Gentrifizierung ist ein Kampfbegriff: Es gibt keine Verdrängung in Prenzlauer Berg
Schauspielerin Anna Thalbach findet, dass sich ihr Kiez in den vergangenen 20 Jahren verändert hat – zum Negativen. Eine Gegenrede.
Philipp Lengsfeld, 47, ist Ostberliner und lebte von 1990 bis 1996 in Prenzlauer Berg. Er ist Mitglied der CDU-Mitte und war von 2013 bis 2017 Mitglied des Deutschen Bundestags.
In der schönen Tagesspiegel-Reihe „Eine Runde Berlin“ gab es letztens den „Spaziergang im Präteritum“ durch den Kiez rund um die Zionskirche, das wunderschöne und interessante Übergangsgebiet zwischen Prenzlauer Berg und Mitte, mit der Berliner Schauspielerin Anna Thalbach, die sich in dieser Gegend als „letzte Mohikanerin“ sieht. [Lesen Sie hier den Beitrag zum Kiezspaziergang mit Anna Thalbach nach]
Der Artikel war gut lesbar, hat mich aber regelrecht auf die Palme gebracht: Die ganze Kiezbegehung – die Überschrift weist den Weg – trieft nur so vor Nostalgie und einer Weltsicht, die man als reaktionär und selbstgerecht ad acta legen könnte, wenn sie sich nicht noch durch eine gehörige Portion Propaganda passiv-aggressiv in Szene setzen würde.
Die Kurzfassung: Früher war hier alles besser. Da gab es „den süßen Vietnamesen, ein Kieztreffpunkt“, „gute Bäcker“ (ohne die man „kaum“ noch frühstücken kann), „eine Pferdetherapeutin“ und sogar „eine Kohlehandlung“. Selbst das Planschbecken Weinberg war „früher“ besser.
Zwar ist es jetzt „rein optisch schön hier“, aber „hübsche Fassade genügen nicht, um eine Bindung zwischen Mensch und Kiez zu schaffen“. All diese Entwicklungen gingen „nicht von Menschen aus“ und seien das gleiche „Gentrifizierungsmuster“, wie in anderen Städten.
Nein, nein, nein. Ich kann diese Propagandaleier aus Prenzlberg oder Mitte einfach nicht mehr hören! Nicht nur, weil ich das Kunstwort „Gentrifizierung“ noch nie leiden konnte. Sondern, weil es einfach keine auch nur halbwegs korrekte Beschreibung von dem ist, was wirklich abgelaufen ist.
Der Wandel des Bezirks ist eine normale Entwicklung
Nein, die Altbauviertel von Prenzlauer Berg und Mitte sind Orte des ständigen Wandels, der – wie soll es auch anders sein – von Menschen gemacht wurde und wird. Und ja, es gab immer einen großen Zuzug, die Quartiere, hatten und haben eine große Anziehungskraft und es gab einen ständigen Generationswechsel, in Wellenbewegungen, ich würde schätzen, alle drei bis vier eine neue.
Die erste Welle würde ich dabei auf den Zeitraum 1986-88 datieren. Ich selber war Teil der zweiten Welle 1990-92, dem Zuzug ganzer Abiturientenjahrgänge Ostberlins nach Prenzlauer Berg und Mitte – sehr schnell ergänzt von neugierig-mutigen Studenten aus dem Westen, meist dem Süden der Republik – so habe ich meine Frau kennengelernt.
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Anna Thalbach, die offenbar seit 1999 im Zionskiez wohnt, kam demnach in der etwa vierten Welle. Definitiv ein wenig spät um sich ernsthaft als ‚letzter Mohikaner' zu bezeichnen.
Ja, es gab also massenweise Zuzug, in mehreren Wellen, aber es gab keine wirkliche Verdrängung. Denn neben dem stetigen Zuzug gab es auch immer einen starken Abstrom.
Bei der ersten Generation ist dies offenkundig und unstrittig – zu Zeiten der untergehenden DDR sammelten sich in den Altbauquartieren von Prenzlauer Berg und Mitte freie Künstler, widerständige Jugendliche und anderes alternatives Volk in leerstehenden Wohnungen, zunächst meist im Hinter- oder Seitenhaus. Diese Wohnungen standen leer, da das Leben in diesen verfallenen Altbauquartieren alles andere als angenehm war.
Viele sind freiwillig gegangen
Mag sich bei Anna Thalbach (die mit Jahrgang 73 praktisch meine Generation ist, aber ihre Kindheit und Jugend DDR-bedingt im Westen verbracht hat) bei Kurzbesuchen in Ostberlin ein wild-romantisches Bild der schwarzen Fassaden in der Choriner Straße und der Zionskirchstraße eingeprägt haben („ich habe sie geliebt“), so war die Realität weitaus trister: Kohleheizungen, Außentoilette, keine ordentlichen Duschen oder Bäder – gerade in den völlig runtergekommenen, düsteren Seiten- und Hinterhäusern war das Leben vor der Wende hart und muffig.
Wie es zu diesem Artikel kam:
- Für einen Artikel ist der Tagesspiegel mit Anna Thalbach durch ihren Kiez in Prenzlauer Berg spaziert – dabei beklagte die Schauspielerin Verdrängung und Gentrifizierung rund um den Zionskirchplatz.
- Sie sagt, diese Entwicklung gehe nicht von den Menschen im Kiez aus.
- Der CDU-Politiker Philipp Lengsfeld, ein ehemaliger Bewohner Prenzlauer Berg, sieht das anders – nachdem er den Artikel mit Thalbach gelesen hat, schreibt er diese Gegenrede.
- Lengsfeld sieht Zuzug, Modernisierung, wechselnde Läden und Bewohner als natürliche Entwicklung. Der Kiez lebt vom Wandel.
- Er bezeichnet Gentrifizierung als Kampfwort – nur jene würden es benutzen, die alles so belassen wollen, wie sie es vorgefunden haben.
Deshalb waren viele „Mohikaner“ ganz wild darauf zunächst in die modernen Plattenneubauten und nach der Wende zunehmend auch in schöne kleine Eigenheimhäuschen im Ostberliner Rand- und Umland zu ziehen.
Wie gesagt, verdrängt hat die erste und zweite Generation niemanden. Im Gegenteil, die erste Generation hat den Prenzlauer Berg gerettet (die Kommunisten wollten ja mit dem Abriss der Rykestraße eine großflächige Umgestaltung beginnen) und zusammen mit der zweiten Generation sehr viel von dem aufgebaut, was dann später von den Nostalgikern als sakrosankt erklärt wurde.
Aber ich bin fest davon überzeugt, dass es auch danach keine Verdrängung in ernstzunehmendem Umfang gegeben hat. Und das lag nicht nur daran, dass die alten kieztreuen Bewohner gestorben sind – die Altbauquartiere haben sich ganz auffällig verjüngt und so kam die erste große Welle in die Vorderhäuser.
Nein, viele Zugezogene wollten überhaupt nicht das ganze oder auch nur das halbe Leben in den Altbauquartieren verbringen. Denn das ist doch gerade die Freiheit: Man zieht als Student irgendwo hin, wo es einem hoffentlich gefällt und dann kommen berufliche Karriere und Familiengründung und es ergeben sich andere Wünsche und Notwendigkeiten.
Das Wort Gentrifizierung benutzen jene, die keine Veränderung wollen
Viele zogen auch innerhalb Deutschlands, Europas oder im global village um. Ich schätze, dass die mehrheitliche durchschnittliche Verweildauer der zugezogenen Generationen um die fünf bis acht Jahre war. Ein völlig normaler Prozess, der „von Menschen gemacht ist“. Der immer noch hohen Attraktivität der Kieze hat dies keinerlei Abbruch getan, im Gegenteil.
Durch Sanierung und Neubau entstand hochwertiger Wohnraum, der wieder neue Generationen anzieht. Wir sind 1996 erst nach Alt-Pankow und dann später in ein Vorstadthaus in Nordend gezogen und sind jetzt in Moabit. Unsere Tochter wohnt ganz in der Nähe von Anna Thalbach.
Gehe ich zu weit, wenn ich sage, dass praktisch niemand verdrängt wurde? Ich glaube nicht. Der Kampfbegriff „Gentrifizierung“ verschleiert und verwirrt. Und war in der oft heftig geführten politischen Auseinandersetzung immer nützlich, insbesondere als Verteidigung des Status quo, wie ihn die jeweilige Generation vorgefunden hatte und dann meist gegen alle weiteren Veränderungen verteidigen wollte.
Ich erinnere nur an den quälenden Kampf um die Randneubaubebauung Belforter/Straßburger Straße in der Nähe des Wasserturms – hier kam der letzte Widerstand von Neuwohnungsbesitzern aus den frisch sanierten Häusern auf der anderen Straßenseite.
Fakt ist, dass die geschätzt fünf Prozent pro Generation, die gerne bleiben wollten, nach meiner Beobachtung in den Kiezen bleiben konnten. Ein oder zwei Umzüge sind innerhalb von 25-30 Jahren dabei natürlich meist unumgänglich (und ja, vielleicht auch mal wegen legitimen Eigenbedarfs eines Neuwohnungsbesitzers), aber dies ist auch völlig normal und nicht weiter erwähnenswert.
Und auch das will ich mal aussprechen: Ich mache niemandem einen Vorwurf, der unbedingt sein Leben in einer Gegend verbringen will, aber ich sehe es absolut nicht als Heldentat, immer in einem Karree zu bleiben und zwanzig Jahre, wie bei Anna Thalbach, beeindrucken mich da schon gar nicht. Das ewige Lied von der Gentrifizierung kommt mir mittlerweile wie eine gesprungene Propagandaplatte vor.
Gegen die Negativnostalgie
Nein, die allermeisten sind freiwillig gekommen und auch freiwillig oder auf Grund persönlicher Umstände und Veränderungen wieder weggezogen. Und auch das habe ich beobachtet: Am schlechtesten redet die jeweilige Generation über ihren Kiez kurz vor dem Wegziehen.
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Nein, früher war nicht alles besser, sondern die Altbauquartiere haben einen intrinsischen Charme und werden von jeder neuen Generation auch wieder neu entdeckt. Und das muss man oder frau auch nicht verschämt verschweigen: Deshalb sage ich jetzt für Anna Thalbach: Die Gegend rund um die Zionskirche, dem starken Herz des Kiez und einen toller Treffpunkt mit stolzer Vergangenheit als Ort des Widerstands gegen NS- und SED-Diktatur, ist nicht nur sehr schön, sondern einfach cool: Die gemütliche und trotzdem durchsatzstarke La Focaccerria in der Fehrbelliner Straße, ab und zu ein Herthaspiel (manchmal auch im Keller) in der Fußballkneipe FC Magnet am Berg, der Buchladen ocelot.
Mir fallen sofort Dutzende Orte ein, die man gegen die Negativnostalgie von Anna Thalbach ins Feld führen könnte.
Warum werden in diesem Land zu oft negative Propagandaweltbilder bedient, statt einfach mal zu dem zu stehen, was man gut findet? Ich verstehe es nicht, aber es missfällt mir außerordentlich.
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