 NS-Opfer späte Gerechtigkeit bekommen. Er musste viele Hürden überwinden.
Am Ende reichen sie einander die Hand. Oskar Gröning, der frühere „Buchhalter von Auschwitz“, den das Landgericht Lüneburg gerade wegen Beihilfe zum Mord an mindestens 300.000 Menschen verurteilt hat. Und Thomas Walther, der Mann, ohne den der 94-Jährige noch immer unbehelligt in seinem Haus in der Lüneburger Heide sitzen würde.
Der Vorsitzende Richter hat das letzte Wort gesprochen, die anderen Anwälte packen ihre Sachen. Da geht Walther auf den Angeklagten zu. Im Verfahren vertritt der Nebenklageanwalt mehr als 50 Auschwitz-Überlebende und Angehörige von Ermordeten. Im Namen seiner Mandanten erkenne er an, was Gröning in diesem Gerichtssaal gesagt habe – das will er dem Verurteilten mit auf den Weg geben. Als Gröning den Anwalt auf sich zukommen sieht, lächelt er zum ersten Mal an diesem Tag. Dann reicht er Thomas Walther die Hand. Der Alte wirkt fast erleichtert in diesem Moment.
„So etwas gab es noch nie“, sagt Walther über den Verurteilten. So offen wie Gröning hat tatsächlich selten ein deutscher SS-Mann über das tägliche Morden in Auschwitz berichtet. Die Zuhörer hielten immer wieder den Atem an, als Gröning scheinbar ohne Mitgefühl die Vorgänge in der Tötungsmaschinerie Auschwitz beschrieb. Dabei fiel er zurück in eine Sprache, in der die Denkweise der SS aufschien. An der Rampe von Auschwitz-Birkenau sei „alles ruhig vonstatten gegangen“, sagte Gröning zu Beginn des Prozesses. Es war der Sommer 1944, als in Auschwitz in nicht einmal zwei Monaten mehr als 300 000 ungarische Juden ermordet wurden. Gröning sagte dazu: „Man rühmte sich damit, dass man in 24 Stunden 5000 Leute versorgen konnte.“
Für seine Wortwahl hat sich Gröning bei den Nebenklägern entschuldigt. Auch Richter Franz Kompisch würdigt am Mittwoch die „ehrlichen Worte“ des Angeklagten. „Die Verwendung des Jargons der SS hat uns ein Bild ermöglicht, wie damals gedacht wurde.“ Grönings Geständnis wertete Kompisch ebenso zu seinen Gunsten wie die Tatsache, dass er sich dem Prozess im hohen Alter überhaupt noch stellte.
Seit Jahrzehnten stand in Deutschland kein ehemaliger SS-Mann mehr wegen des Massenmordes in Auschwitz vor Gericht. Von 6500 namentlich bekannten SS-Leuten aus dem Lager seien bis heute 49 verurteilt worden, sagte Kompisch. „Vieles blieb ungeahndet.“ Für Thomas Walther ist die Entscheidung des Landgerichts wegweisend. „Dieses Urteil wird Rechtsgeschichte schreiben“, sagt er.
Am Tag des Urteils sitzt er wie immer Gröning gegenüber, in der langen Reihe der Juristen ist er den Staatsanwälten und dem Richtertisch am nächsten. Der 72-Jährige mit dem halblangen Haar beobachtet den Angeklagten genau, registriert jede Regung. Lange hat der frühere Amtsrichter in Lindau am Bodensee auf diesen Tag hingearbeitet. Schon 1977 war Oskar Gröning ins Visier der Justiz geraten – doch der Staatsanwalt sah keinen „hinreichenden Tatverdacht“ und stellte die Ermittlungen 1985 ein. Dabei wäre es geblieben, wenn Thomas Walther 20 Jahre später auf seine Chefs gehört hätte.
Alle dachten, es gebe keine Anklagen mehr
In der „Zentralen Stelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen“ in Ludwigsburg sagte man ihm am ersten Arbeitstag, er solle nicht glauben, noch einen Fall zur Anklage zu bringen. Walther stieß jedoch im Internet auf den Fall des SS-Wachmanns John Demjanjuk und fing an zu ermitteln. Es kam zur Anklage und zu einem Urteil. Für die deutsche Justiz war das der Anstoß, systematisch nach dem früheren SS-Wachpersonal in den Vernichtungslagern zu suchen.
Kompisch macht in seiner Urteilsbegründung noch einmal deutlich, dass Gröning aber schon lange vor dem Demjanjuk-Schuldspruch hätte verurteilt werden können. „Der Mordparagraph hat immer schon erlaubt, Beihilfehandlungen in dieser Form zu verfolgen.“ Walther sieht kurz zu dem Mann hinüber, der neben ihm sitzt: Der Nebenklagevertreter Cornelius Nestler, Strafrechtsprofessor in Köln, ist seit Jahren sein Weggefährte, wenn es darum geht, NS-Täter vor Gericht zu bringen. Die beiden nicken einander zu, der Richter hat so argumentiert, wie sie es schon lange tun. „Für mich ist das Urteil eine unglaubliche Bestätigung aller Gedanken, die wir haben konnten“, sagt Walther später.
Nach dem Demjanjuk-Urteil macht er sich systematisch auf die Suche nach den deutschen SS-Leuten, obwohl er inzwischen pensioniert ist. Er erstattet Anzeige gegen Wachleute, vertieft sich in Dokumente, schreibt Eingaben an Behörden und sucht das Gespräch mit Überlebenden. Doch die SS-Leute von damals sind nun Greise, mehrere Verfahren enden mit ihrem Tod. Walther macht trotzdem weiter. Eigenwillig, detailversessen, hartnäckig – das ist die eine Seite des Thomas Walther, die zögerliche Staatsanwälte zu sehen bekommen.
Die Auschwitz-Überlebenden und ihre Angehörigen in Ungarn und Kanada erleben eine andere Seite. Sie lernen Walther als einfühlsamen Juristen kennen, der aus Deutschland in ihre Wohnzimmer kommt, nur um ihnen zuzuhören, stundenlang, der sie einfach reden lässt. Am Ende entscheiden sich viele von ihnen, Nebenkläger im Prozess gegen Gröning zu werden. Endlich können sie vor einem deutschen Gericht die Namen ihrer ermordeten Familienmitglieder nennen. Für manche ist das eine kleine Befreiung.
"Wir haben das Recht, und die Pflicht zu klagen"
Walther hat es sich zur Aufgabe gemacht, im Namen der Überlebenden zu sprechen. In seinem bewegenden Plädoyer hat er ihnen eine Stimme gegeben:
„Wir, Überlebende von Auschwitz, haben das Recht zu klagen und für unsere ermordeten Verwandten die Pflicht zu klagen. Wir klagen über Leid und Verlust, wir klagen über unsere Einsamkeit, wir klagen über grausamstes Töten, wir klagen über die Abwesenheit eines millionenfachen Kaddisch an den Totenbetten unserer ermordeten Familien, deren Stimmen in Auschwitz verstummten. Wir klagen über die Zeit, die keine Wunden heilt, aber diese immer tiefer in unsere Seelen brennt. Wir klagen über das Schreien in uns selbst, welches wir auch heute immer noch unterdrücken, um als ,normale Menschen’ gelten zu können.“
Er hoffe, sagt Kompisch, dass die Opfer durch dieses Verfahren ein bisschen inneren Frieden finden konnten. Am Dienstag hatte der Richter verkündet, das Urteil bereits heute und nicht erst in der kommenden Woche sprechen zu wollen. An die Anreise war da nicht mehr zu denken, deshalb bleiben die Plätze der Nebenkläger am Tag des Urteils leer.
Aus Sicht der Nebenkläger war Oskar Gröning nicht nur ein „armer kleiner Unteroffizier“, wie er sich selbst einmal bezeichnet hatte. Säße er in der Uniform der SS im Gerichtssaal, würde sie noch heute vor ihm zittern, sagte die Auschwitz-Überlebende Irene Weiss.
Was hat Oskar Gröning in Auschwitz getan?
Welche Rolle hatte Oskar Gröning in der Mordmaschinerie von Auschwitz, und wie ist sie strafrechtlich zu bewerten? Macht sich auch derjenige schuldig, der niemanden in eine Gaskammer getrieben hat? Ist auch der, der das Geld der Ermordeten zählt, mitschuldig an ihrem Tod? Spielt es eine Rolle, ob er aus Auschwitz weg wollte? Das waren Kernfragen des Prozesses gegen Oskar Gröning.
In Auschwitz musste der SS-Unterscharführer das Geld der ermordeten Juden sortieren, zählen und verbuchen. Weil er in seiner niedersächsischen Heimat eine Sparkassenlehre gemacht hatte, war er für die Devisen zuständig. Manchmal brachte er das Geld nach Berlin. Vor Gericht ist er bemüht, seine eigene Tätigkeit von dem unvorstellbaren Massenmord abzugrenzen. „Während meiner Zeit in Auschwitz habe ich jedoch versucht, mich rauszuhalten und mich auf meine Tätigkeit in der Häftlingsgeldverwaltung beschränkt“, lässt er seine Anwälte erklären.
Kann man SS-Unteroffizier in Auschwitz sein und sich „raushalten“, wenn in unmittelbarer Nähe 300 000 Menschen ermordet werden? Nein, sagt das Gericht. Schon das Verwalten und den Transport des Geldes werten die Richter als Beihilfe zum Mord, weil dies zur Finanzierung der Tat beigetragen habe. „Er war ein Rad im Getriebe.“ Auch an der Rampe von Auschwitz-Birkenau war Gröning im Einsatz, „wie oft, darauf kommt es nicht an“, betont Kompisch. „Herr Gröning, Sie können nicht sagen, Sie hätten das Leid der Menschen nicht gesehen.“ Indem er das Gepäck bewachte, habe er geholfen, den „reibungslosen Ablauf der Vernichtung“ zu sichern.
"Der anständige SS-Mann"
Gröning hatte vor Gericht eine innere Distanz zum Mordgeschehen in Auschwitz geltend gemacht. Er will mehrfach um Versetzung an die Front gebeten haben. Doch das nimmt der Vorsitzende ihm nicht ab: „Ich will Sie nicht als feige bezeichnen, aber Sie haben sich für den sicheren Job am Schreibtisch entschieden.“ Aus Walthers Sicht hat sich Gröning in der Nachkriegszeit ein Selbstbild geschaffen, mit dem er leben und das er seiner Familie präsentieren konnte: „So bewahrt Herr Gröning sich nach außen das Bild vom innerlich ,anständigen’ SS-Mann, der nie in Auschwitz bleiben und stattdessen mutig in den wirklichen Krieg an der Front wollte.“
Auschwitz sei für Oskar Gröning im Krieg der „sicherste Ort“ gewesen. Vor vielen Jahren hatte Gröning das selbst zugegeben, in Aufzeichnungen, die für seine Familie bestimmt waren: Nachdem er erklärt, wie die SS-Vorgesetzten ihn an seine Pflicht erinnerten, schreibt er weiter: „Was sollte ich diesen Ermahnungen entgegensetzen? Und, wollte ich das eigentlich? Es ist doch wirklich einfacher, seinen Dienst, der nicht unmittelbar im Töten von Juden bestand, in einem Büro zu tun, als heldenhaft an der Front zu schießen und dafür wieder beschossen zu werden.“
Der Prozess könnte nun Oskar Grönings Selbstbild ins Wanken gebracht haben. So stimmte er in seinem letzten Wort dem Satz des Strafrechtsprofessors Nestler zu, wonach Auschwitz ein Ort war, „an dem man nicht mitmachen durfte“. Ganz am Ende des Prozesses spricht er endlich die Worte, auf die viele Nebenkläger gewartet haben: „Es tut mir ausdrücklich leid“, sagt Gröning mit brüchiger Stimme. Den Angeklagten hat der Prozess schwer belastet, körperlich und psychisch. Er hoffe, dass Gröning mit diesem Prozess für sich einen „Schlussstrich“ ziehen könne, sagt Kompisch am Ende. Dass der 94-Jährige, der den Saal mit einem Rollator verlässt, seine vierjährige Haftstrafe tatsächlich antreten muss, gilt als wenig wahrscheinlich.
War das nun der letzte NS-Prozess? Davon will Thomas Walther nicht reden. Noch nicht. Er denkt nicht daran, sich nun zur Ruhe zu setzen. „Ich habe keine Lust, Rosen zu züchten“, sagt er mit einem Lächeln – und erzählt dann von einem neuen Fall von NS-Verbrechen. Solange es noch einen Täter geben könnte, kann Walther einfach nicht aufhören.
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