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9/11 in Sarasota, Florida: Weltgeschichte im Klassenzimmer

In einer Grundschule in Florida lesen Kinder George W. Bush die Geschichte einer Ziege vor. Dann kommt ein Mann und flüstert dem Präsidenten etwas ins Ohr. Der guckt auf einmal komisch. Unsere Reporterin hat Zeugen dieses historischen Moments aufgespürt.

Ein Hurrikan war angekündigt. Im Spätsommer passiert das öfter in Florida. Es stürmt auch schon ein bisschen, aber noch ist alles friedlich am Himmel, und im Colony Beach and Tennis Resort sowieso. Hier logiert George W. Bush, der die Vereinigten Staaten von Amerika seit nunmehr acht Monaten regiert. Vor der Luxusanlage liegt der blendend weiße Sandstrand von Longboat Key, einer kleinen vorgelagerten Insel südlich der Tampa Bay. Palmen werfen zwischen den Apartments ihre Schatten und umrahmen die Tennisplätze des Resorts, die Golfanlage liegt ganz in der Nähe.

Am frühen Morgen war der Präsident dort joggen, auch das Briefing mit seinen Beratern hat er inzwischen hinter sich. Heute, am 11. September des Jahres 2001, steht ein netter kleiner Termin an, Präsidentenroutine. George W. Bush will eine neue Bildungsinitiative vorstellen. 16 Zweitklässler erwarten ihn in der Kleinstadt Sarasota zu einer Lesestunde. Bush mag solche volksnahen Termine, einen Tag vorher hat er das gleiche Programm schon in einer Schule in Jacksonville absolviert. Ein paar freundliche Worte, Händeschütteln, ein Foto mit der Lehrerin hier und dem kleinen Schüler dort, bitte lächeln.

Als sich die schwarze General-Motors-Limousine des Staatskonvois um 8.45 Uhr vor die Emma-E.-Booker-Grundschule schiebt, kann Bush nicht wissen, dass diesmal anders kommt. Dass dieser 11. September der prägendste Tag seiner Präsidentschaft wird, vielleicht seines Lebens. Er wird Amerika verändern – und die Welt.

Während Bush in Florida mit dem Händeschütteln beginnt, steuert knapp 2000 Kilometer weiter nördlich ein Mann namens Mohammed Atta eine Boeing 767, Flug 11 der American Airlines, in den Nordturm des New Yorker World Trade Centers. Im Vorbeigehen raunt ein Mitarbeiter dem Präsidenten kurz darauf etwas von einem Flugzeugabsturz zu. Ein Turm des World Trade Centers sei betroffen, mehr wisse man noch nicht. Der Schultermin könne ablaufen wie geplant.

Eine zweite Maschine, United-Airlines-Flug 175, steuert geradewegs auf den Südturm des höchsten New Yorker Gebäudekomplexes zu. Im gleichen Augenblick, um kurz nach 9 Uhr, betritt George W. Bush mit einem freundlichen „Guten Morgen“ Klassenraum 301 der Grundschule in Sarasota. Ein Mädchen, das die meisten seiner Mitschüler überragt, sieht den Präsidenten mit großen Augen an.

Aus dem Mädchen ist inzwischen eine junge Frau geworden. Größer als die meisten Gleichaltrigen ist Mariah Williams immer noch, die 17-Jährige ist schlank und drahtig. Sie habe damals gar nicht glauben können, dass der Präsident wirklich ihre Schule besucht, sagt sie. „Erst, als er vor uns stand, war ich mir sicher, und ich freute mich.“ Seit drei Jahren besucht Williams nun die Militärakademie von Sarasota – das habe aber nichts mit ihrer Begegnung mit dem Präsidenten zu tun, wirft sie ein, noch bevor man danach fragt. Ein bisschen mehr Sport mache sie wohl, ansonsten gestalte sich der Unterricht kaum anders als an einer normalen Schule.

Williams selbst allerdings geht kaum als gewöhnliche Mitschülerin durch. Oft musste sie ihren Freunden die Geschichte von Bushs Schulbesuch erzählen, zuletzt wieder etwas öfter als sonst. Manchmal komme sie sich deshalb sogar ein bisschen berühmt vor, sagt sie. Dann richtet sie sich auf, streckt ihre Schultern nach hinten und macht sich noch ein Stück größer. „Ich war ja Teil eines ganz wichtigen Tages der Geschichte. Ich war mittendrin.“

Vieles erkennt sie nicht wieder, als sie zehn Jahre später an jenen kleinen Ort zurückkehrt, der große amerikanische Geschichte schrieb. Im Klassenraum 301 ist es ruhig, aufgeräumt, etwas stickig, außerdem sehe alles „irgendwie anders“ aus, findet Williams, sie muss schmunzeln. Die blauen Stühlchen kennt sie noch, aber wo sind die vielen Bilder? „Da drüben haben wir extra für Bushs Besuch ein Poster vom Weißen Haus aufgehängt. Das haben sie inzwischen wohl entfernt.“ Übrig geblieben ist ein großer weißer Fleck an der Wand.

So bunt geschmückt wie damals ist das Zimmer tatsächlich nicht mehr. Alles wirkt etwas heller und moderner, vier Computer stehen jetzt in einer Ecke, ein digitales Board hat die alte Schiefertafel ersetzt. Dort, direkt vor der Tafel, sagt Williams, habe der Präsident gesessen. Mit dem Kopf deutet sie auf die Stelle ganz vorn im Raum. Bush hörte zu, während Sandra Kay Daniels, die forsche Lehrerin, ihre Schüler einzelne Silben und Wörter vorlesen ließ. „Jedes Mal, wenn wir ein Wort richtig ausgesprochen hatten“, erinnert sich Williams, „nickte der Präsident und lächelte.“ R-o-b-b-e-r, k-i-t-e, k-i-t, s-t-e-a-l, p-l-a-y-i-n-g, m-u-s-t.

Dann hörte George W. Bush auf, zu lächeln.

Wie der Präsident auf die Nachricht reagiert und wie andere Zeitzeugen den Tag erlebten, lesen Sie auf der nächsten Seite.

Es ist der Augenblick, in dem Andrew Card, der Stabschef des Weißen Hauses, in die Unterrichtsstunde hineinplatzt. Ruhig, aber bestimmt läuft er auf den Präsidenten zu, beugt sich zu ihm hinab und flüstert ihm etwas ins Ohr. Worte, die die Welt ins Wanken bringen.

„Ein zweites Flugzeug ist in den anderen Turm eingeschlagen. Amerika wird angegriffen.“

Amerika wird angegriffen. Das hat es seit Pearl Harbor nicht mehr gegeben, auf dem US-amerikanischen Festland ohnehin noch nie. Und was macht der amerikanische Präsident? Erst einmal nichts. Sieben Minuten lang bleibt er in Klassenraum 301 der Emma-E.-Booker-Grundschule auf seinem Stuhl sitzen und lässt sich von den Kindern ein Stück über eine Hausziege vorlesen. „The Pet Goat“.

An den Inhalt der Geschichte erinnert sich Lenard Rivers nicht mehr. Er weiß nur noch, dass Bush merkwürdig guckt, nachdem ihm der große Mann im Anzug etwas zugeflüstert hat, „wie versteinert, nach oben in die Luft“. Dem Jungen kommt es vor, als habe der Präsident plötzlich das Interesse an der Ziegengeschichte verloren, als sei er nicht mehr konzentriert. Lenard Rivers denkt: „Das muss wohl etwas Schlimmes sein, was Herr Bush da erfahren hat.“

Wer den inzwischen 16-Jährigen besuchen will, muss in eine Siedlung am Stadtrand von Sarasota fahren. Eingeschossige, zum Teil schmuddelige Häuser reihen sich dicht an dicht, eine Klingel sucht man am Hauseingang der Familie Rivers vergebens. Die Tür öffnet sich trotzdem. Sofort stürmen drei kleine Geschwister heran, Lenard selbst schlurft in beigen Shorts und weißem Shirt hinterher.

Die Dimension des 11. Septembers habe er erst ein gutes Jahr später begriffen, erzählt er, in der dritten Klasse muss es gewesen sein. Als die Schüler im Unterricht einen Brief an den Präsidenten schrieben, in dem sie sich für seinen Besuch bedankten und ihr Beileid für die Opfer und ihre Angehörigen ausdrückten, da klickte es bei Rivers. „Auf einmal begriff ich, welche Tragödie sich an dem Tag abgespielt hat, als Bush bei uns war“, sagt er.

Seine Eltern hatten mit dem damaligen Zweitklässler nicht über die Terroranschläge geredet. „Was sollte ich ihm auch sagen?“, fragt Lenards Vater, ohne eine Antwort zu erwarten. Er selbst sei doch völlig überfordert gewesen. Am 11. September trat er eine neue Stelle bei einem Logistikunternehmen an. „Als ich voll motiviert zur Arbeit kam, waren alle komisch drauf und heulten.“

Lenard Rivers besucht heute ganz in der Nähe der Emma-E.-Booker-Grundschule die Sarasota High School. Ein guter Footballspieler ist er, am liebsten würde er Profi werden. Seinen Mitschülern erzählt er nur selten, dass er dabei war, als Bush zum ersten Mal von den Attacken hörte. Und wie seltsam der danach in den Klassenraum starrte, während die Schüler ihm laut vorlasen.

„The Pet Goat“, hallt es an jenem 11. September durch den Raum. Das Schulbuch der Kinder ist auf Seite 153 aufgeschlagen.

Ein Mädchen bekam eine Hausziege. Sie lief gerne mit ihrer Ziege herum. Sie spielte mit ihrer Ziege in ihrem Haus. Sie spielte mit ihrer Ziege in ihrem Hof.

Aber die Ziege tat ein paar Dinge, die den Vater des Mädchens böse machten. Die Ziege fraß Sachen. Sie fraß Büchsen und Büsche. Sie fraß Schüsseln und Scheiben. Sie fraß sogar Mäntel und Mützen.

Eines Tages sagte der Vater: „Diese Ziege muss weg. Sie hat zu viele Sachen gefressen.“ Das Mädchen sagte: „Papa, wenn du die Ziege bei uns bleiben lässt, sorge ich dafür, dass sie aufhört, all diese Sachen zu fressen.“

Der Vater sagte, er wolle es versuchen.

Der Präsident lächelt nicht mehr, er nickt auch nicht mehr. In seinen Händen hält er das Schulbuch mit der Ziegengeschichte. Später wird es heißen, er habe es falschrum gehalten, aber das ist eine Legende. Das Buch ruht in den Händen des Präsidenten, aber er sieht es nicht an, er starrt ins Nichts. Sieben ewige Minuten lang.

In seinem Amtssitz in Washington bildet sich derweil im Büro des Vizepräsidenten Dick Cheney der erste Krisenstab, mit dabei: Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice und Terrorismusberater Richard Clarke. Man müsse sofort den Präsidenten sprechen, heißt es. Doch der sitzt in Florida vor einer Schulklasse und hört:

Also blieb die Ziege, und das Mädchen gewöhnte ihr ab, Schüsseln und Scheiben zu fressen und Mäntel und Mützen. Eines Tages aber kam ein Autodieb zu dem Haus des Mädchens. Er sah ein großes rotes Auto neben dem Haus und sagte: „Ich werde dieses Auto stehlen.“

Er rannte zum Auto und begann, die Tür zu öffnen. Das Mädchen und die Ziege spielten im Hinterhof. Sie sahen den Autodieb nicht.

Während die Kinder eifrig lesen, innehalten, wiederholen und weiterlesen, wundert sich Reporterin Leanne McIntire ganz hinten im Raum, warum die Stimmung auf einmal so extrem gekippt ist, „von total locker auf total eisig“. Komisch auch, dass ihre paar Kollegen – nur eine Handvoll Journalisten darf mit ins Klassenzimmer – jetzt permanent mit ihren Handys hantieren. McIntire selbst hat kein Telefon dabei und ist sowieso beschäftigt genug mit ihrer Kamera. Erst seit einem knappen Jahr arbeitet sie beim Bildungsfernsehen.

Ihr Spartensender, der in der hintersten Ecke des neuen Industriegebiets von Sarasota ein paar Zimmer angemietet hat, besitzt dank McIntires Arbeit den einzigen kompletten Videomitschnitt von Bushs Schulbesuch. Kopien davon hat die Unternehmerin nach Japan verkauft, nach Schweden und in viele andere Länder. Auszüge geistern im Internet herum, auch Michael Moore hat Teile des Mitschnitts für seinen Film „Fahrenheit 9/11“ verwendet, was Leanne McInitire schon ein wenig stolz macht. Die zierliche Frau mit den akkurat gedrehten rot-blonden Locken, die ihr bis auf die Schultern fallen, ist gefragt. Permanent klingelt im abgedunkelten, kühlen Büro das Telefon. Manchmal, wenn sie gerade keine Lust hat, lässt sie es einfach bimmeln – wird sich schon wieder melden, wenn es wichtig war. Hinter ihrem vollgestapelten Holzschreibtisch wirkt Leanne McIntire noch ein bisschen winziger, als sie es ohnehin schon ist. Irgendwo hier, sagt sie, müsse sie noch ein paar Notizen haben vom 11. September 2001, sie kramt erst in der einen Schublade – nichts, dann in der anderen – Fehlanzeige.

Es gibt Menschen, in deren Köpfen mehr Ordnung herrscht als in ihren Schubladen. McIntire ist so jemand. Die Gesellschaft der USA sei nach den Anschlägen politischer geworden, sagt sie, man schaue stärker als vorher auf andere Länder. „Heute kann dir jeder Bürger auf der Straße etwas über den Islam erzählen. Vorher wusste kein Mensch darüber Bescheid.“ Dass sie den Wendepunkt, „so einen historischen Moment“, ganz nah miterlebt hat, begreift sie inzwischen als Privileg.

Daran war am Morgen des 11. September nicht zu denken. Für den Präsidenten stand eine Routineaufgabe an, für die Reporterin auch. Ein paar Aufnahmen von einer Lesestunde in der Provinz, mehr nicht. Trotzdem hatte man die Journalistin schon um 7 Uhr früh in der Schule antanzen lassen, dreimal wurden ihre Utensilien durchsucht. Als Bushs Sicherheitsleute sie nach gerade einmal 20 Minuten dann auch noch barsch des Raumes verweisen, ist Leanne McIntire endgültig bedient. Sie hat ja noch keine Ahnung, dass in New York, in Washington und nun auch in Sarasota der Notstand ausgebrochen ist.

Lesen Sie auf der nächsten Seite über das erste Statement Bushs zur Katastrophe und wie plötzlich überall das Chaos ausbricht.

Jetzt muss alles ganz schnell gehen, die politische Maschine kommt ins Laufen. In einem Nachbarraum des Klassenzimmers konferiert Bush mit seiner Entourage. Kurzes Informationsgespräch, drei, vier Telefonate nach Washington, Verständigung über das weitere Vorgehen.

Während der Präsident mit einem Berater eine Ansprache ausarbeitet, wird von den anderen Mitarbeitern die unverzügliche Abreise vorbereitet. Dass weitere gekaperte Flugzeuge unterwegs sind, von denen eins das Pentagon ansteuert, weiß Bush noch nicht, als er um 9.29 Uhr auf einer Bühne in der Schulbibliothek sein erstes Statement zur Katastrophe abgibt. Die Kinder, die hinter Bush stehen dürfen, lachen nett in die Kameras und Fotoapparate, während die Reporter Mühe haben, ihre Ausrüstung richtig in Stellung zu bringen. Dass Bushs Auftritt in Sarasota die ganze Welt interessieren würde, wer war darauf schon vorbereitet?

„Meine Damen und Herren“, beginnt der Präsident. „Wir haben es mit einer nationalen Tragödie zu tun.“ Zwei Flugzeuge seien in das World Trade Center geflogen, ein Akt des Terrors – man werde eine vollständige Untersuchung einleiten, um die Täter aufzuspüren. „Terrorismus gegen unser Land wird keine Zukunft haben.“

Dwana Washington denkt, sie hört nicht richtig. Die Lehrerin steht ein paar Schritte von Bush entfernt. Sie erwartet, dass der Präsident etwas über das Leseprogramm erzählt und über ihre tolle Schule, stattdessen fallen plötzlich Wörter wie Tragödie, Terror, Angriff. So etwas passiert woanders, redet sich Dwana Washington ein, nicht bei uns, nicht in Amerika. Die ganze Welt hat inzwischen im Fernsehen die brennenden Türme gesehen, sie aber, die Lehrerin, war zu beschäftigt damit, alles schön herzurichten, schließlich sollte es dem Präsidenten gefallen in ihrer Schule.

Heute ist die Frau mit der kräftigen dunklen Stimme seit 15 Jahren an der Emma-E.-Booker-Grundschule beschäftigt. Damals half sie bei der Vorbereitung des Präsidentenbesuchs mit, später baute sie die 9/11-Ecke in der Schulbibliothek mit auf. Sobald sie sich heute diesem Ort des Gedenkens auch nur nähert, wird Washington stiller, ihre Stimme gedämpfter, denn die Angriffe sind für sie untrennbar verbunden mit der Erinnerung an die damalige Schuldirektorin Gwendolyn Tose-Rigell. „Eine wunderbare Frau“, sagt Washington, „sie hat alles wie selbstverständlich gemeistert.“ Vor vier Jahren ist sie gestorben. Dwana Washington nimmt ein Foto aus dem Regal, es zeigt die ehemalige Direktorin an der Seite des Präsidenten. Sie seufzt.

„Wir wollten es an unserer Schule nicht übertreiben mit 9/11“, sagt sie. „Aber es ist wichtig, dass die Menschen nicht vergessen, was geschehen ist.“ Neben dem Regal steht eine alte, auf Hochglanz polierte Vitrine. Silbern gerahmte Bilder, ein paar Bücher und eine Statue erinnern an den Tag, der die Grundschule auf unrühmliche Weise berühmt gemacht hat. Am Jahrestag der Anschläge versammeln sich Schüler und Lehrer hier und schweigen eine Minute lang.

Ansonsten würden den heutigen Grundschülern die Ereignisse jenes Tages eher auf spielerische Weise vermittelt, sagt Dwana Washington, „die Kinder lernen, dass man nicht jeden Mitschüler mögen, ihn aber trotzdem akzeptieren muss. Und dass manche Erwachsene das leider nicht immer beachten.“ So wie in der Zeit nach den Anschlägen. Washington zupft an ihrer hellblauen Bluse, die sie über der Jeans trägt. Sie selbst spüre wegen ihrer Hautfarbe mitunter Vorbehalte, sagt sie, aber den Moslems sei es nach dem 11. September in den USA deutlich schlimmer ergangen. „Auf Flughäfen wurden sie alle behandelt wie Schwerverbrecher und ganz offensichtlich viel intensiver durchsucht als andere.“ Überhaupt seien Amerikaner längst nicht mehr so freundlich gegenüber Fremden, wie sie es einmal waren. Vielen ihrer Landsleute sei ein ständiges Misstrauen anzumerken, eine Angst vor potenziellen Feinden.

Damals, beim Präsidentenbesuch, der als Feiertag für die Schule geplant war und als Trauertag endete, konnte Washington die Langzeitfolgen der Katastrophe nicht ansatzweise abschätzen. Wie auch? Selbst George W. Bush ahnt bei seiner Abreise von der Schule um 9.35 Uhr nur sehr vage, was sich zusammenbraut. Als sein Wagen über den Highway zum Flughafen jagt, erfährt er von einer weiteren Flugzeugattacke, diesmal auf das Pentagon. Eine Maschine der American Airlines, Flug 77, hat sich in den Westteil des US-Verteidigungsministeriums gebohrt. Außerdem, auch das teilt man dem Präsidenten nun mit, hat eine Maschine der United Airlines den Kurs gewechselt und steuert auf die Ostküste zu, auch Flug 95 wurde offenbar entführt. Zusammen mit seinen Leuten in Washington beschließt der Präsident, den gesamten Luftraum über den USA zu schließen. Starten darf nun niemand mehr, und den Piloten aller 4546 Flugzeuge, die sich noch in der Luft befinden, wird der Abschuss angedroht, wenn sie nicht unverzüglich den nächstgelegenen Flughafen ansteuern. Der sonst so volle Himmel über Amerika – an einem gewöhnlichen Tag finden hier um die 28 000 kommerzielle Flüge statt – wird zwei Tage lang komplett verwaist bleiben.

Warum Bush nicht direkt nach Washington fliegt und wie es im Klassenraum 301 weiterging, lesen Sie auf der nächsten Seite.

Nur die Air Force One hebt am 11. September kurz nach 10 Uhr vom Flughafen Sarasota-Bradenton ab. Die Wolkendecke ist dicht, aber es stürmt noch nicht, es regnet nicht einmal. Hurrikan Gabrielle wird die Küste Floridas erst zwei Tage später mit voller Wucht treffen. In die Nachrichten allerdings werden es die Verwüstungen rund um Sarasota nur noch am Rande schaffen, zu erschütternd sind die Anschläge in New York und Washington.

Robert Plunket hätte den Präsidenten in seinen schwersten Stunden bis zum Flughafen begleiten dürfen, bis zum Einstieg in die Maschine. Der Reporter ist für den Journalistentross angemeldet, er vertritt eine kurzfristig ausgefallene Kollegin, die den Platz über gute Kontakte ergattert hatte. Plunket, tätig für die lokale Lifestyle-Zeitschrift „Sarasota Magazine“, kommt an jenem Tag zum ersten Mal mit der großen Politik in Berührung. Im Fernsehen hat er gesehen, wie Flugzeuge das World Trade Center zerreißen, er hat den ganzen Morgen in der Grundschule verbracht, er hat Bushs Ansprache aus unmittelbarer Nähe mitbekommen. Reporterglück nennt man so etwas. Nur fügen sich die einzelnen Bruchstücke für ihn nicht zu einem großen Ganzen zusammen – Plunket verliert sich in dem Chaos, das auf einmal ausbricht, in New York, in Sarasota und überall. Zehn Jahre später erzählt er bedauernd, dass er „den Zusammenhang zwischen den Flugzeugen in New York und dem Präsidenten in Sarasota einfach nicht gleich herstellen konnte“.

Im weißen Schlabbershirt sitzt der ergraute Mann nun im Aufenthaltsraum der innerstädtischen Redaktion und erzählt, wie „dumm“ er sich deshalb vorkommt. Hinter ihm stapeln sich Kisten mit alten Ausgaben seines Magazins, vor ihm häufen sich einzelne Zettel, die er irgendwann mal in eine Pappmappe gestopft hat. Da ist der Ablaufplan für den Präsidentenbesuch in Florida, hier ein paar Notizen über das Bildungsprogramm. Erst einige Tage nach der Katastrophe habe er alle Zusammenhänge begriffen, sagt Plunket, während die Sonne durch die breite Fensterfront auf seine Zettelwirtschaft knallt. Er wirkt immer noch unsortiert. Weil er es einfach für nicht wichtig genug erachtet, dem Präsidenten zu folgen, fährt Plunket direkt von der Schule in die Redaktion des „Sarasota Magazine“ zurück. Seither lässt ihn diese Geschichte nicht mehr los, ihn nervt der verpasste Moment, genauso wie die Flugangst, die ihn seit den Anschlägen quält. Als der Reporter einen Monat später nach New York reist, legt er die Strecke mit dem Auto zurück. Zwei Tage dauert das, doch seine Angst vor Terroristen ist einfach zu groß.

Während Plunket die Chance seines Lebens verpasst, stürzen die Türme des World Trade Center in sich zusammen wie schlecht gestapelte Bauklötze, erst der eine, dann der andere. Ganz New York ist in Panik, das Pentagon brennt, die vierte und letzte entführte Maschine stürzt ins Nirgendwo bei Pittsburgh.

Und der Präsident?

Erst über Umwege, das Notfallszenario will es so, kommt er am Nachmittag in der Hauptstadt an. Sarasota, Louisiana, Nebraska, Washington D.C. Es dauert, bis Bush den Überblick hat, bis er weiß, wie sehr die Terroristen sein Land getroffen haben.

Lazaro Dubrocq hört das Wort „Terrorist“ zum ersten Mal in seinem Leben. Was es bedeutet, begreift der Zweitklässler nicht. Seine Lehrerin hat die Klasse nach der Abreise des Präsidenten vor dem Fernseher im Schulraum versammelt. Sie versucht nun, Sechs- und Siebenjährigen zu erklären, warum New York in Flammen steht. Lazaro Dubrocq, ein kleiner Junge mit dunklem Wuschelkopf, starrt auf den Fernseher. Zwei Türme brennen da, es sieht aus wie im Kino, bloß die Stimme der Lehrerin klingt nicht nach Kino.

Dubrocq, inzwischen 17 Jahre alt, läuft zielstrebig auf die lilafarbene Tür seines alten Klassenzimmers zu. Die Haare trägt er heute raspelkurz, groß ist er nicht, dafür muskulös, Typ Ringer. Neben der Tür hängt eine Plakette, Dubrocq deutet im Vorbeigehen darauf. Sie erinnert daran, dass Bush hier von den Anschlägen erfuhr. Im Klassenzimmer ist Dubrocq dann kaum zu stoppen, er spielt seine zehn Jahre zurückliegende Begegnung mit dem Präsidenten regelrecht nach. Hier – sein ausgestreckter Arm markiert die Stelle – hat Bush ihm die Hand gegeben. Und hier – er läuft ein Stück nach hinten, zweite Reihe, zweiter Stuhl von rechts – saß Dubrocq, als er Bush die Geschichte von der Ziege vorlas.

Oft wurde dem Präsidenten im Nachhinein vorgeworfen, dass er sieben Minuten lang einfach sitzen blieb, nachdem ihn die Nachricht vom Anschlag eingeholt hatte. Gerade erst hat Bush sich dazu geäußert, in einem Interview mit dem Fernsehsender National Geographic sagte er: „Ich wollte diese Kinder nicht verstören.“ Ruhe habe er ausstrahlen wollen, denn wenn ein Präsident unruhig wirke, sei es „wahrscheinlich, dass viele, viele andere auch nicht ruhig reagieren“.

Auf der nächsten Seite erfahren Sie, wie der Tag im September einen Schüler bewegt hat und was aus der Hausziege wurde.

Lazaro Dubrocq hält Bushs Reaktion für richtig, er ist froh, dass der Präsident nicht vom Stuhl aufsprang. „Das hätte doch nur noch mehr Hektik ausgelöst.“ Den Mann, dem er am Morgen noch von der Ziege vorgelesen hat, sieht der kleine Lazaro abends im Fernsehen – das kommt ihm merkwürdig vor. Auch die Sätze, die Bush da sagt, kann er noch nicht einordnen. „Die USA werden alle Mittel ergreifen, um die Menschen zu finden, die für diesen Terrorakt verantwortlich sind“, verkündet der Präsident um halb neun Uhr abends in seiner Rede an die Nation. „Dabei werden wir keinen Unterschied machen zwischen den Terroristen, die die Anschläge verübt haben, und jenen, die ihnen Zuflucht gewähren.“ Ein paar Wochen dauert es, dann wird die Nato auf Bushs Worte reagieren und zum ersten und bisher einzigen Mal in ihrer Geschichte den Bündnisfall erklären.

Kaum einen Monat später beginnen die Streitkräfte der Vereinigten Staaten, Stellungen der Taliban in Afghanistan zu bombardieren. Eine Milliarde Dollar, schätzen Experten, gehen dafür drauf – pro Monat. Mehr als 2600 alliierte Soldaten sterben bei den Kämpfen, beinahe genauso viele Menschen wie bei den Anschlägen am 11. September 2001.

Mit Zahlen wie diesen beschäftigt sich Dubrocq im Kurs für Internationale Beziehungen, den er seit dem vergangenen Schuljahr in der Riverview High School belegt. Es ist sein Lieblingsfach. Über den Krieg in Afghanistan haben sie gesprochen, auch über den danach im Irak, und erst neulich über die Militäraktion gegen Osama bin Laden. Der Schüler hält es für „eine gute Sache, dass sie ihn gefasst haben“, auch wenn sein Terrornetzwerk weiterhin bestehe und sicher nicht so schnell aufgeben werde.

Dubrocq wirkt jetzt nachdenklich, nicht mehr so aufgedreht wie noch vorhin im Klassenzimmer. „Ohne den Moment, den ich vor zehn Jahren mit dem Präsidenten erlebt habe, wäre ich sicher nicht so interessiert an weltpolitischen Zusammenhängen“, sagt er. Es klingt überlegt, nicht aufgesetzt. Überhaupt wirkt Dubrocq, als habe der 11. September 2001 in ihm mehr ausgelöst als in vielen seiner Mitschüler. Politikwissenschaften würde er gern studieren, an der Columbia University, davon träumt er. Es ist ein Lebenstraum, der vor genau zehn Jahren begann, als ein sechsjähriger Junge namens Lazaro Dubrocq dem Präsidenten die Geschichte einer Hausziege vorlas.

Was aus dem Mädchen und der Ziege und dem Autodieb wurde, hat Bush nie erfahren. „Fortsetzung folgt“, lasen die Schüler am Ende im Chor. Welche Fortsetzung dann folgte, ist bekannt. Unerzählt aber blieb das Ende der Ziegengeschichte.

Die Ziege hörte auf zu spielen. Sie sah den Autodieb. Sie senkte ihren Kopf und rannte auf den Dieb zu. Der Dieb beugte sich über den Autositz. Die Ziege stieß ihn mit ihren scharfen Hörnern. Der Autodieb flog durch die Luft. Der Vater des Mädchens rannte aus dem Haus. Er packte den Dieb. „Du wolltest mein Auto stehlen“, schrie er.

Das Mädchen lächelte. Die Ziege lächelte. Der Vater lächelte. Nur der Autodieb lächelte nicht.

Katrin Schulze

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