Musik: Das Pop-Jahr war auffällig queer
Von schwulem Kammerpop bis zu non-binären Sternchengesängen: Ein Rückblick auf die queeren Musikhighlights von 2018.
Die perfekten Eltern – sie lieben ihren Nachwuchs bedingungslos, kaufen gutes Essen und tolle Klamotten, sind immer für ihn da – und das alles, bis er oder sie 31 ist. Ja, Eltern wie sie Sam Vance-Law in seinem Song „Gayby“ besingt, kann sich ein Kind nur wünschen. Allerdings steht vor dem Familienglück eine bürokratische Prozedur, denn die Eltern sind ein Männerpaar: „So be our gayby/ And it should only take/ A year or two/ For the papers to come through/ We’ll be your family“, heißt es in dem beschwingten Dreiminüter, der an den frühen Adam Green erinnert.
Das Lied, zu dem es auch ein knallbuntes Video mit vielen süßen Kleinkindern gibt, befindet sich auf dem im März erschienenen Debütalbum des kanadischen Wahlberliners Sam Vance-Law. Es trägt den Titel „Homotopia“ (Caroline) und fächert ein munteres Kammerpop-Kaleidoskop schwulen Lebens und Liebens auf. Vom Kuss beim Highschool-Ball bis hin zum Heiratsantrag nach dem Clubbesuch, sind die zehn Songs Ausdruck einer bemerkenswerten queeren Selbstverständlichkeit, die sich im Pop-Jahr 2018 deutlicher als je zuvor gezeigt hat. Die Song- und Videoproduktion der westlichen Hemisphäre spiegelte eine nie gesehene Vielfalt von Identitäten und Begehrensformen abseits des heterosexuellen Mainstreams.
Wobei sich die queeren Musikerinnen und Musiker keineswegs nur in den Nischenregionen bewegten, sondern vielfach zu den tonangebenden Kräften der Branche gehörten. Allen voran: Blood Orange mit seinem R’n’B-Meisterwerk „Negro Swan“ (Domino), das seine Jugenderfahrungen mit Kommentaren der Moderatorin und Transaktivistin Janet Mock verbindet, sowie Janelle Monáe mit ihrem dritten Album „Dirty Computer“ (Warner). Letzteres war das bei der englischsprachigen Kritik in diesem Jahr am zweitbesten besprochene Album überhaupt. Das ergab eine Auswertung von 169 Jahresbestenlisten durch das Internetportal Metacritic.
Auf der zwischen Funk, R’n’B, Rap und Pop oszillierenden Platte feiert die 33-Jährige schwarze, weibliche Power, Schönheit – und queeres Begehren. Am deutlichsten kommt das im Video zu ihrem funky Hit „Make Me Feel“ zum Ausdruck, in dem sie sowohl mit einer Frau als auch mit einem Mann flirtet. Dazu passend sprach Monáe im amerikanischen „Rolling Stone“ erstmals öffentlich darüber, dass sie sich als queer und pansexuell sieht, sich also von Menschen aller Geschlechter angezogen fühlt. Es gilt als offenes Geheimnis, dass sie derzeit eine Beziehung mit der Schauspielerin Tessa Thompson hat, der Dame aus besagtem Video.
Persönliches und Performtes mischen sich im Pop
Wenn queere Musikerinnen und Musiker sich zu ihrer Identität äußern, ist das insofern bedeutsam, als sich in der Popmusik seit dem Ende der arbeitsteiligen Produktion, wie sie in den Songschreiberfabriken der Tin Pan Alley stattfand, stets Persönliches und Performtes mischen. Genau das macht ihren Reiz aus. „Pop- Musiker sind also die, die von sich selber sprechen, sich selbst meinen und dafür dennoch all die Formen verwenden, die das Abendland für die Fiktion, für die Fiktionen aller Art reserviert hat: Narrationen, Lieder, lange und kurze Filme, ikonische Bilder“, schreibt Diedrich Diederichsen in seinem Buch „Über Pop-Musik“. So erzählt selbst eine Stefani Germanotta mit ihrer extrem stilisieren Kunstfigur Lady Gaga letztlich immer von ihren Gefühlen. Das ist die Verabredung mit den Fans, denen sie damit Projektions- und Identifikationsräume öffnet.
Wie spannend und aufmerksamkeitsfördernd es sein kann, wenn es in diesen Räumen nicht nur heterosexuell zugeht, haben Stars wie David Bowie, Lou Reed und Madonna schon früh in ihren Karrieren verstanden. Das Spiel mit den Codes und Accessoires der schwul-lesbischen Kultur war aber eben nur dies: ein Spiel, eine Selbsterkundung und eine Phase, in der man einer Szene Respekt zollte. Dass Musikerinnen und Musiker offen mit ihrer Bi- oder Homosexualität umgehen, wodurch nicht-heterosexuelle Lesarten ihrer Lieder möglich werden, blieb hingegen lange eine Ausnahme.
In der angeblich so offenen, fortschrittlichen Rock- und Popwelt sind Tabus und Ängste erstaunlich langlebig. So gab es etwa für Dusty Springfield und Janis Joplin keinerlei Alternativen zum Image des braven beziehungsweise wilden heterosexuellen Mädchens. Eine allmähliche Veränderung haben seit den Achtzigern die Pet Shop Boys, Elton John, Melissa Etheridge, Jimmy Somerville, Boy George oder kd lang eingeleitet. Allerdings brauchte das Publikum für queere Interpretationen ihrer Werke meist ein Zusatzwissen, war bei dem „You“ in den Texten doch selten klar, welches Geschlecht gemeint war. Und wer kein Auge für Campness und schwule Dresscodes hatte, konnte Freddie Mercury tatsächlich bis zu seinem Aids-Tod für hetero halten.
Gendergrenzen verwischen, alles fließt
Heute gehen queere Musikerinnen und Musiker viel direkter zu Werke – teils schon ab ihrem Karrierestart wie etwa der 23-jährige australische Sänger Troye Sivan, der in diesem Jahr sein zweites Album veröffentlichte. Bereits die Songs und Videos seines Elektropop-Debüts von 2015 thematisierten explizit Liebesglück und -leid aus schwuler Sicht. Im Titelstück seines neuen Werkes „Bloom“ (Universal) macht die Zeile „And, boy, I’ll meet you right there/ We’ll ride the rollercoaster“ klar, dass das in dem Text angebetete „Baby“ ein männliches ist. Im Videoclip zeigt sich Sivan mit knallrotem Lippenstift, Nagellack und in extravaganten Kostümen – sehr sexy und sehr ermutigend für queere Teenager.
Zu einer ähnlichen Direktheit konnte sich die britische Musikerin Anna Calvi erst bei ihrem dritten Album „Hunter“ (Domino) durchringen. Zwar hatte die 38-Jährige immer wieder homoerotische Andeutungen in ihren Songs und Videos gemacht, doch diesmal beschreibt sie in „Chain“ eine Verführungsszene mit einer Frau, sprach in Interviews offen über ihre neue Freundin und schrieb auf ihrer Website, dass es ihr mit dem Album darum gehe, „eine subversivere Sexualität zu erforschen, die über das hinausgeht, was von einer Frau in unserer patriarchalen heteronormativen Gesellschaft erwartet wird.“ Das ist ihr mit dem Avantgarde-Rock von „Hunter“ auf formidable Weise gelungen, es ist ihr bisher bestes Album.
Queer und massentauglich
Dass es beflügelnd und sogar massentauglich sein kann, eine Minderheiten-Identität offensiv in die Kunst einzubringen, hat auch die französische Musikerin Hélöise Letissier alias Christine And The Queens in diesem Jahr gezeigt. Wurde der heute 30-Jährigen bei ihrem Debüt vor vier Jahren noch nahegelegt, sich in Sachen Queerness zurückzuhalten, tat sie mit ihrem zweiten Album genau das Gegenteil: Sie hat es „Chris“ (Caroline) genannt und erforscht aus der Sicht dieser leicht machohaft angelegten Persona die Themen Gender, Sex und Sehnsucht. Dabei ist sowohl ihr eigenes Geschlecht als auch das des Gegenübers nicht immer klar auszumachen. Alles fließt, alles ist möglich. Was nicht nur Pansexuelle und andere Sternchenwesen anspricht: Das Berliner Konzert von Christine And The Queens in der Columbiahalle war schnell ausverkauft, und ihr stark achtzigerbeeinflusstes Elektropop-Album kam in der Metacritic-Bestenliste auf Platz neun.
Selbstredend glänzte auch in diesem Jahr nicht alles regenbogenfarben. Gerade im weltweit erfolgreichsten Genre, dem Hip-Hop, bleiben Frauenverachtung und Homofeindlichkeit weiter feste Größen. Man denke nur an die Düsseldorfer Hassrapper Kollegah und Farid Bang, die mit dem Skandal um ihr unsägliches Album „Jung, brutal und gutaussehend 3“ die Abschaffung des Echomusikpreises einleiteten. So zeugt der erhöhte Queernessfaktor im Pop einerseits von dessen fortschreitender Ausdifferenzierung und andererseits von der Ungleichzeitigkeit gesellschaftlicher Entwicklungen: Die Emanzipation der Homo-, Bi- und Transsexuelle war noch nie so groß wie heute, gleichzeitig steigt die Zahl der physischen und verbalen Angriffe auf diese Gruppen.
Autotune und abstrakte Sounds
Dennoch ist eine eindeutige Bewegung zum Besseren erkennbar. Dazu gehört auch, dass immer mehr non-binäre, trans oder genderfluide Personen wie Anohni, Tash Sultana oder Sophie einen Platz in der Branche finden. Was wunderbar in das Jahr passt, an dessen Ende der Bundestag ein Gesetz zum dritten Geschlechtseintrag beschlossen hat. Dieser steht zwar nur Intersexuellen offen, allerdings ist damit staatlich anerkannt, dass es mehr als zwei Geschlechter gibt.
Jenseits der Frau-Mann-Dichotomie sehen sich auch Planningtorock aus England und Lotic aus den USA, die beide in Berlin leben. Im Englischen bevorzugen sie das Pronomen „they“, im Deutschen kann man „sie“ als erste Person Plural benutzen. Planningtorock haben kürzlich ihr beeindruckendes viertes Album „Powerhouse“ (DFA) veröffentlicht, auf dem sie mit Autotune-verzerrter Stimme über ihre Familie und ihre Gefühlswelt singen. Der Text des Tracks „Non-binary femme“ etwa besteht nur aus diesen drei Worten, die eigentlich ein Paradox bilden, doch nach knapp fünfeinhalb Minuten und unzähligen Wiederholungen zu schneidenden Keyboardakkorden, sind sie im Kopf als neue Genderkategorie festgetackert.
Ebenso verstörend wie betörend war im Juli „Power“ (Tri Angle), das Debüt von Lotic. Collagiert aus abstrakten Sounds, Stolperbeats, Gesängen und Geflüster thematisiert es die Verletzlichkeit eines schwarzen, queeren Körpers – und dessen Selbstermächtigung. Am Ende dieses akustischen Trips bleibt neben der Ermutigung die Erkenntnis, dass Queerness weiterhin Angreifbarkeit bedeutet. Doch es hilft, davon erzählen zu können und davon zu hören. Du bist nicht allein – Popmusik war schon immer eine großer Trösterin. Dass sie jetzt noch mehr Menschen umarmt, ist die frohe Kunde dieses Jahres.
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