Martensteins Weihnachtsgeschichte: Pizza Quattro di Natale - Überraschung an Heiligabend
"Lass uns halt einen Flüchtling einladen", sagte Kerstin. So geriet ein Heiligabend bei späten Eltern zur Peinlichkeit. Eine ziemlich berlinische Weihnachtsgeschichte.
Diesmal wollten sie es mal anders machen. „Zu Weihnachten“, hatte Oliver gesagt, „laden wir uns ein paar Freunde ein. Lass uns Leute einladen, die Kinder im Alter von Konrad haben, da freut er sich. Das ist dann auch für uns weniger stressig.“ Konrad war zwei, bald drei.
Kerstin fand die Idee gut. In den letzten Jahren waren Oliver und sie an Heiligabend immer zu ihren Eltern nach Ulm gefahren. Bei den Eltern kam sie sich jedes Mal wieder wie ein Kind vor, dieses Gefühl mochte sie nicht sonderlich. Im Frühjahr war ihr Vater gestorben, die Mutter wohnte jetzt in einer Seniorenresidenz, Schwarzwald.
„Monika müssen wir aber herholen“, sagte Kerstin, „die lass ich nicht am Heiligabend im Heim hocken.“
„Klar“, sagte Oliver. Seine Eltern lebten auf Mallorca und feierten dort, die konnte man abhaken. Wenn man, wie Kerstin und er, sich erst mit über 40 zur Elternschaft entschloss, dann waren die eigenen Eltern halt alt und als Großeltern keine Hilfe. Da musste man sich, wenn man Pech hatte, auch noch um die kümmern.
Ludger, das wird lustig
Die Suche nach Gästen gestaltete sich schwierig. Freunde und gute Bekannte sagten reihenweise ab, die hatten alle schon andere Pläne. Am Ende landeten sie bei Ludger und Galina, die sie aus dem Kindergarten kannten, allerdings nicht besonders gut. Galina war sehr hübsch, sie stammte aus Armenien, oder Abchasien, Oliver konnte es sich einfach nicht merken. Ludger färbte sich die Haare, und zwar hellblond. Er war mindestens 30 Jahre älter als Galina und die Nummer drei in der Geschäftsführung einer großen Pizzakette. Ihr Haus stand in Kladow. Der kleine Xavier wurde täglich von einem Fahrer in den Kindergarten nach Prenzlauer Berg gebracht, weil es dort eine Kindergärtnerin gab, die abchasisch sprach, oder vielleicht armenisch, über diese Details wusste halt nur Kerstin Bescheid.
Oliver hatte bisher nur ein einziges Mal länger mit Ludger geplaudert, hauptsächlich über das Pizza-Business. Die bei weitem beliebteste Pizza in Deutschland war die Pizza Salami, Marktanteil 31 Prozent. „Das ist sogar bei ,Wetten, dass …?’ mal die 16.000-Euro-Frage gewesen“, sagte Ludger, und: „Die Galina hat mich nur wegen des Geldes geheiratet und ich sie nur wegen des Aussehens, deswegen sind wir total glücklich. Ich hab tatsächlich Geld, sie sieht echt super aus, da ist keiner enttäuscht. Auf Berechnung ist Verlass. Gefühle schwanken.“
Ludger, dachte Oliver, das wird lustig, der ist unterhaltsam.
Wir laden einen Flüchtling ein
Kerstin wollte eine richtig große, schöne Tafel haben an Heiligabend. Sie war ein bisschen enttäuscht, weil es jetzt halt eher eine kleine Tafel war, höchstens eine mittelgroße. „Lass uns halt noch dazu einen Flüchtling einladen“, sagte sie. „Das fände ich superinteressant. Oder sogar zwei. Nein, einer reicht vielleicht.“
„Das sind Muslime“, sagte Oliver. „Weihnachten ist bei denen kein Fest. Das ist, als ob du einem Veganer eine Currywurst spendierst, das bringt dem gar nichts.“
„Na, die merken doch, dass alle anderen feiern. Und sie sitzen allein ’rum, im Flüchtlingsheim. Das muss traurig sein. Außerdem integriert das ihn doch, wenn er sich unser Weihnachten anschaut.“
Oliver fand tatsächlich eine Initiative, die sich um derartige Wünsche kümmerte. Allerdings waren in diesem Jahr die Flüchtlinge knapp, erfuhr er, in den Heimen war nicht mehr viel los. Letztes Jahr wäre es viel einfacher gewesen, sagte der Mann am Telefon. „Letztes Jahr lebte mein Schwiegervater noch“, sagte Oliver, „deshalb waren wir verhindert.“
„Ich habe den letzten Flüchtling gekriegt, den sie noch hatten“, erzählte er Kerstin. Sie sagte, dass man sich auf die Bedürfnisse des Flüchtlings vielleicht einstellen sollte. Na ja, religiös waren sie beide sowieso nicht, in der Hinsicht gab es keine Probleme. Aber das Essen. „Am besten machen wir Lammkoteletts“, sagte Kerstin. „Das mögen sie.“
Das war so nicht abgesprochen
Lammkoteletts zu Weihnachten? Warum nicht, dachte Oliver. In den nächsten Tagen suchte Kerstin nach einem Geschenk für den Flüchtling. Ein Geschenk musste er schließlich auch kriegen. Das war nicht einfach. Sie ging in ein paar türkische Läden und ließ sich beraten. Am Ende kam sie mit einem Buch. „Das ist eine besonders wertige, antiquarische Koran-Ausgabe“, sagte sie. „Das mögen sie. Es ist arabisch, also, nicht auf türkisch.“
„Und wenn er gar kein Araber ist? Die wussten noch nicht, wen sie schicken. Womöglich ist es ein Afrikaner mit einer Naturreligion.“ Kerstin sagte, wenn ein Afrikaner käme, würde sie schnell ihre Doppel-CD mit den größten Hits von Prince einpacken und eine Dose mit selbstgebackenen Plätzchen.
An Heiligabend um 16 Uhr standen Galina und Ludger mit Xavier und seiner großen Schwester Yolande vor der Tür. Galina trug den kürzesten Rock, den Oliver jemals gesehen hatte. Zwei Pizzaboten mit Weihnachtsmann-Mützen trugen eine Pizza in die Wohnung, die mit Gänsebraten, Trüffelsplittern und geräucherten Austern belegt war. Das war so nicht abgesprochen. Ludger gab jedem Boten 50 Euro und klopfte den Männern zum Abschied auf die Schulter. „Der Belag war Ludgers Idee“, sagte Galina. „Wenn euch schmeckt, kommt dies Pizza nächste Weihnacht in unser Restaurants. Versprochen.“
Monika saß gelangweilt in ihrem Rollstuhl. Yolande packte Konrad und Xavier übereinander in Xaviers Buggy, der im Flur stand, und fuhr sie in der Wohnung spazieren, während die beiden Jungs laut kreischten und schimpften. Dann klingelte der Flüchtling.
Ironie hatte sie drauf
Es war ein Mann von Mitte 30, kein Afrikaner, ein Syrer. Er sprach ganz gut Englisch, zum Glück. Sonst wäre der Abend echt schwierig geworden. „Toll, dass ihr alle da seid“, sagte Oliver auf Englisch. „Wir schlagen vor, dass wir erst mal die Bescherung durchziehen, damit die Kinder zu ihrem Recht kommen. Dann essen wir. Take a seat, dear friends.“
„Was sagt er?“, fragte Galina. Sie konnte tatsächlich kein Englisch. Die Schulen in ihrer Heimat waren offenbar noch einen Zacken schlimmer als die in Berlin. Und dieser Rock! Kerstin sagte leise zu Oliver, das sei irgendwie unverschämt, weil Galina doch gewusst habe, dass ein Flüchtling kommt und sie womöglich mit so einem Kleidungsstück dessen Gefühle verletzt. Macht man das so in Armenien? „Ich bin Abchasin“, sagte Galina laut. „Wir Abchasen ist berühmt für gute Ohren. Kurze Röcke sind alter abchasischer Weihnachtsbrauch.“
Englisch konnte sie nicht, Ironie hatte sie drauf.
Monika zog Kerstin am Arm. „Warum kümmert sich eigentlich niemand um mich? Niemand redet mit mir. Du musst mich neben diesen Ludger setzen, was für ein interessanter Mann.“
Der Flüchtling war ruhig, lächelte viel und sprach wenig. Oliver hätte ihn gern nach seiner Geschichte gefragt, aber die Kinder brüllten einfach zu laut. Später vielleicht. Der Mann hatte kleine Geschenke mitgebracht, Plastikautos für Xavier und Konrad, ein Überraschungsei für Yolanda, Haarspangen für die Frauen, irgendwie rührend.
"In Syrien leben total viele Christen"
Die Bescherung verlief chaotisch, aber alle hatten ihren Spaß, bis der Flüchtling sein Päckchen öffnete.
Er stutzte, als er den Koran sah, eine wirklich schöne Ausgabe, wiegte ihn hin und her, dann lächelte er und sagte: „Thank you.“
„Stimmt was nicht? Something wrong?“, fragte Kerstin. Sie wurde rot. Das Buch war womöglich gar kein Koran, sondern Gott weiß was.
„Ich bin Christ“, sagte der Flüchtling. „Aber ich besitze dieses Buch noch nicht, danke sehr.“
„In Syrien leben total viele Christen“, sagte Ludger. „Ich glaube, das war auch schon mal eine Frage in ,Wetten, dass…?’. Die hauen ab, weil sie Angst vor den Fanatikern haben.“
Kerstin und Oliver schwiegen, das war wirklich peinlich. „Soll ich die Prince-CD holen?“, flüsterte Kerstin in Olivers Ohr. „Nee“, flüsterte Oliver, „da müssen wir jetzt durch.“
„Ihr habt es doch nur gut gemeint“, sagte Galina. Wieso verstand die jetzt plötzlich was?
„Für mich scheint sich niemand zu interessieren“, sagte Monika. „Ich wohne doch im Heim, wie der junge Mann.“
My home is your home
Zum Essen kamen sie erst etwas verspätet, weil Xavier und Konrad sich mehr für die Geschenke des jeweils anderen interessierten als für ihre eigenen und sich deshalb zwei Wutanfälle von epischer Dimension leisteten. „Kleine Kinder“, sagte Ludger, „sind der Mensch pur, also ohne die Zivilisation und die Gesellschaft und all das. Deshalb sind die so süß und so anstrengend.“
„Sie sind ein unglaublich kluger Mann“, sagte Monika. Dann wandte sie sich dem Flüchtling zu, der auf ihrer anderen Seite saß und den sie, auf seine Art, auch interessant fand, auch wenn er viel zu jung für sie war. „Wie geht es Ihrer Familie?“, fragte Monika, „haben Sie auch Kinder?“
„Moment“, sagte der Flüchtling, „fängt das Essen an?“ Er faltete die Hände und begann zu beten. Er war schwierig zu verstehen, wahrscheinlich versuchte er das „Vaterunser“ auf Englisch, ohne den englischen Text genau zu kennen.
Die übrige Runde schaute dem Flüchtling betreten zu. „Das ist nun mal seine Kultur“, sagte Kerstin, „ich finde, das sollten wir akzeptieren.“
„Natürlich“, sagte Oliver.
Als der Flüchtling fertig war, faltete er seine Serviette auseinander und legte sie auf seinen Schoß. „Ich bitte um Verzeihung“, sagte er, „ich wollte Sie nicht in Verlegenheit bringen.“
„Ist doch okay“, sagte Oliver.
„Ich habe mich an dieses Ritual gewöhnt, das Beten“, sagte der Flüchtling. „Es erinnert mich an mein Elternhaus und stiftet mir Trost. Ich habe verstanden, dass es in Deutschland anders ist. Danke dafür, dass Sie Geduld mit mir hatten.“
„Das ist wirklich kein großes Ding“, sagte Oliver. „My home is your home. Christians welcome.“
Er wollte die Gastgeber nicht kränken
Der Flüchtling wandte sich zu Monika. „Sie fragten mich nach meinen Kindern. Ich mag Kinder wirklich sehr. Der Gedanke, in anderen fortzuleben, kitzelt ja auch ein wenig die Eitelkeit. Aber ich werde wohl keine Kinder haben, ich bin homosexuell. Das war einer der Gründe für meine Flucht.“ Der Flüchtling lachte, zum ersten Mal. „Dass ich das in einer solchen Runde, vor Unbekannten, einfach so erzählen kann, ist für mich eine neue Erfahrung. Ich wollte es unbedingt ausprobieren, deshalb war ich glücklich über ihre Einladung.“
Auch Ludger lachte. „Um einen schwulen Christen für ein Weihnachtsessen zu finden, hätte Oliver wirklich nicht die Flüchtlingsinitiative bemühen müssen. Hätten Sie eigentlich Interesse daran, ins Pizzabusiness einzusteigen? Have you goat on that?“
„Ich bin Lehrer für Geographie und Kunst. Pizza kenne ich natürlich, aber in Damaskus gibt es nicht sehr viele Pizzerien.“
„Perfekt. Mit Hilfe der Geographie finden Sie sich auf der Quattro Stagioni schnell zurecht, und die Kunst hilft bei der Mista. Lassen Sie uns im neuen Jahr mal reden.“
Der Flüchtling meinte, dass er die Pizza mit Gänsebraten, Trüffel und Austern interessant fände, aber er rege an, die Beläge nicht zu mischen, sondern zu trennen, wie bei der Quattro Stagioni, vielleicht mit Scampi als viertem Belag.
„Das nennen wir dann Quattro di Natale“, sagte Ludger. „You are my man.“
Der Flüchtling sagte, dass es ihm wirklich sehr unangenehm sei, aber er müsse die Runde jetzt leider verlassen. Ganz in der Nähe finde nämlich eine Christmette statt, und darauf freue er sich ebenfalls sehr, genau wie über diese Einladung. Die Teilnahme daran sei etwas, das sein Glaube ihm nahelege, er hoffe, dass er die Gastgeber damit nicht kränke.
„Ach, das macht doch nichts“, sagte Oliver. „Könnten wir ja mitgehen“, sagte Galina. „In diesem Rock?“, fragte Kerstin. „Warum nicht, das habe ich seit Jahrzehnten nicht gemacht“, sagte Ludger.
„Und was wird aus mir?“, fragte Monika.
Dann brachen sie auf, der Flüchtling schob den Rollstuhl, und Oliver blieb bei den Kindern.
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