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Im Vorhof der Hölle: Die Brüder von Irene Weiss, Reuven (links) und Gershon Fogel (2. von links), und hinter ihnen sitzend ihre Mutter Leah am Tag ihrer Ankunft in Auschwitz-Birkenau. Wenig später wurden all diese Menschen in den Gaskammern ermordet.
© Auschwitz-Album/privat

Auschwitz-Prozess gegen Oskar Gröning: "Das Schmerzhafteste war es, das Morden mit anzusehen"

Im Lüneburger Prozess gegen den „Buchhalter von Auschwitz“ haben Angehörige von Ermordeten ausgesagt. Angesichts einer unvorstellbaren Tat geben sie den getöteten Menschen ihre Individualität zurück. Und beschreiben Szenen, die die Überlebenden ihr ganzes Leben begleitet haben.

Nur ein Zaun trennte Irene Weiss vom absoluten Grauen. Das Schlimmste, sagt die 84-Jährige, war nicht das, was man ihr selbst angetan hat in Auschwitz. „Das Schmerzhafteste war es, das Morden mit anzusehen.“ Acht Monate verbrachte Irene Weiss als Häftling in Auschwitz-Birkenau, dem Ort, der wie kein anderer für den Holocaust steht. Direkt hinter dem Elektrozaun, der den Lagerbereich umgab, in dem Weiss inhaftiert war, lagen die Gaskammern und die Krematorien. „Ich wurde Zeugin des Mordes an Frauen, Kindern und Männern. Ich wurde Zeugin, als der Rauch aus den Schornsteinen kam.“

Um vor Gericht über einen unvorstellbaren Massenmord zu sprechen, ist Irene Weiss aus den USA nach Lüneburg gereist. Dort steht Oskar Gröning, der frühere „Buchhalter von Auschwitz“, wegen Beihilfe zum Mord an mindestens 300 000 Menschen vor Gericht. Irene Weiss ist eine von mehr als 60 Nebenklägerinnen und Nebenklägern in diesem Prozess. Einige haben in den vergangenen Wochen als Zeugen vor dem Landgericht Lüneburg ausgesagt.

Die ergreifenden Berichte der Zeugen machen in einem Prozess, in dem ein Verbrechen unfassbaren Ausmaßes verhandelt wird, einzelne Schicksale wieder sichtbar. Sie geben einigen der Ermordeten ihre Individualität und ihre Lebensgeschichte zurück. Ein halbes Jahrhundert nach den Frankfurter Auschwitz-Prozessen finden in einem deutschen Gerichtssaal noch einmal Menschen Gehör, die das nationalsozialistische Vernichtungslager überlebten und über die Schrecken von Auschwitz berichten können.

Andere Nebenkläger wie die aus dem kanadischen Montreal angereiste Elaine Kalman Naves wurden erst nach Kriegsende geboren. Sie haben die Verfolgung der Juden, die Deportationen und die Todeslager nicht selbst erlebt, legten aber vor Gericht Zeugnis darüber ab, wie stark noch die zweite Generation durch den Holocaust geprägt wurde. Es sind Geschichten darüber, wie sehr nie gekannte Menschen zur Leerstelle im eigenen Leben werden können. Die Generation derer, die den Holocaust überlebten, hatte noch Jahrzehnte nach der Befreiung Schwierigkeiten, darüber zu sprechen.

Irene Weiss brauchte dafür ein Vierteljahrhundert. Über Auschwitz reden kann sie nur, indem sie innerlich zu dem Erlebten auf Abstand geht. „Da ist eine kleine Distanz, sodass ich darüber sprechen kann“, sagte sie in Lüneburg. „Meine Augen haben es gesehen, aber ich kann das nicht ganz verarbeiten.“

Irene Weiss kommt als 13-Jährige nach Auschwitz

 In den Lüneburger Gerichtssaal brachte die 84-jährige Nebenklägerin Irene Weiss ein Foto mit, das sie als 13-Jährige kurz nach der Ankunft in Auschwitz zeigt. Ihre Eltern Leah und Meyer Fogel und ihre Geschwister Moshe, Edit, Gershon und Reuven wurden in Auschwitz ermordet. Nur Irene und ihre Schwester Serena überlebten den Holocaust.
In den Lüneburger Gerichtssaal brachte die 84-jährige Nebenklägerin Irene Weiss ein Foto mit, das sie als 13-Jährige kurz nach der Ankunft in Auschwitz zeigt. Ihre Eltern Leah und Meyer Fogel und ihre Geschwister Moshe, Edit, Gershon und Reuven wurden in Auschwitz ermordet. Nur Irene und ihre Schwester Serena überlebten den Holocaust.
© AFP

Eines Tages erkannte sich Irene Weiss selbst auf einem Bild, das ein SS-Mann auf der Rampe in Birkenau aufgenommen hatte. Eine ganze Serie von Fotos ist im sogenannten Auschwitz-Album erhalten. Das Foto, auf dem sich Weiss wiederfand, entstand am 26. Mai 1944 kurz nach der Ankunft eines Zuges aus Ungarn. In diesen Viehwaggons waren auch die damals 13-jährige Irene, ihre Eltern und ihre fünf Geschwister. Auf dem Foto ist die Selektion an der Rampe zu sehen, SS-Männer, die die ankommenden Juden in zwei Reihen einteilen. Die einen wurden direkt in die Gaskammern geschickt, die wenigen anderen ins Lager zum Arbeiten. Links vorne im Bild steht ein junges Mädchen mit Kopftuch und in einem viel zu großen Wintermantel. Als der Zug in Auschwitz ankam und die Mutter hörte, dass sie das Gepäck im Waggon zurücklassen sollten, gab sie den Kindern schnell einige warme Sachen zum Überziehen.

Der Mantel und das Kopftuch ließen sie älter aussehen als ihre 13 Jahre, glaubt Irene Weiss heute. Bei der Selektion wurde sie deshalb zu denen geschickt, die noch ein wenig weiterleben sollten, um Sklavenarbeit zu leisten. Ihre Mutter und die kleinen Geschwister schickte der SS-Mann zur anderen Seite. Auf dem Foto ist zu sehen, dass Irene den Kopf zur Seite dreht, als suche sie jemanden. Sie habe nachschauen wollen, ob ihre kleine Schwester die Mutter gefunden habe, aber sie in der Menge nicht entdecken können, sagt sie

Irene und die 17-jährige Schwester kamen ins Lager Auschwitz-Birkenau. Ihre Aufgabe war es in den folgenden acht Monaten, die Kleidung, die Schuhe, das Gepäck der Ermordeten zu sortieren. Diesen Lagerbereich nannten die Häftlinge „Kanada“, weil es dort alles im Überfluss zu geben schien. Eines Tages fand Irene Weiss das Kleid ihrer eigenen Mutter. Schon am ersten Tag hatten sie und ihre Schwester andere Häftlinge gefragt, wann sie endlich ihre Familien wiedersehen würden. Eine Gefangene zeigte auf den Rauch, der aus einem Schornstein kam, und sagte: „Da ist eure Familie.“

Irene Weiss entdeckt auf einem Bild aus Auschwitz ihre Brüder und ihre Mutter

Im Auschwitz-Album entdeckte Irene Weiss noch ein anderes Foto. Es zeigt ihre kleinen Brüder Reuven und Gershon, und hinter ihnen, auf dem Boden sitzend, die Mutter. Gemeinsam mit anderen deportierten Juden warteten sie in einem Wäldchen darauf, ins Lager gebracht zu werden. Doch dieses Wäldchen lag direkt neben einer der Gaskammern. Alle Menschen auf diesem Foto wurden kurz nach der Aufnahme ermordet.

Das alles hat Irene Weiss dem Gericht und dem Angeklagten sagen wollen. Doch an dem Tag, für den ihre Aussage geplant war, kam Gröning nicht aus dem Bett. Zu schwach und zu gebrechlich sei er gewesen, hieß es später. Sie wisse, dass er alt sei, dass er wohl nicht ins Gefängnis gehen werde, sagt Weiss. „Aber er soll unsere Zeugenaussagen hören“, betont sie. Die 84-Jährige wünscht sich, dass Gröning mehr sagt als das, was er bisher gesagt hat, dass er sich vielleicht sogar entschuldigt. Ihre Zeugenaussage soll nun an einem der nächsten Prozesstage verlesen werden, sie ist bereits in die USA zurückgereist.

Dagegen konnte die kanadische Nebenklägerin Kathleen Zahavi ihre Geschichte selbst erzählen, der Angeklagte saß ihr schräg gegenüber. Ihr Auftritt vor Gericht zeigt, wie schwer dieser Schritt für die Nebenkläger ist. Immer wieder macht die 86-Jährige eine kurze Pause, ringt um Fassung, spricht dann mit Tränen in den Augen weiter. Sie schildert die Fahrt im Viehwaggon, aus dem bei jedem Halt die Toten herausgeworfen wurden, und das Gebell der deutschen Schäferhunde auf der Rampe in Auschwitz, das ihr bis heute in den Ohren klingt. Auch ihr hat eine Mitgefangene den Rauch aus den Schornsteinen gezeigt und gesagt: „Da sind deine Eltern.“ Diese Antwort habe sie ihr ganzes Leben lang verfolgt, sagt Kathleen Zahavi.

Ihr Anwalt Thomas Walther legt den Arm um sie und fragt leise, ob sie eine Pause brauche. Nein, nein, es geht schon, flüstert sie.

"Herr Gröning, warum durften Sie als freier Mann alt werden?"

Die Auschwitz-Überlebende Kathleen Zahavi.
Die Auschwitz-Überlebende Kathleen Zahavi.
© dpa

Zum ersten Mal in ihrem Leben ist sie in Deutschland, zum ersten Mal seit der Befreiung sitzt sie einem früheren SS-Mann gegenüber. Ihr sei es wichtig gewesen, Gröning ins Gesicht zu sehen, sagt Kathleen Zahavis Sohn Michael, der sie an diesem schweren Tag begleitet. In ihrer Aussage spricht sie den Angeklagten direkt an: „Herr Gröning, Sie haben zugegeben, moralisch verantwortlich zu sein, und Sie sagen, Sie bedauern, was Sie getan haben, aber das ist nicht genug.“ Er habe sich freiwillig zur SS gemeldet. „Ja, Sie sind jetzt 93, aber Sie müssen die Last tragen, die Sie sich als junger Mann selbst geschaffen haben.“ Er habe gewusst, was in Auschwitz passierte, und mitgemacht beim Morden. „Ich hoffe, dass Sie sich für den Rest Ihres Lebens an diese entsetzlichen Bilder erinnern werden.“

Auch Kathleen Zahavi, Irene Weiss und andere Nebenkläger, nur wenig jünger als der Angeklagte, werden diese Bilder nicht los. Den Tag, an dem ihr Leben zerstört wurde, könne sie niemals aus ihrem Gedächtnis tilgen, sagt Zahavi vor Gericht. Wieder wendet sie sich an den Angeklagten: „Warum durften Sie nach den Gräueltaten, die Sie mit ansahen und an denen Sie beteiligt waren, als freier Mann alt werden? Meine Eltern hatten nie die Chance, alt zu werden wie Sie. Bei meiner Hochzeit sind sie nicht an meiner Seite gegangen, sie waren nicht einmal dabei. Sie hatten nie die Chance, die Freude zu erleben, Großeltern zu sein. Meine Kinder hatten nie das Privileg, Großeltern zu haben. Nach der Befreiung war ich frei, aber nicht auf die gleiche Art wie Sie. Ich hatte meine Eltern verloren, meine geliebte Schwester Ilona, praktisch alle meine Cousins und Cousinen, meine Tanten und Onkel und alle meine Kindheitsfreunde.“ Mehr als 100 Angehörige von Kathleen Zahavi überlebten den Holocaust nicht.

Letzte Ehre für die ermordeten Familienmitglieder

Während ihrer Aussage blickt sie mehrmals zu Gröning hinüber. An ihn ist die Botschaft gerichtet, dass sie weder vergessen noch vergeben kann. Gröning sieht sie jedoch nicht direkt an. Er trägt Kopfhörer, über die ihm die anklagenden Worte ganz nahe kommen, allerdings vermittelt durch die neutrale Stimme des Übersetzers. „Sein Gesichtsausdruck hat sich nicht geändert“, sagt Kathleen Zahavi später.

Warum sie sich das alles antut und als Nebenklägerin an diesem Prozess teilnimmt?

Kathleen Zahavi betont, immer noch sichtlich ergriffen, dass das nicht irgendeine Geschichte aus einem Buch sei, sondern ihr wirkliches Leben. Davon will sie berichten. Ihr Sohn Michael berührt sie sanft am Arm. „Weißt du noch, was du zu mir gesagt hast, als wir im Bus hierhergefahren sind, zum Gericht? Warum du das tust?“ Kathleen Zahavi nickt, in ihren Augen schimmern Tränen. „Um meine Familie zu begraben.“

Gräber, an denen die Angehörigen um die in Auschwitz Ermordeten trauern könnten, gibt es nicht. Zeugnis abzulegen, die Namen der Familienmitglieder vor Gericht und der deutschen Öffentlichkeit zu nennen, die Erinnerung wachzuhalten, ist für die Überlebenden das Einzige, was sie tun können.

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