Großbritannien vor dem Brexit: Bei Nordiren und Iren wächst die Angst
Kontrollen, Zölle – und die Frage von Krieg und Frieden: Eine Reise über eine verunsicherte Insel.
Die Wunden, die der Bürgerkrieg geschlagen hat, sind noch frisch. Manche befürchten, sie könnten wieder aufreißen, wenn die noch so junge Freizügigkeit zwischen Irland und Nordirland wieder Vergangenheit sein wird. Fassungslos verfolgen viele Iren den Brexit-Kurs des britischen Premierministers Boris Johnson. Einig sind sich Menschen in beiden Ländern heute vor allem: in ihrer Sorge. Ein Besuch.
DUBLIN, AUSSENMINISTERIUM
Im Dubliner Außenministerium empfängt der Chef des Hauses, Simon Coveney. Draußen regnet es dermaßen, dass sämtliche Irland-Klischees bestätigt werden. Drinnen im „Italian Room“ strahlen Leuchter hellrosa Kacheln an. Der 47-jährige Coveney verfolgt das Gezerre um den Brexit in seinem Amt als irischer Außenminister seit mehr als zwei Jahren.
Dreimal lehnte das Britische Unterhaus damals den Austrittsvertrag ab, weil viele Brexit-Hardliner den so genannten Backstop, die Garantieklausel für Nordirland, nicht hinnehmen wollen. Sie besagt, dass Nordirland so lange weitgehend im EU-Binnenmarkt bleibt, bis eine dauerhafte Lösung geschaffen ist.
Das Gesicht des irischen Chefdiplomaten Coveney wird sehr ernst, als er auf Boris Johnson zu sprechen kommt. Mit seiner Forderung, die Garantieklausel zu streichen, die einen zollfreien Warenverkehr über die innerirische Grenze sicherstellt, habe der Regierungschef in London „ein sehr viel größeres Problem geschaffen“, erklärt er.
Wegen Johnsons hartem Kurs werde es nun „extrem schwer“, eine Lösung zu erzielen. Möglicherweise ist es einfach nur Zweckoptimismus, als Coveney noch sagt: „Es ist möglich, einen Deal hinzubekommen, aber das hängt von der britischen Regierung ab.“
Johnson hat vor der jüngsten Diplomatie-Initiative in Brüssel vorgeschlagen, dass Nordirland die EU-Zollunion verlassen soll. Damit nach dem Brexit die innerirische Grenze trotzdem nicht wieder hochgerüstet werden muss, sieht der Vorschlag Überprüfungen der Güter abseits der Grenze vor. „In diesem Fall wird es keinen Deal geben“, sagt Coveney.
Was in der Regierungszentrale von Dublin in diesen Tagen zum Brexit gedacht und gesagt wird, ist ausschlaggebend für die gesamte EU. Die Gemeinschaft der verbleibenden 27 Staaten hatte den Backstop ersonnen, um den Bedürfnissen des EU-Mitglieds Irland Rechnung zu tragen.
Die Regierung in London hat im Laufe der Brexit-Gespräche immer wieder darauf spekuliert, dass die übrigen EU-Staaten die Interessen der Iren am Ende ignorieren würden, um einen Deal mit Großbritannien zu ermöglichen. Doch bis heute zeigt sich die EU solidarisch mit Dublin.
DUBLIN, „EUROPE HOUSE“
Joe Healy hat eine Farm mit 100 Milchkühen in Galway an der irischen Westküste. Mit der Milch der irischen Kühe hat ein anschauliches Beispiel zu den Folgen des Brexit zu tun, das er im „Europe House“, dem Sitz der Vertretung der EU-Kommission in Dublin, erzählt. Healy ist es gewohnt, über Großbritanniens EU-Austritt zu reden, denn seit mehr als drei Jahren macht er als Präsident des irischen Bauernverbandes eigentlich fast nichts anderes. „Es gibt keine Sitzung, bei welcher der Brexit nicht im Mittelpunkt steht“, sagt er.
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Healys Beispiel lautet folgendermaßen: Zu den Produkten, die der Londoner Getränkehersteller Diageo produziert, gehört auch ein bekannter irischer Sahnelikör. Ein wesentlicher Bestandteil des Likörs ist die Milch irischer Kühe. Sie wird über die innerirische Grenze von der Republik Irland Richtung Norden transportiert und dort weiterverarbeitet.
Bevor der Sahnelikör im Süden Irlands wieder exportfertig ist, überschreitet die Spirituose während des Produktionsvorgangs insgesamt fünf Mal die Grenze. Angesichts dieser Realitäten hat Healy für Johnsons Plan, an ausgewählten Punkten Zollkontrollen auf der grünen Insel einzuführen, nur ein Wort übrig: „Rubbish“, Blödsinn.
Das beste Szenario, auf das Healy beim Brexit hoffen kann, sieht so aus, dass die Brexit-Entscheidung der Briten vom Juni 2016 rückgängig gemacht wird oder Großbritannien nach dem Austritt zumindest in der Zollunion mit der EU bleibt.
Der irische Agrarsektor, den Healy vertritt, ist vom freien Handel mit Großbritannien abhängig. Zwar haben beispielsweise Käsehersteller bereits damit begonnen, neue Märkte auf dem Kontinent zu erschließen. Vor allem die Bauern, die Rinder auf ihrer Weide stehen haben, bleiben aber weiterhin zu einem großen Teil auf die Konsumenten in Glasgow, Liverpool oder London angewiesen.
Die Hälfte des Rindfleischs, das in der Republik Irland produziert wird, geht ins Vereinigte Königreich. „Die irische Rindfleischproduktion würde einen No-Deal-Brexit nicht überleben“, lautet Healys trauriges Fazit.
GRENZE, SÜDLICH VON NEWRY
Man merkt es kaum, wenn man südlich von Newry über die innerirische Grenze fährt. Im Süden der Insel werden die Entfernungsangaben noch in Kilometern angegeben, in Nordirland gelten die Angaben hingegen in Meilen. Die hügelige Landschaft rund um Newry gehört zur nordirischen Grafschaft Armagh, die während des Bürgerkriegs den Spitznamen „Banditenland“ hatte.
Immer wieder schlugen dort Mitglieder der Terrororganisation „Irisch Republikanische Armee“ (IRA) zu. Mit ihren Anschlägen wollten sie die Vereinigung des Nordens und des Südens herbeibomben.
An einem Grenzflüsschen steht im schwarzen Anzug und mit rot-blau gemusterter Krawatte der Dubliner Diplomat Peadar Carpenter. Der 60-Jährige kann sich noch gut daran erinnern, dass nationalistische Terroristen regelmäßig vom Süden über die Grenze nach Nordirland kamen, um Anschläge auf britische Soldaten und protestantische Zivilisten zu verüben. Carpenter zeigt in Richtung Südosten: „Dort haben am selben Tag wie Lord Mountbatten 18 britische Soldaten ihr Leben verloren.“
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Im August 1979 gerieten sie in einen tödlichen Hinterhalt der Terrororganisation IRA, es war der schrecklichste Anschlag auf Militärangehörige während des Bürgerkrieges. Fast zur gleichen Zeit wurde Lord Louis Mountbatten auf seiner Yacht vor der irischen Westküste durch einen ferngesteuerten Sprengsatz getötet. Auch dieses Attentat auf den letzten britischen Vizekönig in Indien ging auf das Konto der IRA.
Gleichzeitig ist die schmale Straße am Grenzflüsschen, an der Carpenter die Geschichten vom Bürgerkrieg erzählt, ein Sinnbild für die Folgen von Johnsons No-Deal-Planungen. Käme es tatsächlich am 31. Oktober zu einem ungeregelten Brexit, dann müssten an der Grenze zwischen Irland und Nordirland auch wieder Zollkontrollen stattfinden.
Die Grenze mit einer Gesamtlänge von 499 Kilometern würde dann automatisch zur Außengrenze des EU-Binnenmarktes. Für die EU wäre es kaum machbar, die 275 Übergänge zu kontrollieren, um Schmugglern das Handwerk zu legen. „So eine Grenze lässt sich nicht versiegeln.“
GRENZE IN MIDDLETOWN
Der Weg zu James Cooper schlängelt sich durch ein campusähnliches Areal hoch. Backsteinhäuser stehen an sauber gemähten Grasflächen. Ganz oben wartet der 57-Jährige. Von hier aus sind es nur knapp 100 Meter bis zur inneririschen Grenze. Cooper gibt die Entfernung allerdings nicht in Metern an, sondern in Yards. Daran merkt man: Wir stehen hier nicht mehr auf dem Boden des EU-Mitglieds Irland.
Für Coopers Arbeit macht die Unterscheidung zwischen Irland und Nordirland allerdings überhaupt keinen Sinn. Der freundliche Herr mit dem Schnauzer leitet ein Zentrum, das Eltern und Lehrer auf der gesamten Insel bei der Förderung autistischer Kinder und Jugendlicher unterstützt. Das Zentrum bietet Kurse in Dublin und Belfast, aber auch in entlegenen Orten wie Tipperary an.
Die Arbeit der vor zwölf Jahren gegründeten Einrichtung ist gewissermaßen die Frucht des nordirischen Friedensabkommens von 1998. Das Abkommen zielt nicht nur auf die Versöhnung zwischen Protestanten und Katholiken in der früheren Bürgerkriegsregion, sondern auch auf die Zusammenarbeit der Behörden in Irland und Nordirland. Es wurde mit Unterstützung des irischen Bildungsministeriums und des nordirischen Ressorts für Erziehung gegründet.
Für Cooper, der in Belfast lebt, ist die Zusammenarbeit mit den Behörden südlich der Grenze eine tägliche Realität. „Wir arbeiten auf der ganzen Insel. Für uns gibt es keine Grenzen“, sagt er. „Und hoffentlich bleibt das auch nach dem Brexit so.“ Die Fragen, mit denen er sich jetzt schon seit über zwei Jahren befassen muss, reichen von der finanziellen Unterstützung seines Zentrums bis zur Datenübermittlung.
BELFAST, RATHAUS
Auch dem Politiker John Finucane bereitet der Brexit Sorgen. Der hochgewachsene Mann, der immer noch im Gälischen Fußball als Torwart eingesetzt wird, vertritt eine neue, friedlich gesinnte Generation bei der Sinn Fein. Diese Partei war einst der politische Arm der Terrororganisation IRA.
Als er noch ein Junge war, musste Finucane mitansehen, wie sein Vater 1989 von protestantischen Paramilitärs erschossen wurde. Die Aufklärung des Mordes ist für ihn zur Lebensaufgabe geworden. Vergangenen Mai wurde er zum Bürgermeister von Belfast gewählt. In dem Amt nimmt er vor allem repräsentative Aufgaben wahr.
Nordirland mit seiner Hauptstadt Belfast ist eine wirtschaftlich gebeutelte Region, die stark von Beihilfen aus London abhängig ist. Neue Jobs entstehen in Belfast nicht mehr in der Schiffswerft „Harland and Wolff“, wo die Titanic gebaut wurde, sondern etwa in der Finanztechnologie.
Er erzählt von dem Chaos, das ein No-Deal-Brexit selbst nach der Einschätzung von Johnsons Regierung auslösen würde, vom Wegfall von 40.000 Arbeitsplätzen in Nordirland und von zivilem Ungehorsam. „Wenn man das alles zusammennimmt“, sagt er, „dann mache ich mir schon Sorgen, wohin uns das am Ende führt.“
BELFAST, AN DER „FRIEDENSLINIE“
An der „Friedenslinie“, einer hohen Mauer mitten in Belfast, steht Karl Porter und sprüht ein gelb leuchtendes Graffiti an die Wand. Die „Friedenslinie“ trennt bis heute Protestanten und Katholiken in Belfast. Porter ist Katholik und steht trotzdem auf der protestantischen Seite der Mauer.
Der 33-Jährige kommt aus Londonderry – jenem Ort in Nordirland, wo im vergangenen April die Journalistin Lyra McKee durch die Kugeln der nationalistischen Terrororganisation „New IRA“ starb.
Dort arbeitet er in einem Projekt mit, bei dem sich sowohl katholische als auch protestantische Jugendliche als Graffiti-Künstler betätigen können. Er schätzt, dass die konfessionsüberschreitende Arbeit pro Jahr mit 20.000 Euro gefördert wird. Vor allem hofft er, dass das Geld auch nach dem Brexit weiter fließt.
Wie sich Grenzkontrollen anfühlen, weiß Porter noch aus seiner Jugend. Die eine Hälfte seiner Familie stammt aus Londonderry, die andere aus Donegal, einer Region in der nordwestlichen Ecke der Insel. Wenn er in der Zeit der „Troubles“ die Verwandtschaft in Donegal besuchte, betrug die Wartezeit an der Grenze regelmäßig zwei Stunden pro Übergang. Und wenn man von Londonderry nach Donegal fährt, muss man die gewundene Grenze gleich zwei Mal überqueren.