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Wer braucht noch eine City-Wohnung, wenn man digital im Clubhouse einziehen kann?
© IMAGO / Cavan Images

Wohnungen für alle – dank Clubhouse: Wie eine App Berlins größtes Problem löst

Im „Clubhouse“ wird endlich wieder geplaudert, diskutiert, gelästert. Ihren größten Nutzen könnte uns die App jedoch in einem ganz anderen Bereich erweisen.

Ist Ihnen etwas aufgefallen? Berlin wirkt gerade wie ausgestorben. Okay, das liegt an dieser elenden Pandemie. Das ist aber auch ein zähes Ding. Und wenn es nicht an der Pandemie läge, läge es am recht ungemütlichen Wetter. Aber selbst wenn es den aktuellen Lockdown und Temperaturen um die null Grad derzeit nicht gäbe, wären zumindest die hippen Viertel von Berlin wie Kreuzberg, Neukölln und natürlich Mitte aktuell eventuell nicht sonderlich belebter.

Daran trägt eine neue App Schuld, die so ähnlich klingt wie ein Fitnessstudio für Menschen, die sich gerne den Kaschmirpulli um die Schultern binden, wenn die Sonne auf Sylt am späten Nachmittag doch noch mal überraschend herausschaut: Clubhouse.

Dank einer App haben sie das Reden wiederentdeckt

Dabei ist die Hauptfunktion des Programms nicht sonderlich spektakulär: Man kann über eine Entfernung miteinander reden. Ältere erinnern sich vielleicht noch an die durchaus praktische Erfindung Telefon und Begriffe wie Wählscheibe, Klingeln und Mondscheintarif. Jüngere Menschen hingegen wissen vielleicht gar nicht mehr so ganz genau, warum es auf ihrem Smartphone eine merkwürdige App mit einem komischen Hörersymbol gibt.

Nun haben aber diese etwas jüngeren Menschen – und dazu zählt in Berlin praktisch jeder unter 60, der noch ein paar Converse im Schrank hat – plötzlich das Reden wiederentdeckt. Sogar etwas ältere Menschen wie der Gasleitungs-Influencer Gerhard Schröder oder der thüringische Ministerpräsident und Gamer Bodo Ramelow sind dort zu finden. Doch von Schröderchen und Ramelowchen soll hier gar nicht die Rede sein, sondern von dem, was auf Clubhouse geschieht.

Es wird dort diskutiert, gelacht, gelästert und dank eines „Ruheraums“ sogar ab und an auch geschwiegen. Wie das nun ja schon ein paar Jahrtausende erprobte Kommunikationskonzept „Unterhaltung führen“ eben so ist.

[Wenn Sie alle aktuellen Nachrichten live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere runderneuerte App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]

Es wird bis in die späte Nacht und ab dem frühen Morgen zudem vernetzt, gefolgt oder ausprobiert und manche versuchen dabei nicht einmal ansatzweise, ihren offensichtlichen Narzissmus auch nur zaghaft zu verstecken. Wenn der Begriff „Jahrmarkt der Eitelkeiten“ jemals eine perfekte Entsprechung hatte, dann in Clubhouse.

Tagesspiegel-Kolumnist Peter Wittkamp.
Tagesspiegel-Kolumnist Peter Wittkamp.
© Peter von Felbert

Da ich selbst leider aus Recherchezwecken für diese Kolumne nahezu gezwungen war, zehn Tage lang hintereinander wirklich äußerst ausführlich auf der Plattform zu investigieren, ist mir nach der fünften sehr kurzen Nacht etwas aufgefallen: Clubhouse macht süchtig. Viele Nutzer berichten, dass sie ebenfalls kaum noch schlafen und sich auch weitere Symptome einer Sucht bemerkbar machen.

Manche vergessen völlig, zu duschen oder sogar zu essen

Manche liegen 16 oder 17 Stunden am Tag mehr oder weniger am selben Fleck der Wohnung, reden mit Wildfremden oder Freunden und vergessen dabei völlig, zu duschen oder sogar zu essen. Wenn überhaupt gegessen wird, kommt die Mahlzeit meist vom Lieferdienst.

Nun mag der ein oder andere über dieses Verhalten die Nase rümpfen – ich finde das alles richtig gut! Denn meiner Ansicht nach liegt hier die Lösung für eines der im wahrsten Sinne drängendsten Probleme der Stadt versteckt: die Wohnungsnot.

[„Für Narzissten ist es reines Crack“: Was unsere Kolumnistin Aline von Drateln auf Clubhouse erlebt hat.]

Wir haben gelernt: Auf Clubhouse sammeln sich vor allem Menschen, die oft was mit Medien machen oder über die Medien öfter was machen. Politiker:innen, Influencer:innen, Schauspieler:innen, Künstler:innen, Moderator:innen, Redakteur:innen, Model:innen, sogar Gagschreiber:innen.

Das sind doch genau die Leute, die Ihnen, verehrte Leser:innen, die schöne Vier-Zimmer-Altbauwohnung im Prenzlauer Berg unter dem eigentlich gut eingesessenen Hintern weggentrifiziert haben.

Jahrmarkt der Eitelkeiten: Die Social-Media-App bietet analoge Begegnungen in virtuellen Räumen
Jahrmarkt der Eitelkeiten: Die Social-Media-App bietet analoge Begegnungen in virtuellen Räumen
© picture alliance/dpa

Wir haben weiterhin gelernt: All diese Menschen bewegen sich im Grunde gar nicht mehr, weil sie den kompletten Tag vor der App sitzen und nichts anderes machen. Sie kochen nicht mehr. Sie duschen nicht. Da brauchen sie also auch keinen Wohnraum mehr und erst recht nicht die schöne Vier-Zimmer-Altbauwohnung im Prenzlauer Berg!

Wir können einen guten Teil der bei Clubhouse Aktiven daher sehr platzsparend in einem riesigen Plattenbau am äußersten Stadtrand unterbringen und die frei gewordenen Wohnungen neu ausschreiben.

Im Idealfall merken sie es gar nicht, weil sie gebannt auf Clubhouse verfolgen, wie gerade alle Samwer-Brüder und Philipp Amthor in einer sehr spannenden Diskussion mit zwei Interior-Influencerinnen und Günther aus Spandau darüber reden, was Realsatire darf.

Peter Wittkamp ist Werbetexter und Gagschreiber. Er ist derzeit Hauptautor der „Heute Show Online“ und hat die preisgekrönte Kampagne #weilwirdichlieben der Berliner Verkehrsbetriebe mit aufgebaut. Ab und an schreibt er ein Buch, publiziert bei Instagram als Peter_Wittkamp oder twittert unter dem leicht größenwahnsinnigen Namen @diktator. Peter Wittkamp lebt mit Frau und Kind in Neukölln. Im Tagesspiegel beleuchtet er alle 14 Tage ein Berliner Phänomen.

Peter Wittkamp

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