Weg aus dem Lockdown-Teufelskreis: Wie Deutschland schon im März fast coronafrei werden kann
Mitte Februar könnte die Inzidenz unter die 50er-Marke sinken. Dennoch fordern Wissenschaftler eine Verlängerung der harten Maßnahmen. Sie haben gute Gründe.
Seit ein paar Tagen zeichnet sich ab, worauf die Menschen in Deutschland seit Wochen hoffen: Die zweite Welle der Corona-Pandemie scheint ihren Scheitelpunkt überschritten zu haben. Die Zahlen von Neuinfektionen gehen zurück, jede Woche um etwa 18 Prozent. Es ist eine Entwicklung, die den starken Einschränkungen des alltäglichen Lebens gedankt ist.
Schulen und Kitas sind bis auf die Notbetreuung geschlossen, die meisten Geschäfte sind zu und private Aktivitäten auf einen engen Personenkreis beschränkt. Überall dort, wo es geht, arbeiten die meisten Menschen daheim.
Noch bis zum 14. Februar soll dieser Lockdown bundesweit andauern. Ab dann, so die Prognose, könnten die Neuinfektionen wieder bei unter 50 Fällen pro 100.000 Einwohner liegen.
Und dann? Es wäre nicht das erste Mal, dass die Zahlen von Neuinfektionen in dieser Pandemie nach einem starken Anstieg abgeflaut sind.
Strategiewechsel gegen die Pandemie
Bereits im vergangenen Frühjahr drohte das Gesundheitssystem in einer ersten Pandemiewelle überlastet zu werden. Auch damals fuhr man das gesellschaftliche Leben stark herunter – mit Erfolg. Das Infektionsgeschehen flaute ab, die Ausbreitung des Virus Sars-Cov-2 schien unter Kontrolle.
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Doch bereits im Spätsommer kehrte die Pandemie mit voller Wucht zurück. Wieder wurde das alltägliche Leben eingeschränkt, erst zögerlich, dann drastisch, bis sich endlich Erfolge zeigten. Die Sorge ist groß, dass sich die Entwicklungen wiederholen könnten: Lockdown-Lockerungen führen zu mehr Ansteckungen, die wieder neue Einschränkungen nötig machen, und so weiter.
„Für viele ist der Gedanke bedrückend, dass dieser Jojo-Lockdown noch bis Jahresende weitergehen könnte“, sagt Michael Hallek. Er ist Direktor der Klinik für Innere Medizin an der Uniklinik Köln und betreut seit Monaten Covid-19-Patienten. Mediziner wie Hallek überlegen, wie ein Weg aus dem Lockdown-Teufelskreis aussehen könnte. Für sie ist klar: Die bisherige Strategie Deutschlands im Umgang mit dem Virus ist ineffizient.
Obwohl seit November das öffentliche Leben heruntergefahren ist, sind über 50.000 Menschen hierzulande an oder mit Covid-19 verstorben. Die Ausbreitung des Virus eindämmen, mit ihm leben, „flatten the curve“: Das funktioniert nicht auf Dauer, sagt Hallek. Dafür ist das Virus zu ansteckend und verursacht zu oft schwere Krankheitsverläufe.
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Hallek und andere Forschende schlagen stattdessen einen Strategiewechsel vor. Lockerungen des Lockdowns sollen nicht bereits bei einer Inzidenz von 50 Fällen pro 100.000 Einwohner ermöglicht werden – sondern erst, wenn die Zahl der Neuinfektionen bei nahezu Null liegt.
Dafür sollen Einschränkungen nicht mehr bundesweit gelten, sondern nur noch in Gebieten, wo eine bestimmte Inzidenz überschritten wird. „No Covid“ nennen sie diesen Plan. Ähnliche Strategien gibt es bereits in anderen Ländern wie Taiwan, Australien oder Finnland. Hier werden seit Monaten nur noch Einzelfälle registriert, während das alltägliche Leben nahezu normal weitergeht.
Dem Virus zuvorkommen
Für Deutschland würde eine No-Covid-Strategie bedeuten, dass der aktuelle Lockdown um zwei bis vier Wochen verlängert wird. Dieser Preis klingt hoch – die Maßnahme ist jedoch Hallek zufolge unverzichtbar.
Denn sind die Zahlen der Neuinfektionen zum Ende des Lockdowns nicht niedrig genug, könnte sich innerhalb weniger Wochen daraus ein erneutes rasantes Ausbruchsgeschehen entwickeln, ähnlich dem in Großbritannien und Irland in den vergangenen Monaten. Erst recht, wenn sich dann auch hier die neuen, ansteckenderen Mutationen von Sars-Cov-2 verbreiten. Diese Gefahr gilt es, mit allen Kräften zu verhindern, sagt Hallek. „Die klare Empfehlung lautet daher, den Lockdown zu verlängern.“
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Zudem wäre die Belohnung für diese Anstrengungen umso höher. Würden die Neuinfektionen tatsächlich nahezu bei Null liegen, wenn die Lockdown-Maßnahmen aufgehoben werden, könnte der Teufelskreis vom Ansteigen und Abflauen der Pandemie nachhaltig durchbrochen werden, sagt Dirk Brockmann. Er ist Leiter der Forschungsgruppe für komplexe Systeme an der Humboldt-Universität Berlin und modelliert das Ausbreitungsgeschehen von Krankheiten.
Solche Entwicklungen verlaufen immer in Wellen, sagt Brockmann. So geschieht es auch bei der aktuellen Coronapandemie. Der Grund: Politische Entscheidungen beeinflussen die Ausbreitung des Virus – doch erst dann, wenn ein Ereignis bereits eingetreten ist. Die Maßnahmen zur Eindämmung hinken dem tatsächlichen Ausbruchsgeschehen immer hinterher.
Um diesen Prozess zu stoppen, muss man ihn umdrehen, sagt Brockmann, und dem Virus zuvorkommen. Sind die Infektionszahlen einmal niedrig, können die derzeit weiterhin überforderten Gesundheitsämter einzelne Ausbruchsgeschehen nachverfolgen. „Wenn wir schneller auf Ausbrüche reagieren können, ändert sich die Situation komplett“, sagt Brockmann, obwohl die Mechanismen im Umgang mit dem Virus die gleichen sind: Tests, Kontaktverfolgung, Isolation.
Doch je weniger neue Fälle auftreten, desto besser lassen sie sich nachverfolgen und Infektionsketten brechen – so wie es im Sommer 2020 eine Zeit lang gelungen ist. Je schneller getestet und isoliert werden kann, desto erfolgreicher ist die Eindämmung. „Wir müssen deshalb automatisiert reagieren“, sagt Brockmann: Wenn das Infektionsgeschehen doch zunimmt, müssen Maßnahmen sofort ergriffen werden.
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Gebiete, in denen wenige bis gar keine Infektionen auftauchen, könnten dann zu „grünen Zonen“ erklärt werden. Dort könnten sich Menschen freier bewegen und der Alltag mit weniger Einschränkungen stattfinden. Solche Gebiete müssten wiederum vor den Eintrag des Virus aus „roten Zonen“ mit hoher Inzidenzzahl geschützt werden.
Wie genau solche Zonen definiert wären, bliebe zu klären, sagt Brockmann. Geografische Grenzen sind dabei mitunter nur bedingt sinnvoll, da sie nicht immer Mobilitätsströme abbilden. Pendeln beispielsweise viele Menschen aus dem Umland regelmäßig in eine Stadt, hilft es wenig, in beiden Gebieten unterschiedliche Maßnahmen zu ergreifen.
Orientierung an Erfolgen
Doch wie ließe sich die Bevölkerung von einem Strategiewechsel in der Pandemiebekämpfung überzeugen? Denn die Menschen sind von den immer wieder wechselnden Maßnahmen müde geworden. Nochmal zwei Wochen durchhalten, noch eine Maskenverordnung mehr und doch scheint sich die Situation nicht grundlegend zu ändern.
Cornelia Betsch beobachtet seit Monaten, wie die verordneten Maßnahmen in der Bevölkerung ankommen und umgesetzt werden. Sie lehrt Gesundheitskommunikation an der Universität Erfurt und initiierte das Umfrageprojekt „Covid-19 Snapshot Monitoring“ (COSMO). Seit März 2020 wird dafür wöchentlich bis zweiwöchentlich eine repräsentative Stichprobe von 1000 Menschen aus Deutschland zur Stimmung in der Pandemie befragt.
[Alle aktuellen Entwicklungen in Folge der Coronavirus-Pandemie finden Sie hier in unserem Newsblog. Über die Entwicklungen speziell in Berlin halten wir Sie an dieser Stelle auf dem Laufenden.]
Seit Ende 2020 zeigt sich darin eine deutliche Tendenz, sagt Betsch: Das Vertrauen der Menschen in die Regierung sinkt, ausgerechnet vor allem bei denen, die die Maßnahmen zum Schutz vor dem Virus eigentlich befürworten.
Daraus entwickelt sich eine Trägheit, auf veränderte Situationen zu reagieren – was vor allem angesichts der neu aufgetretenen Mutationen schlecht ist. Eine Strategie wie „No Covid“, bei der eindeutig ist, wann welche Maßnahmen ergriffen oder gelockert werden, würde die Motivation der Menschen steigern, sagt Betsch.
Das zeigen die Daten aus COSMO: Würde etwa klar sein, dass die Lockdown-Maßnahmen bei einem bestimmten Inzidenzwert gelockert werden, steigert das den Willen, Einschränkungen bis dahin in Kauf zu nehmen.
Bisher basieren viele Lockdown-Maßnahmen noch auf freiwilligem Verhalten. Kleine Strafen würden die Wahrnehmung über den Sinn dieser Maßnahmen fördern, sagt Betsch – zu hohe Strafen dagegen nur ein Verhalten fördern, das auf diese Strafen fixiert ist. Auch ein gewisser Wettbewerb zwischen Regionen um das geringere Infektionsgeschehen könnte dafür sorgen, dass Landkreise schneller zu einer „grünen Zone“ werden.
In den kommenden Tagen wollen der Mediziner Michael Hallek und andere Forschende Maßnahmenkataloge für politische Entscheider bereitstellen. Sie sollen dabei helfen, erneuten Ausbrüchen vorzubeugen. Dass sich das Infektionsgeschehen dauerhaft niedrig halten lässt, zeigen Städte wie Münster oder Rostock.
Solche Erfolge sollten zur Orientierung dienen, sagt Hallek, ebenso positive Entwicklungen wie das Sinken von Inzidenzzahlen. Wenn man sich nur auf Katastrophennachrichten stützt, führt das hingegen zu Lethargie und Pandemiemüdigkeit.
Vier bis sechs Wochen, schätzt Michael Hallek: So lange müsste man den Lockdown noch durchhalten. Im März könnte dann das gesamte Bundesgebiet eine grüne Zone sein, sagt er. „Wir haben das schon einmal geschafft, als wir entschlossener waren.“