„Halloween mit Weltuntergang“: Die Briten vor dem Brexit – zwischen Business und Gelassenheit
Woche der Entscheidung? Nichts ist klar beim Brexit, es droht ein chaotischer Abgang aus der EU. Doch der „No Deal“ scheint seinen Schrecken verloren zu haben.
London wirkt geschäftig wie eh und je. In der „Hawksmoor Guildhall“, einem Kellerrestaurant unter einem historischen Anwesen, gönnen sich Börsenhändler am Freitagmorgen ein kräftiges Frühstück mit blutig rohen Steaks. Die Männer stehen unter Strom. Sie kommen von der Arbeit, haben in den frühen Morgenstunden mit Asien gehandelt. Und gehen von hier zurück zur Arbeit, weil bald Europas Börsen öffnen. Überall wird gebaut, als drohe kein Wirtschaftseinbruch durch den Brexit. Allerdings steigen die Immobilienpreise nicht mehr, sagt ein Freund. Sie seien sogar ein bisschen gesunken, weil der Austritt nach allgemeiner Erwartung Londons Boom als Finanzzentrum unterbrechen werde.
Von Hamsterkäufen ist nichts zu sehen. Das Risiko, dass Großbritannien, die zweitgrößte Volkswirtschaft der EU, in knapp drei Wochen ungeregelt aus dem Binnenmarkt herausfallen könnte, scheint niemanden wirklich zu belasten. Dabei hat die Regierung in ihrem Krisenszenario „Yellowhammer“ vor Versorgungsproblemen und politischen Unruhen gewarnt. Die Stadt geht spielerisch mit der Gefahr um. Ein Pub lädt zum „Halloween mit Weltuntergang“ am 31. Oktober.
Dies sollte die Woche der Entscheidung sein, die letzte Gelegenheit zur Einigung über einen Austrittsvertrag zum 1. November, der die Gefahr eines No Deal mit all seinen schwer kalkulierbaren ökonomischen Folgen beseitigt. Das würde auch die Last von Boris Johnson nehmen, die EU nochmals um eine Fristverlängerung bitten zu müssen. Er hat sich in einen Zwiespalt gebracht, von dem kein Gesprächspartner in London sagen kann, wie er sich daraus befreien will.
Einerseits hat er gelobt: „Do or die.“ Er werde den Brexit liefern und eher sterben, als um Verlängerung zu bitten. Andererseits hat er, als das Parlament ihn per Gesetz zum Verlängerungsantrag verpflichtete, falls bis zum 19. Oktober kein Austrittsvertrag vorliegt und vom Parlament gebilligt wurde, zugesagt, dass er sich an das Recht halten werde.
Am Ende dieser Woche kann immer noch niemand sagen, wie das enden soll: Deal, No Deal, Verlängerung? Nach Johnsons Besuch bei seinem irischen Kollegen Leo Varadkar in Dublin am Donnerstag und parallelen Gesprächen seiner Beauftragten in Brüssel berichten britische Medien am Freitag, Johnson und Varadkar hätten sich auf eine Lösung für das bisher größte Hindernis geeinigt: die Frage, wo die künftige Zoll- und Binnenmarktgrenze zwischen der Republik Irland (EU) und der britischen Provinz Nordirland verlaufen werde.
Eine physische Grenze auf der irischen Insel verbietet das Karfreitagsabkommen. Wie die neue Lösung aussehen soll, berichten die Medien nicht. Wie aber sollen das britische Parlament und die EU einen Vertrag binnen weniger Tage durchsehen und billigen, wenn kein Entwurf vorliegt? Wie sollen sich die Regierungen der EU-Staaten auf den Gipfel am 17. und 18. Oktober vorbereiten?
Mit Irland könnte es einen Kompromiss geben
Trotz der Dramatik liegt eine Atmosphäre der Gelassenheit über der Königswinter-Konferenz. Seit sieben Jahrzehnten treffen sich Deutsche und Briten zu diesen informellen Gesprächen. Der offene Austausch lebt von der Regel, dass niemand mit dem, was er hier sagt, zitiert werden darf. In den Arbeitssitzungen in der „Armourers Hall“, dem alten Gildehaus der Waffenschmiede mit Rüstungen und Schwertern an den Wänden, geht es um die Bedrohungen durch Cyber-Angriffe und wie man ihnen begegnet. In den Kaffeepausen und beim Dinner mehr um den Brexit. Unter den Teilnehmern sind Johnsons Nationaler Sicherheitsberater, wichtige Parlamentarier und Wirtschaftsführer. Es ist eine gute Gelegenheit, den Puls zu fühlen.
Die britischen Teilnehmer blicken anders als die Deutschen auf die Brexit-Gespräche. No Deal gilt zwar als schädlich, aber nicht als Wahnsinn. „Wir haben schon andere Rückschläge überstanden“, sagen Tories wie Labour-Anhänger. Als unzumutbar beschreiben Tories eine Verlängerung. „Extension is extinction“, habe Johnson intern als Parole ausgegeben. Wenn die Konservativen den Brexit nicht liefern, werden sie in der nächsten Wahl ausgelöscht.
Iran, Saudis, China: Ein bisschen Ablenkung vom Brexit
Die Tories bewegen sich auf einen Kompromiss zu, in dem Nordirland im Binnenmarkt und in einer Zollunion mit der EU bleibt, damit keine harte Grenze quer durch Irland entsteht. Die Alternative ist die Zollgrenze durch die Irische See zwischen England und Irland. Damit tun sich die Konservativen schwer.
In der zolltechnischen Abkoppelung Nordirlands sehen sie den Einstieg in die Vereinigung mit der katholischen Republik Irland. Was sie als Bewahrer des United Kingdom nicht zulassen können. Und auch nicht aus Rücksicht auf ihre Verbündeten unter Nordirlands Protestanten, die Democratic Unionist Party (DUP). Ohne DUP keine Mehrheit im britischen Parlament für den Austrittsvertrag. Nordirland – sprich: die DUP – müsse das Recht haben, die Zollunion mit der EU regelmäßig zu bekräftigen oder zu kündigen. Das will die EU nicht zugestehen; es wäre keine dauerhafte Lösung.
Die Königswinter-Debatten über die drängenden Sicherheitsfragen von Cyber- über Atomwaffen bis zu Iran, den Saudis, Russland und China lassen das Brexit-Ringen in anderem Licht erscheinen: eine Ablenkung von drängenderen Fragen. Briten und Deutsche haben gemeinsame Interessen und bleiben auf Kooperation angewiesen, ob in der EU oder außerhalb.