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We will never forget - wir werden niemals vergessen, steht auf einem Banner über Ground Zero, im September 2001.
© dpa

Kontrapunkt: Wir haben gesiegt!

Die kühnsten Hoffnungen haben sich erfüllt, meint Malte Lehming: Zehn Jahre nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 hat der Westen die Schlacht gegen Al Qaida und den militanten Islamismus gewonnen. 

So viel Zerknirschung war selten. Zehn Jahre nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 lesen sich die Bilanzen, als hätte Al Qaida triumphiert: 6000 tote US-Soldaten in zwei unnützen Kriegen, 140.000 tote Zivilisten in Afghanistan, Irak und Pakistan, knapp acht Millionen Flüchtlinge in diesen Ländern, vier Billionen Dollar Kriegskosten, in Guantanamo und Abu Ghraib ging der letzte Rest Moral verloren, mit dem „Patriot Act“ der letzte Rest Freiheit, durch die Irakkriegslüge der letzte Rest Anstand, der norwegische Muslimhasser Anders Behring Breivik trieb den religiös-kulturellen Antagonismus auf die Spitze, Osama bin Laden mag tot sein (wofür es keine öffentlichen Beweise gibt), aber sein Vermächtnis ist lebendiger denn je – in den Terrortrainingscamps im Jemen und in den Köpfen der Menschen.

Höchste Zeit also, an den amerikanischen Soziologen und Politiker Daniel Patrick Moynihan zu erinnern, der von John F. Kennedy bis Gerald Ford nicht weniger als vier US-Präsidenten gedient hatte. Von Moynihan nämlich stammt ein äußerst kluges Gesetz: „Die Menge an Verstößen gegen Menschenrechte in einem Land ist umgekehrt proportional zu der Menge an Beschwerden über Menschenrechtsverstöße, die man von dort hört. Je größer die Menge an Beschwerden ist, die öffentlich geäußert werden, desto besser sind die Menschenrechte in diesem Land geschützt.“

Mit anderen Worten: Das Maß an Selbstkritik, das in einer freien Gesellschaft geübt wird, erlaubt Rückschlüsse auf dessen gesellschaftliche Verfasstheit. Je heftiger die Kritik, desto besser geht es dem Land. Insofern legt allein schon die Wucht der negativen 9/11-Bilanzen die Vermutung nahe, dass es genau andersherum sein könnte – nicht Al Qaida hat gewonnen, sondern der Westen.

Osama bin Laden ist tot, viele Stellvertreter und andere Al-Qaida-Führungskräfte wurden ebenfalls erwischt. Aus Afghanistan wurden die Terroristen vertrieben, auch Pakistan bietet keinen sicheren Hafen mehr. Der Einsatz von Drohnen hat sich als sehr erfolgreich erwiesen. Durch eine effektive Aufklärungsarbeit konnten viele Anschläge bereits im Planungsstadium verhindert werden.

Zeichen der Niederlage von Al Qaida ist deren zunehmende Autoaggression. Statt gegen Ziele im Westen richten sich die Attacken der Islamisten seit einiger Zeit vornehmlich gegen andere Muslime. Eine Vielzahl der in Afghanistan und Irak getöteten Menschen geht auf das Konto ihrer militanten Glaubensbrüder. Das verringert die Attraktivität ihrer Ideologie. In den Jahren nach 9/11 war diese Ideologie noch flächendeckend gefährlich. Inzwischen gleicht sie der einer Sekte.

Afghanistan wurde von den Taliban befreit, der Irak von Saddam Hussein. In beiden Ländern wurde relativ frei gewählt. Sind es Inseln der Demokratie? Sicher nicht. Aber sowohl durch diese Beispiele als auch durch den Niedergang des militanten Islamismus reifte in den Köpfen vieler Muslime die Einsicht, sich selbst vom Joch der Diktatur befreien zu müssen, um überhaupt eine Zukunft zu haben. Tunesien, Ägypten, Libyen: Obwohl sich der Westen angeblich durch Guantanamo, Abu Ghraib und die Irakkriegslüge moralisch kompromittiert hatte, sehnt sich das Volk im arabisch-muslimischen Raum sowohl nach westlichen Werten als auch der Effizienz der Nato. Zwischen Tripolis und Kairo versteht man offenbar, dass sich Abu Ghraib zu einem wirklichen Folterkeller verhält wie Nasenbluten zu Knochenbrüchen.

Wurden durch schärfere Sicherheitsgesetze in den westlichen Ländern Freiheiten beschnitten? Das Flugreisen ist umständlicher geworden, ein paar Kameras mehr hängen im öffentlichen Raum, doch das tägliche Leben hat sich kaum verändert. Amerikanische Muslime wurden nicht massenweise interniert – wie man es nach Pearl Harbor mit japanischstämmigen Amerikanern tat (woran ein Denkmal in der Nähe des Kapitols in Washinton DC erinnert). Ja, Amerikas Muslime genießen sogar größere religiöse Freiheiten als ihre Glaubensgeschwister in Europa.

Was wollte der Westen nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001? Al Qaida enthaupten, den militanten Islamismus marginalisieren, Reformen in der arabisch-muslimischen Welt einleiten, sich weder über Afghanistan noch Irak dauerhaft auseinanderdividieren lassen, eine Wertegemeinschaft bleiben. All das wurde erreicht, die kühnsten Hoffnungen haben sich erfüllt. Mögen die Nörgler weiter nörgeln. Sie bestätigen nicht anderes als – Moynihans Gesetz.

Malte Lehming

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