Auschwitz-Prozess: „Es ist die Gegenwart, die wir bewältigen müssen“
Das Urteil im Lüneburger Auschwitz-Prozess gegen Oskar Gröning ist gefallen: vier Jahre Haft für den früheren SS-Buchhalter. Lesen Sie hier das Plädoyer von drei Nebenanklagevertetern.
Vor dem Landgericht Lüneburg wird gegen den 94-jährigen Oskar Gröning verhandelt. Der Buchhalter der SS im Vernichtungslager Auschwitz ist der Beihilfe zum Mord in mehr als 300 000 Fällen angeklagt. An diesem Mittwoch soll das Urteil fallen. Die Rechtsanwälte Ernst Freiherr v. Münchhausen, Onur Özata und Mehmet Gürcan Daimagüler vertreten einige der Nebenkläger. Wir drucken – in leicht gekürzter Form – das Plädoyer, das Daimagüler im Namen seiner beiden Kollegen am Dienstag in Lüneburg gehalten hat.
Wir wurden in den vergangenen Wochen und Monaten oft gefragt: Was soll dieses Verfahren? Was soll das bringen, nach so langer Zeit? Wieso zerrt man einen alten Mann vor Gericht? Auf diese Fragen könnten wir viele Antworten geben. Wir könnten juristische Argumente vorbringen. Wir könnten über Sinn und Unsinn von Generalprävention oder Spezialprävention sprechen. Aber ich sage nur eines: Dieses Verfahren musste stattfinden, weil es für unsere Mandanten wichtig ist. Es ist wichtig, damit unsere Mandanten Schlaf in der Nacht finden. Dieses Verfahren ist wichtig, damit sie vielleicht etwas Frieden finden, jetzt am Ende ihres Lebens. Unsere Mandanten wollen dieses Verfahren, sie wollen das Urteil eines deutschen Gerichts. Sie wollen, dass Zeugnis abgelegt wird.
Dieses Verfahren ist aber auch von großer Wichtigkeit für unser Land. Wer wollen wir sein? In welcher Gesellschaft möchten wir leben? Wollen wir vergesslich sein oder wollen wir Verantwortung übernehmen? Wollen wir den scheinbar einfachen Weg gehen oder den Weg der Wahrhaftigkeit?
Ich vertrete György Schwarc aus Budapest. Seine Schwester Ewa wurde in Auschwitz ermordet. Sie war fünf Jahre alt, als ihr Leben ausgelöscht wurde. Mein Mandant war sieben Jahre alt, als er um ein Leben mit seiner innig geliebten Schwester betrogen wurde. Es vergeht kein Tag, an dem er nicht an sie denken muss.
Ungezählte Menschen in den Lagern wurden um ihr Leben betrogen
Claire Parker ist die Mandantin meines Kollegen Ernst v. Münchhausen. Sie war 12 Jahre alt, als sie nach Auschwitz verschleppt wurde. Claire Parker hat die Hölle von Auschwitz überlebt und ein Leben im Schatten des Todes führen müssen. Das Leben bestand auch aus Sprachlosigkeit, einem Schweigen über das Grauen, obwohl sie jahrelang mit ihrem Vater zusammenlebte, der das Grauen der Zwangsarbeit in Bergen-Belsen überlebt hatte. Sie konnten nicht sprechen, also schwiegen sie.
György A. war 13, als er aus dem Leben eines Jugendlichen gerissen und nach Auschwitz verschleppt wurde. Er ist der Mandant meines Kollegen Rechtsanwalt Onur Özata. Herr A. lebt in Ungarn und möchte nicht, dass sein Name zitiert wird. Zu sehr fürchtet er Angriffe durch Antisemiten. Das muss man sich einmal vorstellen: Ein alter Mensch, der das Grauen der Schoah überlebt hat, muss im Jahre 2015 um sein Leben fürchten, mitten in Europa, weil Antisemiten ihn bedrohen.
György wurde zusammen mit seiner Familie nach Auschwitz deportiert. In diesem Waggon war auch sein bester Freund. Er verdurstete während dieser Fahrt. Die Menschen in diesem Waggon waren eng zusammengepfercht. György musste zwei Tage lang auf der Leiche seines besten Freundes sitzen. Es war der Mut und die Menschlichkeit eines KZ-Verschleppten, dass er nicht wie die anderen Kinder seines Transports direkt von der Rampe in die Gaskammern geschickt wurde. Beim Verlassen der Viehwaggons zischte dieser ihm zu: 15! 15! Auf die Frage eines SS-Mannes wie alt er sei, antwortete er: „Ich melde gehorsamst, ich bin 15 Jahre alt.“ Es war diese Lüge, die sein Leben rettete. Seine Mutter und seine Großmutter überlebten die Vernichtungsmaschinerie von Auschwitz nicht.
Ewa, György, Claire und ungezählte andere Kinder, an deren Namen heute oft nichts und niemand erinnert, als hätte es sie nie gegeben, all diese Kinder wurden um ein Leben betrogen, in dem sie unbeschwert hätten Liebe erfahren und Liebe hätten geben können.
Gerecht wäre es auch, wenn wir Deutschen unserer eigenen Sprache aufmerksam zuhören würden, wirklich zuhören. Was soll das Gerede von den „Verbrechen in deutschem Namen“? Es waren keine Verbrechen in „deutschem Namen“: es waren Verbrechen von Deutschen, begangen an ihren Nachbarn, an ihren Vereinskameraden und ihren Kollegen. Es waren deutsche Verbrechen an unschuldigen Menschen.
Was soll das Gerede von den „Auschwitz-Häftlingen“? Die Menschen in den Lagern waren keine „Häftlinge“. Sie hatten nichts verbrochen. Sie hatten kein Verbrechen begangen. Sie waren nicht in Haft. Es waren unschuldige Menschen.
Was soll das Gerede von der „Entmenschlichung“ der Opfer durch die Deutschen? War es nicht umgekehrt der Fall? Sind nicht die Toten und die Überlebenden bis zum Schluss Mensch geblieben, während die Täter aufgehört hatten, Mensch zu sein? Wir sollten den Überlebenden aufmerksam zuhören. Von ihnen können wir viel über das Menschsein und das Menschbleiben lernen.
Dieses Verfahren wird keine Gerechtigkeit und keinen Rechtsfrieden herstellen, das wissen auch unsere Mandanten. Unsere Mandanten leiden jedoch nicht nur an dem Verlust ihrer Liebsten. Sie leiden auch darunter, dass wir in einer Zeit leben, in der die Schoah verharmlost, relativiert oder schlicht bestritten wird.
In München findet in unserer Zeit der NSU-Prozess statt. Ich vertrete dort die Familien zweier türkischer Mordopfer, die von Nazis umgebracht worden sind. In München sitzen Antisemiten auf der Anklagebank, die in Schrift und Tat Mordfantasien über Juden und Migranten propagiert haben, aber zugleich von der „Auschwitzlüge“ schwadronieren. Es sind auch Freunde und Bekannte der Angeklagten, die als Zeugen auftreten und ähnlicher Geisteshaltung sind.
Das sind nicht nur traurige Einzelfälle. Wenn in Dresden Tausende auf die Straße gehen und von dem „Bomben-Holocaust“ im Zweiten Weltkrieg skandieren, was sonst als eine Relativierung der Schoah schreien sie dort in die Nacht?
Primo Levi sagte einst über die Schoah: „Wir können es nicht verstehen. Aber wir können und wir müssen verstehen, woher es entsteht, und wir müssen wachsam bleiben. Wenn es schon unmöglich ist zu verstehen, so ist doch das Wissen notwendig. Denn das Bewusstsein kann wieder verführt und verdunkelt werden: auch das unsere.“ Dieses Verfahren bot eine der letzten Gelegenheiten, die Überlebenden zu Wort kommen zu lassen. Sie konnten Zeugnis ablegen. Sie konnten uns Deutschen dabei die Möglichkeit geben, in den deutschen Abgrund zu schauen auch auf die Gefahr hin, dass der Abgrund zurückblickt. Es liegt an uns Deutschen, diesen Abgrund anzunehmen, der Wahrheit ins Auge zu schauen und daraus Verantwortung zu übernehmen. Verantwortung für uns, für unsere Taten, für die Frage, wie wir heute mit Minderheiten umgehen, wie wir die Schwachen und die Armen in unserer Welt behandeln.
In diesen Tagen machen sich abertausende Menschen aus Kriegs- und Krisengebieten zu uns auf den Weg nach Europa. Abertausende ertrinken, verhungern und verdursten auf diesem Weg, vor unseren Augen. Wie steht es um unser Menschsein? Was haben wir aus unserer Geschichte gelernt, wenn wir Mauern bauen um unsere Grenzen und um unsere Herzen? Wie sprechen wir denn heute über Juden und Muslime?
Unsere Vergangenheit ist unsere Vergangenheit ist unsere Vergangenheit. Sie war, sie ist und sie wird sein. Sie bedarf keiner Neuinterpretation, keiner Relativierung. Sie bedarf keines Historikerstreits. Wir können unsere Vergangenheit nicht bewältigen. Es ist unsere Gegenwart, die wir bewältigen müssen im Schatten unserer Vergangenheit. Unsere Vergangenheit anzunehmen bedeutet, aus ihr zu lernen und unsere Gegenwart mit Mitmenschlichkeit und Anstand zu bewältigen.
Oskar Gröning sitzt heute alleine auf der Anklagebank. Es waren aber Zehn- und Hunderttausende, die Teil der Mordmaschinerie waren. Es waren Millionen Deutsche, die von dem Morden wussten und vom Morden profitierten. Viele unserer Väter und Mütter und viele unserer Großeltern haben mitgemacht beim Morden, beim Rauben und beim Plündern.
Wir erkennen die Mühen der hiesigen Staatsanwaltschaft um Gerechtigkeit an. Sie hat versucht wiedergutzumachen, was niemals wiedergutgemacht werden kann. Die Schuld, die wir Deutschen auf uns geladen haben, kann nicht abgetragen werden. Schuldig gemacht haben sich auch die deutsche Nachkriegsjustiz und die Nachkriegspolitik.
Unsere Justiz und unsere Politik haben dafür gesorgt, dass die große Masse der Mörder und ihrer Helfershelfer davonkamen und ihre Taten ungesühnt blieben. Dass das Versagen der Justiz nun nach Ansicht der Staatsanwaltschaft in diesem Verfahren dazu beitragen soll, dass es eine Strafmilderung für den Angeklagten gibt, entbehrt nicht einer bitteren, ja grausamen Ironie. Die Tatsache der stillschweigenden und jahrzehntelangen faktischen Strafvereitelung darf jetzt nicht Grundlage für eine Strafmilderung sein, das ist unsere feste Überzeugung. Für das Versagen unserer Politik und unserer Justiz gilt: es mag viele Gründe geben, aber bestimmt keine Rechtfertigung für ein Verhalten, dessen Fundament aus Vergessen-Wollen, Schlussstrich-Ziehen und Vertuschen bestand. Was den Umgang mit der Schoah angeht, ist die Ungerechtigkeit ein Meister aus Deutschland.
Unser Versagen der Vergangenheit hat uns eine große Bürde für unsere Gegenwart und für unsere Zukunft auferlegt. Wie wollen wir die jungen Nazis entschlossen bekämpfen, wo wir doch so nachsichtig mit den alten Nazis waren?
Es gab viele Grönings, ohne sie wäre es nie zur Shoa gekommen
Oskar Gröning ist nach unserer Ansicht schuldig der Beihilfe zum Mord. Er half, den hunderttausendfachen Mord an unschuldigen Menschen zu organisieren und durchzuführen. Es gab viele Oskar Grönings, ohne sie wäre die industrielle Vernichtung von Millionen von Menschen unmöglich gewesen.
Während die Lagerinsassen Hunger litten, aß er die gestohlenen Lebensmittel der Verschleppten. Dass er „nur“ Teil einer großen Maschinerie war, mindert nicht seine Schuld. Dass Taten wie die seine jahrzehntelang ungesühnt blieben, sollte allenfalls unsere Scham vergrößern, unsere persönliche Scham, die Scham unserer Justiz und die Scham unserer Politik. Mitleid mit dem Angeklagten?
Ja, er ist ein gebrechlicher, ein alter und ein schwacher Mann. Wir sollten aber eines nicht vergessen: Wer hatte Mitleid mit den schwachen und wehrlosen Menschen an den Rampen von Auschwitz? Wer hat sich dieser Menschen erbarmt? Niemand. Nicht Oskar Gröning und nicht seine Komplizen.
Und wir fragen den Angeklagten Oskar Gröning: Haben Sie wirklich alles unternommen, um sich dem Morden zu entziehen? Müssen wir nicht in Anbetracht des Schreckens von einem Menschen erwarten, alles zu tun, um einer Beteiligung an diesem Schrecken zu entkommen?
Von Imre Kertész stammt der Satz: „Seit Auschwitz ist nichts geschehen, was Auschwitz aufgehoben, was Auschwitz widerlegt hätte.“ Auch und gerade nach diesem Verfahren ist diesem Satz nichts hinzuzufügen.
Mehmet Gürcan Daimagüler
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