Zehn Jahre nach 9/11: Was der 11. September verändert hat
Die Terrorangriffe auf Amerika haben die Welt verändert. Zehn Jahre nach den Anschlägen von New York und Washington erscheinen neue Bilanzen über die Folgen. Ein Überblick.
Wer geglaubt hat, zum 11. September sei schon alles geschrieben, den will eine Vielzahl von Autoren zum zehnten Jahrestag der Anschläge in New York und Washington eines Besseren belehren. Mit Erfolg, so ist beispielsweise der Ausruf „It’s the economy, stupid!“ („Es geht um die Wirtschaft, Dummkopf!“) in der Debatte bisher noch nicht zum islamistischen Terrorismus in Beziehung gesetzt worden. Dies holt Ulrich Schäfer nach. Der Journalist der „Süddeutschen Zeitung“ schreibt, dass das eigentliche Zerstörungsziel von Al Qaida der westliche Wohlstand sei. Durch den Angriff auf das „Herz unserer Gesellschaft, die Basis unseres Lebens“ solle der Westen in die Knie gezwungen werden. Dafür hätten sich die Terroristen viel Zeit genommen – nicht Jahre, sondern Jahrzehnte. Daher gehe ihr Terror auch nach dem Tod Osama bin Ladens weiter. Geprägt wird der islamistische Wirtschaftskrieg nach Schäfers Recherchen vor allem von den Planungen des neuen Al-Qaida-Chefs Aiman al Sawahiri, sowie Atijah Abd al Rahman, der kürzlich getötet wurde: Die Lebensadern der Industriegesellschaft sollen getroffen werden – Handelswege und Börsen, Unternehmen und Anleger, Symbole der westlichen Wirtschaft, Banken und Hotelketten, Versorgungswege für Öl und Gas. Unternehmen sollen nicht mehr investieren, Jobs in Gefahr geraten, Konsumenten zurückhaltend werden und Anleger sich nervös von den Finanzmärkten zurückziehen.
Zwar kann Schäfers These bezweifelt werden, ob die gegenwärtige Unsicherheit in der Wirtschaft durch den Terrorismus gewachsen ist. Hier dürften Versäumnisse bei der Regulierung der Finanzmärkte eine größere Rolle spielen. Aber Schäfers Beobachtung, dass islamistische Attentäter zur gegenwärtig Finanz- und Wirtschaftskrise beigetragen haben, sollte Beachtung finden. Denn in der Tat sah sich der Westen nach dem 11. September 2001 gezwungen, sich mit billigem Geld der Notenbanken, mit gewaltigen Steuersenkungen in den USA und Konjunkturprogrammen gegen einen Abschwung zu stemmen, den es ohne die Anschläge in dieser Schärfe nicht gegeben hätte. Und vor allem: Der Westen begann Kriege, die ihn nicht nur politisch und militärisch zermürben, sondern auch finanziell überfordern. Damit hat ihn Al Qaida in eine Politik der Schulden getrieben, die sich nun in Amerika wie in Europa bitter rächt.
Wie konnte es dazu kommen? Die Journalisten Mathias Bröckers und Christian C. Walther listen die Ungereimtheiten im Abschlussbericht der amerikanischen Untersuchungskommission von 2009 – dem „9/11 Commission Report“ – auf. Zwar wollen sie nicht als Verschwörungstheoretiker wahrgenommen werden, aber sie lassen sich dennoch zu Aussagen hinreißen, die eine Verstrickung der Bush-Regierung in die Anschläge andeuten, ohne dafür stichhaltige Beweise zu liefern: „Die verantwortungsvollen neuen Führer und Bewahrer des westlichen Lebensstils waren sich mithin im Allerklarsten darüber, dass sie aus psychologischen Gründen einen verheerenden feigen Anschlag auf die eigenen Leute dringend benötigten. Denn ohne ein neues Pearl Harbor wäre es unmöglich gewesen, den notwendigen Krieg zu führen.“
Auch bei den Ereignissen nach „9/11“ geht es nach der Analyse von Bernd Greiner im Kern um die Rückkehr politischer Angst ins öffentliche Leben. Wie diese Situation Amerika prägte, wie der „Krieg gegen den Terror“ demokratische Werte, Verfahren, Institutionen und damit jene Fundamente beschädigte, die es gegen die terroristische Herausforderung eigentlich zu stärken gilt, ist das Thema von Greiners sensibler Untersuchung, die keinesfalls eine umfassende Geschichte des „nervösen Jahrzehnts“ nach dem 11. September 2001 sein will. Vielmehr stellt der Leiter des Arbeitsbereichs „Theorie und Geschichte der Gewalt“ des Hamburger Instituts für Sozialforschung eine grundlegende Frage: Bleibt George W. Bush eine radikale Ausnahme in der amerikanischen Geschichte oder werden die USA auf künftige Kränkungen, Niederlagen und Machteinbußen ähnlich radikal reagieren wie nach den Anschlägen von New York und Washington – mit Krieg zur symbolischen Beglaubigung imperialer Größe und Durchsetzungsfähigkeit, Angriffskriegen auf bloßen Verdacht und zur Vorbeugung gegen künftige Gefahren und der Setzung neuen Rechts ohne Verfahren, Diskussion und Legitimation?
Letzteres lässt die nach internationalem Recht unrechtmäßige Tötung Osama bin Ladens durch eine amerikanische Spezialeinheit in Pakistan und damit auf fremdem Territorium in der Präsidentschaft Barack Obamas vermuten. Hinzu kommt ein Dilemma im Kampf gegen den Terrorismus, auf das der amerikanische Bildtheoretiker W. J. T. Mitchell aufmerksam macht: Sein Thema, das Ur- und Leitbild eines „Globalen Krieges gegen den Terror“ und der damit verbundenen Bilder und Medien, scheint schon aus sich heraus endlos zu sein. Denn dieser Krieg schafft einen nicht versiegenden Nachschub an gesichtslosen, zu einem endlosen Kampf zusammengezogenen Kriegern. Dies zwingt den Westen nach Mitchells Analyse, sich zu fragen, „was“ – und nicht „wer“ – der Feind ist. Während bei herkömmlichen Kriegen, meist recht klar ist, wer der Gegner ist, ist dies beim Krieg gegen den Terror anders. In ihm sieht Mitchell – ähnlich wie Bernd Greiner – einen Krieg gegen die Angst: „Wie könnte er jemals ein Ende finden? Wie könnte man ihn jemals gewinnen?“
Terrorismus als Kommunikationsstrategie: Lesen Sie weiter auf Seite zwei.
Wenn diese Fragen jemand in Deutschland zu beantworten weiß, dann Peter Waldmann. Der Augsburger Soziologe hat sich bereits lange vor „9/11“ mit der Gewaltform Terrorismus beschäftigt. Nun hat er sein Standardwerk aus dem Jahr 1998 umfassend überarbeitet. Seine These: Terroristen geht es nicht um Zerstörung an sich. Terrorismus ist vielmehr primär eine Kommunikationsstrategie: Gewaltbotschaften sollen Adressatengruppen beeinflussen. Daher muss auch hier die Bekämpfung des Terrorismus ansetzen, bei der Waldmann eine Verschiebung des Schwerpunkts beobachtet: Trotz oder gerade wegen der intensiven Bemühungen westlicher Sicherheitsdienste, den Operationsspielraum radikaler religiöser Gruppen einzuengen, werden die Grenzen dieses Ansatzes, dem Terrorismus beizukommen, immer deutlicher. Daher haben parallel dazu Überlegungen zugenommen, wie sich Konflikte strukturell entschärfen lassen und bereits im Vorfeld von Spannungen Eskalierungsprozessen begegnet werden kann. So haben auf individueller Ebene viele Staaten Programme – etwa in Gefängnissen – entwickelt, die ein Abdriften Gefährdeter in den Extremismus verhindern oder es dem einzelnen Gewaltaktivisten ermöglichen sollen, sich von der terroristischen Gruppe zu lösen. Generell neigt man nach Waldmanns Beobachtung weniger als früher zur Überschätzung rein repressiver Methoden, sondern versucht vermehrt, sich in die Denkweise von Terroristen hineinzuversetzen und „natürliche“ Abstiegs- und Ermüdungserscheinungen bei terroristischen Gruppen zu fördern oder zu beschleunigen.
Hier setzt auch Gernot Erler an. Sein Anspruch ist es, „bessere Strategien gegen den Terror“ zu finden. Sie scheint er im revolutionären Umbruch in der arabischen Welt gefunden zu haben. Denn die dortigen Aufstände und Erhebungen bedeuten nach der Analyse des ehemaligen Staatsministers beim Bundesminister des Auswärtigen und heutigen stellvertretenden Vorsitzenden der SPD-Bundestagsfraktion, zuständig für Außenpolitik, Entwicklungspolitik, Menschenrechte und Verteidigung, eine Chance im Anti-Terrorkampf: Gerade wenn im Maghreb die Demokratisierung Erfolg habe und zu demokratisch legitimierten, selbstbewussten und vom Westen in ihrer Autonomie anerkannten Regierungen führe, verflüchtige sich die primäre Motivation der Terrororganisationen in dieser Region, die stets gegen die eigene Regierung mit ihrer behaupteten Abwendung vom Islam und ihrem „Verrat der arabischen Interessen“ gerichtet gewesen sei.
Erler zählt nicht zu den Stimmen, die sich heute vorhalten lassen müssen, die arabischen Gesellschaften für aufklärungsunfähig und demokratieunwillig erklärt und arabische Diktaturen zur Verteidigung westlicher Demokratie gegen islamistische Intoleranz und Terrorismus befürwortet zu haben. Vielmehr steht er für den gegenteiligen Standpunkt: Gerade eine politische Einbindung von islamistischen Gruppierungen in ein noch aufzubauendes pluralistisches Parteiensystem und in politische Verantwortung soll den Terrororganisationen den Zulauf besser abschneiden können als jede Ausgrenzung und Isolierung. Ein kluger Verzicht auf jede Einmischung von außen und konkrete Hilfsmaßnahmen im Kampf gegen die ökonomische Krise und die mit ihr verbundene Perspektivlosigkeit der Jugend, für die schon zahlreiche Konzepte bis hin zu umfassenden „Marshall-Plänen“ für die Staaten Nordafrikas diskutiert werden – dies wären nach Erlers realistischem Urteil in der gegebenen Situation am ehesten geeignete Beiträge der Vereinigten Staaten und der Europäischen Union für einen Erfolg gegen den Netzwerkterrorismus vor Ort.
Stefan Weidner richtet seinen Blick ebenfalls auf die arabischen Revolutionen. Der Islamwissenschaftler und derzeitige Inhaber der Thomas-Kling-Poetikdozentur an der Universität Bonn prognostiziert eine Entwicklung, die zwar ernüchternd, aber gerade deshalb nicht unwahrscheinlich wirkt: Die arabische Welt wird sich nicht ähnlich entwickeln wie Osteuropa nach dem Fall der Berliner Mauer. Denn es fehlen – bisher – wohlwollende, an Demokratie und Rechtsstaat interessierte und zugleich finanzkräftige Nachbarstaaten, wie sie die Osteuropäer in Gestalt der EU vorfanden. Daher wird die arabische Welt in zehn Jahren vermutlich eher so aussehen wie Lateinamerika als wie das heutige Europa. Für Weidner ist dies aber besser als die „repressive, deprimierende und verdummende“ Stagnation seit dem Ende des Kalten Krieges und dem Irakkrieg von 1990/91, als die arabische Welt in einen Tiefschlaf gesunken sei, der sie bis zum „magischen Jahr 2011“ im Bann gehalten und aus dem sie nicht einmal der 11. September 2001 und die darauf folgende militärische Eskalation in Afghanistan und im Irak zu wecken vermocht habe.
Lesen Sie auf Seite drei, warum der Anschlag mit einem entführten Flugzeug nicht in die Zeit passte.
Wie auch die Ereignisse in New York und Washington vor nunmehr zehn Jahren selbst einmal historisch eingeordnet werden könnten, zeigt eine Essaysammlung zu den Themen Weltmacht, Umwelt, Kunst, Religion, Wirtschaft, Männer, Patriotismus, Recht, Verschwörung und Anti-Amerikanismus. Die Herausgeber Michael Butter, Junior Fellow der School of Language und Literature des Freiburg Institute for Advanced Studies, Birte Christ, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut der Anglistik der Justus-Liebig-Universität Gießen, und Patrick Keller, Koordinator für Außen- und Sicherheitspolitik der Konrad-Adenauer- Stiftung, billigen dem 11. September 2001 lediglich die Rolle eines Katalysators zu: Er hat längerfristige Entwicklungen verstärkt und ihnen zu größerer Sichtbarkeit verholfen. Dies gilt für politische Entwicklungen wie für wirtschaftliche und für soziale ebenso wie für kulturelle. So markiert dieser Tag beispielsweise weder das Ende der weltweiten amerikanischen Vorherrschaft noch den Beginn von außenpolitischen Alleingängen der US-Regierung. Vielmehr hat Amerika seit 1945 und insbesondere seit dem Ende der Sowjetunion immer alleine gehandelt, wenn es dies für notwendig erachtete. Und so wird es nach dem Urteil von Butter, Christ und Keller auch bleiben, da die amerikanische Vormacht noch Bestand habe.
Eine historische Einordnung stand bislang auch für die am 11. September 2001 eingesetzte Waffe aus: entführte Flugzeuge. Ihnen widmet Annette Vowinckel eine bemerkenswerte Kulturgeschichte. Die Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam lässt ihre Studie im Jahr 1931 beginnen, in dem zum ersten Mal ein Flugzeug entführt wurde: Peruanische Rebellen warfen mit ihm Flugschriften über dem Urwald ab und gaben es danach der Fluggesellschaft PanAm zurück. Zwischen dieser Premiere und „9/11“ hat Vowinckel mehrere Serien von sehr unterschiedlichen Flugzeugentführungen ausgemacht, die im Kontext der Kubanischen Revolution, des Nahostkonflikts und des Kalten Krieges standen. Ausgeführt wurden sie von wiederum sehr unterschiedlichen Tätern: Terroristen und Rebellen, Republikflüchtlingen, Lösegelderpressern und Psychopathen.
Vowinckels historischer Abriss hilft, auch den 11. September 2001 als umstrittene Zäsur besser einordnen zu können. Denn dieser Tag hat zu Unrecht den Eindruck erweckt, der Flugverkehr werde insgesamt immer unsicherer. Im Gegenteil: Die Zahl der Flugzeugentführungen ist seit den 90er Jahren konstant niedrig geblieben. Zudem hat sich gezeigt, dass die Bekämpfung der Luftpiraterie nicht allein durch die Verschärfung der Gepäck- und Körperkontrollen optimiert werden kann. Als besonders erfolgreich hat sich vielmehr das intensive Gespräch mit den Passagieren erwiesen – eine Form der psychologischen Kriegsführung, die zwar von Israel, aber nicht von den durch entführte Flugzeuge traumatisierten Vereinigten Staaten angewandt wird. Und dies, obwohl gerade über ihnen die Gefahr eines neuen Terroranschlags hängt, wie Sicherheitsexperten auch zum diesjährigen Jahrestag von „9/11“ betonen.
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