"Abschotten mit einer stark fortgeschrittenen Infektion": Was HIV-Infizierte in der Coronakrise wissen müssen
Haben Menschen mit einer HIV-Infektion ein erhöhtes Risiko für eine Infektion mit dem Coronavirus? Ein HIV-Experte über den Umgang mit der Krise.
Gerold Felician Lang ist HIV-Experte, Dermatologe und Vizepräsidenten der Österreichischen AIDS-Gesellschaft.
Haben das HI-Virus und das Coronavirus Ähnlichkeiten?
Die einzige Gemeinsamkeit ist, dass bei beiden die genetische Information nicht als DNA-Doppelstrang, sondern als RNA-Einzelstrang vorliegt. Ansonsten haben sie nichts miteinander zu tun. Das zeigt sich etwa an der Vermehrung: HIV baut sein genetisches Material dauerhaft in das genetische Material unserer Immunzellen ein, es ist also ein Retrovirus, das dauerhaft in unserem Körper verbleibt.
Sars-CoV-2 wird hingegen durch unser Immunsystem vollständig aus dem Körper entfernt. HIV und Sars-CoV-2 nutzen unterschiedliche Enzyme für deren Vermehrung und auch verschiedene Rezeptoren, um in die Zellen zu gelangen. Bei HIV sind es CD4-Rezeptoren und ein Co-Rezeptor auf Immunzellen. Bei einer Infektion mit dem HI-Virus verringert sich nach gewisser Zeit die CD4-Zellzahl und somit die Funktionsfähigkeit unseres Immunsystems.
Bei Sars-CoV-2 docken die Viren an das Enzym ACE-2 in der Zellmembran an, nutzen es also als Rezeptor. ACE-2 ist im Körper und insbesondere im Atmungstrakt weit verbreitet, weshalb dieser die Eintrittsstelle bei einer Infektion darstellt.
Was sollte man bei Covid-19 gegen das Fieber einnehmen?
Prinzipiell ist Fieber eine bei Virusinfektionen sinnvolle Abwehrmaßnahme des Körpers, eine Senkung sollte daher erst bei höherem Fieber erfolgen. Ibuprofen, ASS und Diclofenac erhöhen die Menge von ACE-2, jedoch gibt es bislang keinen Beweis dafür, dass dies zu vermehrter Aggressivität des Virus führt.Aus diesem Grund ist die Warnung vor diesen Substanzen nun auch von der WHO klar zurückgenommen worden. Alternativ kann man das gut fiebersenkende Paracetamol verwenden, das ACE-2 nicht vermehrt.
Haben Menschen mit einer HIV-Infektion ein erhöhtes Risiko für eine Covid-19-Erkrankung?
Es gibt kein Ja oder Nein als Antwort. Man muss sich den einzelnen Patienten genau anschauen. Wird jemand frühzeitig, also solange das Immunsystem noch relativ kräftig ist und folglich die CD4-Zellzahl noch hoch ist, mit HIV diagnostiziert, früh therapiert und hat er daher eine Viruslast unter der Nachweisgrenze, so haben diese Patienten kein erhöhtes Risiko bei einer Infektion mit Sars-CoV-2 im Vergleich zu HIV-negativen Personen. Sind die Betroffenen zudem eher jung und ohne Begleiterkrankungen, so ist ein schwerer Verlauf nicht zu erwarten.
HIV-Patienten dagegen, die erst spät die Diagnose erhielten und bereits einen schlechten Immunstatus haben, haben durchaus ein erhöhtes Risiko. Das gilt auch für Patienten, deren HI-Viruslast nicht unter der Nachweisgrenze liegt. Ihr Immunsystem ist voll damit beschäftigt, sich um das HI-Virus zu kümmern. Bei erschöpftem Immunsystem besteht das Risiko eines deutlich schwerwiegenderen Verlaufs von Covid-19.
Wie wichtig ist es, dass HIV-positive Menschen ihre Medikamente einnehmen?
Das ist extrem wichtig – damit sich das Immunsystem nicht zusätzlich zu Sars-CoV-2 um das HI-Virus kümmern muss. Alle chronischen Infektionserkrankungen können das Immunsystem stark beeinflussen. Kommt zu einer nicht effizient behandelten HIV-Infektion noch eine weitere Virusinfektion hinzu, kann es zu einem Zytokinsturm kommen.
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Zytokine sind Entzündungsbotenstoffe, über die die Immunzellen miteinander kommunizieren. Aufgrund des Zytokinsturms werden dann bestimmte Immunzellen, die T-Lymphozyten, überaktiviert und körpereigene Immunzellen zerstört. Es kommt zu sehr hohem Fieber und diversen anderen Symptomen wie etwa einer Milz- und Lebervergrößerung. Die Patienten sind schwerst krank. Es kommt zum Multiorganversagen. Jeder zweite bis dritte Betroffene stirbt daran.
Gibt es Ansätze zur Therapie dieses Aktivierungssyndroms bei schweren Verläufen von Covid-19-Erkrankungen?
Um die immunologische Kaskadenreaktion zu unterbrechen, kommen Substanzen wie Sarilumab und Tocilizumab infrage. Das sind Antikörper, die zur Therapie der rheumatoiden Arthritis zugelassen sind. Die Schweizer Pharmafirma Roche etwa hat eine Studie gestartet, in der 300 Covid-19-Patienten testweise mit Tocilizumab behandelt werden.
Ein weiterer möglicherweise vielversprechender Ansatz ist der Einsatz von Gimsilumab, einem weiteren Antikörper, welcher derzeit noch in klinischer Erprobung bei rheumatoider Arthritis und anderen Autoimmunerkrankungen ist. Gimsilumab verringert die Ausschüttung von Entzündungsbotenstoffen und dämpft so überschießende Immunreaktionen. Es ist geplant, eine klinische Phase-2-Studie in Covid-19-Patienten mit schwerem Verlauf durchzuführen.
Welche Verhaltensmaßnahmen empfehlen Sie insbesondere bei fortgeschrittener HIV-Infektion?
„Social Distancing“ ist unverzichtbar. Wer eine stark fortgeschrittene HIV-Infektion hat, der muss sich regelrecht abschotten. Die Empfehlung heißt: nicht arbeiten gehen, sondern krankschreiben lassen und die Wohnung nicht verlassen.
Sollten HIV-Patienten derzeit überhaupt zum Arzt gehen?
Das hängt von den jeweils in den Ordinationen getroffenen Maßnahmen ab. Ein Zusammentreffen mit anderen Patienten oder ungeschütztem Personal muss zur Sicherheit der Patienten unterbleiben, das Ansteckungsrisiko wäre sonst zu hoch. Wir können in unserer Praxis nur dank unserer aufwändigen Schutzmaßnahmen eine Normalversorgung durchführen. In den Klinikambulanzen läuft derzeit nur eine Notversorgung, um möglichst wenige Patienten vor Ort sitzen zu haben.
Wenn jemand eine sehr stabile HIV-Infektion ohne Begleitprobleme hat, dann gibt es keine Notwendigkeit, derzeit eine Ambulanz aufzusuchen. Die Patienten können sich in den Kliniken melden, um Rezepte per Post zu erhalten. Die erforderlichen Routineuntersuchungen können später nachgeholt werden.