Was die Aids-Pandemie für Covid-19 lehrt: Langfristig schützt bei Corona nur die Eigenverantwortung
Der Umgang mit der Aidskrise könnte ein Vorbild in der Coronakrise sein. Damals setzte man auf Prävention und Aufklärung - und bezog Risikogruppen ein.
Die Coronakrise sei die schlimmste Pandemie seit der Spanischen Grippe 1918/19. Dementsprechend habe hierzulande kaum jemand Ähnliches erlebt. Zwei Aussagen, die in diesen Tagen häufig zu lesen sind. Doch sie stimmen nicht für alle Menschen.
Einige erinnern sich gerade jetzt schmerzvoll an eine Zeit, in der ein noch weit tödlicherer Virus Tausende, meist junger Menschen mitten aus dem Leben riss: Menschen mit HIV, ihre Angehörigen, das medizinische Personal, die Pflegekräfte und auch die Politikerinnen und Politiker, die während der Aids-Krise ab Mitte der achtziger Jahre vor überraschend ähnlichen Entscheidungen standen, wie die Politik heute.
Die Fachleute debattierten damals so heftig wie heute
Natürlich ist Sars-CoV-2 nicht HIV und Covid-19 ist nicht Aids. Die beiden Viren könnten unterschiedlicher nicht sein, was Übertragungswege und Sterblichkeitsrate angeht.
Und doch sagt eine, die es wissen muss: „Vergleichbar ist vor allem die Situation, in der wir stecken. Zu Anfang wussten wir sehr wenig über die Übertragungswege, die Sterblichkeitsrate oder wer am Ende betroffen sein würde. Die Diskussionen unter den Fachleuten waren ähnlich heftig wie heute. Und alle tasteten sich an die Wirklichkeit heran.“
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Regina Görner kam im September 1985 als persönliche Referentin ins Büro der frisch gewählten Gesundheitsministerin Rita Süssmuth. Aids war von Anfang an das große Thema: „Es war klar, dass dies dramatische Auswirkungen auf die gesamte Gesellschaft haben könnte.“
Heute ist großen Teils vergessen, welche teils panischen Reaktionen das Aufkommen der neuen Virus-Erkrankung in der westdeutschen Gesellschaft zunächst auslöste. Aids beherrschte die Schlagzeilen und die Stammtisch-Diskussionen gleichermaßen. Aus Bayern kamen Vorschläge, Konzentrationslager für Infizierte einzurichten.
„Das klingt heute absurd“, sagt Görner, „war damals aber ernst gemeint. Rita Süssmuth schaffte es dann, eine politische Mehrheit dafür zu bekommen, stattdessen die Betroffenen zu informieren, die Bevölkerung aufzuklären und auf freiwillige Verhaltensänderung zu setzen. Das war ein großes Stück Arbeit.“
Es war vor allem eine erfolgreiche Strategie. Die Infektionszahlen blieben in Deutschland geringer als in allen Ländern mit einer restriktiveren Politik. Hauptrisikogruppen wie schwule Männer oder Drogengebrauchende änderten dauerhaft ihr Verhalten, griffen zu Kondomen oder Einwegspritzen.
„Heute könnten Entscheidungsträger*innen aus der Aidskrise viel lernen“, sagt Görner. Die wichtigste Lehre: „Eine langfristige Strategie kann immer nur auf der Eigenverantwortlichkeit der Menschen beruhen, denn wir können nicht neben jeden einen Polizisten stellen, der sein Verhalten kontrolliert. Politik muss Menschen dazu bringen einzusehen, was nützt und was schadet und das Nützliche zu tun und das Schädliche zu lassen.“
Aufklärung statt Zwang
Auch Holger Wicht, Pressesprecher der Deutschen Aidshilfe, hält Aufklärung und den Verzicht auf Zwang für den besseren Weg durch die Coronakrise: „Die Politik muss die Menschen zu Partnern machen und sie dazu befähigen, Verantwortung zu übernehmen. Das ist nicht nur der vielversprechendere Ansatz, sondern es fühlt sich auch für alle besser an. Wir müssen Menschen ermöglichen, Teil der Lösung zu sein, dabei empathisch und solidarisch handeln. Genau das haben wir in der Aidskrise gelernt.“
Regina Görner hält die massiven Einschränkungen der letzten Wochen dennoch nicht für falsch: „Wer ganz wenig weiß, ist gezwungen, maximal vorsichtig zu sein.“ Entscheidend seien die kommenden Wochen und Monate, in denen einerseits das Wissen um die Epidemie wächst und Verbote gleichzeitig immer schwerer zu vermitteln sind.
Erfolgreiche Plakatkampagne
„Ich benutze Kondome!“ empfahl ein deutlich als schwuler Mann seiner Zeit erkennbarer Schnurrbartträger auf dem ersten Plakat der Deutschen Aidshilfe 1986.
Dieses Plakat stand am Beginn von jahrzehntelanger Aufklärung und Prävention, die letztlich nicht nur epidemiologisch erfolgreich war. Sie war es auch emanzipatorisch und im Sinne der Menschen- und Bürgerrechte der Betroffenen. Der Wert eines schwulen Lebens war damals ähnlich im Sinkflug wie das von Hochbetagten heute. In einer Epidemie die Menschenrechte nicht hintanzustellen, auch das ist eine große Lehre der Aidskrise.
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Dabei war das Kondom als Antwort auf die Aids-Katastrophe zunächst ähnlich umstritten, wie Atemmasken in den Anfangstagen der Coronakrise heute. Zu wenig wusste man über die Übertragungswege. „Einige werden sich an die Diskussion erinnern, ob man sich mit HIV anstecken kann, wenn man gemeinsam aus einem Wasserglas trinkt“, sagt Görner.
Das Präservativ wurde in der Krise dann recht schnell zu einem probaten Mittel, die Infektionszahlen zu senken. Noch schneller wurde das Gummi zu einem wirkmächtigen Symbol. Es stand für die Botschaft: „Die Gefahr ist beherrschbar!“ und verschaffte in der Misere eine Perspektive.
Es wirkte vor allem in den Risikogruppen einer Untergangsstimmung entgegen und machte den Stress handhabbarer. Atemmasken könnten in der aktuellen Pandemie Ähnliches leisten.
„Tina, was kosten die Kondome?“ Diesen Satz aus einem TV-Spot, der das Kondom an den Mann bringen sollte, kennen in Deutschland fast alle Über-40-Jährigen.
Regina Görner vermisst heute Ähnliches von Seiten des Staats für Distanzregeln und Atemschutzmasken: „Ich würde mir wünschen, dass es der Bundesregierung gelingt, bald eine große Kampagne zu machen, die andere übernehmen könnten. Da ist die Aids-Kampagne ein Vorbild, die ist damals sehr gut gelungen.“ Den vielen unkoordinierten Einzelaktionen von Medien und Parteien fehle entsprechende Durchschlagskraft.
Rita Süssmuth sorgte dafür das die Aidshilfen gehört wurden
Andere Lehren aus der Aidskrise wurden dagegen bereits gezogen. Homosexuelle Menschen liefen damals unter dem Radar, sagt Görner. „Es war Süssmuth zu verdanken, dass Betroffenenorganisationen wie die Aidshilfen überhaupt eingeladen wurden. Das war in den Achtzigern unerhört und sehr mutig. Heute existieren Strukturen, in denen Politik von Anfang an mit Betroffenen redet.“
In der Coronakrise beteiligt sich Süssmuths ehemalige Referentin in ihrer Funktion als stellvertretende Vorsitzende der Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen (BAGSO) an den Diskussionen um Risikogruppen.
Die BAGSO hat gerade ein Papier dazu veröffentlicht. Eins sei klar: „Komplette Isolation in den Pflegeheimen geht nicht. Es muss versucht werden, Kontaktmöglichkeiten zu schaffen, auch über die Restriktionen hinweg.“ Auch wenn es heute eher eine Diskriminierung aus Fürsorglichkeit sei, werde trotzdem nicht nachgedacht, was für Folgen es hat, wenn Menschen im Pflegeheim isoliert werden.
Die Geschichte der HIV-Epidemie als Ermutigung
Zwei Dinge wünscht sich Regina Görner neben einer Kampagne: Zum einen, weniger Aufschrei über „die zwei Prozent, die sich nicht an die Auflagen halten oder ihr Verhalten nicht ändern. Wir brauchen keine hundert Prozent!“
Zum anderen: Größere Anreize, Ausbrüche wie in Wuhan oder Ischgl nicht unter den Teppich zu kehren. „Das können direkte – auch finanzielle – Hilfen für Whistleblower sein, vielleicht ein großer Fonds für Erstbetroffene. Vor allem brauchen wir internationale Mechanismen dafür.“
Ein Erinnern an die Zeit der Aidskrise halten Holger Wicht wie Regina Görne gerade jetzt für äußerst sinnvoll. Die Geschichte der HIV-Epidemie sei „ausgesprochen ermutigend“, sagt Görner: „Denn sie hat gezeigt, dass sich, allen Unkenrufen zum Trotz, die allermeisten Menschen von ganz alleine sinnvoll verhalten, wenn sie die richtigen Informationen besitzen.“