Verkehrsgerichtstag in Goslar: Vorfahrt für die Technik?
Machen Daten und Künstliche Intelligenz den Verkehr sicherer? Der Verkehrsgerichtstag diskutiert technische Innovationen und rechtliche Rahmen.
- Stefan Jacobs
- Peter Mlodoch
- Carsten Werner
In Deutschland sterben pro Jahr etwa 3200 Menschen im Straßenverkehr. Beim Deutschen Verkehrsgerichtstag diskutieren jedes Jahr in Goslar 2000 Verkehrsexperten, Juristen, Versicherer und Politiker über Fragen der Verkehrspolitik und -sicherheit. Beim 57. Verkehrsgerichtstag geht es vor allem um technische Neuerungen im Verkehr und die juristischen Rahmen dafür. Macht die Technik das Verkehrsgeschehen einfacher und die Verkehrsteilnehmer freier – und wer trägt im Verkehr künftig die Verantwortung?
Macht es die Nutzer freier, wenn Autos automatisiert fahren?
Gemäß Paragraf 1a des Straßenverkehrsgesetzes (StVG) ist „Fahrzeugführer auch derjenige, der eine hoch- oder vollautomatisierte Fahrfunktion aktiviert und zur Fahrzeugsteuerung verwendet, auch wenn er im Rahmen der bestimmungsmäßigen Verwendung dieser Funktion das Fahrzeug nicht eigenhändig steuert“. Demnach bleibt der Fahrer immer verantwortlich, warnt ADAC-Chefjurist Markus Schäpe. „Wenn er die Hände vom Lenkrad nimmt und ein Unfall passiert, ist er dran.“ Surfen im Internet, Fernsehen oder Spielen sind in selbstfahrenden Autos also nach gegenwärtiger Rechtslage tabu. Auch Paragraf 1b StVG definiert die Pflicht, „die Fahrzeugführung unverzüglich wieder zu übernehmen, wenn das System ihn dazu auffordert oder er erkennt oder aufgrund offensichtlicher Umstände erkennen muss, dass die Voraussetzungen für eine bestimmungsmäßige Verwendung der hoch- oder vollautomatischen Fahrfunktionen nicht mehr vorliegen“.
Ob auch die Autohersteller für Fehler im System zur Rechenschaft gezogen werden können, richtet sich zwar nach den Regeln der allgemeinen strafrechtlichen Produkthaftung – aber angesichts der vorrangigen Verantwortung des Fahrers ist das zumindest fraglich. Der Verkehrsgerichtstag sucht nach Ideen und Lösungen, die Industrie in Zukunft für schwere Unfälle stärker mit in die Pflicht zu nehmen. Siegfried Brockmann, Leiter der einflussreichen Unfallforschung der Versicherer (UDV) und Vorstandsmitglied im Deutschen Verkehrssicherheitsrat, befürchtet angesichts der Rechtslage „einen Wust widersprüchlicher Gerichtsurteile, wenn man sich als Pilot eines autonomen Fahrzeugs einerseits vom Verkehrsgeschehen abwenden darf und andererseits aufmerksam bleiben soll“. Die juristischen Aspekte müssten weiter diskutiert werden, sagte Brockmann dem Tagesspiegel: „Das ist alles noch nicht zu Ende gedacht.“
Diskutiert wird immer wieder auch, wie Software für Not- und Unfälle programmiert werden könnte. Das Dilemma, ob das autonome Auto bei einem unvermeidlichen Unfall die Insassen vor einem Lkw retten darf, wenn es dafür Passanten auf dem Gehweg überfahren muss, sieht Brockmann nicht: „Die aktuellen Systeme stellen sich diese Frage nicht, sondern werden sich immer für eine Vollbremsung entscheiden, was auch richtig ist.“
Wann machen Brems- und Abbiegeassistenten Lkws und Busse sicherer?
Nach Angaben des Automobilclubs ACE kommen jedes Jahr Dutzende Radfahrer in Deutschland ums Leben, weil Lkw- und Busfahrer sie beim Abbiegen im toten Winkel ihrer Sichtachsen und Spiegel nicht sehen. Die Zahl der Schwerverletzten ist dreistellig. „Wenn alle Lkw mit Abbiege-Assistenten ausgerüstet wären, könnte das pro Jahr 30 Menschenleben retten“, sagt Brockmann. Er setzt sich dafür ein, dass Abbiegeassistenten, die Radfahrer und Fußgänger erkennen und den Fahrer warnen können, „gesetzlich verpflichtend in jeden neuen Lkw eingebaut und in allen älteren Lkw nachgerüstet werden“. Die Kosten dafür lägen bei jeweils rund 1000 Euro. Die Automobilclubs unterstützen diese Forderung. „Ein Großteil der durch schwere Lkw verursachten Abbiegeunfälle ist vermeidbar“, sagt Herbert Engelmohr vom AvD. Auch der ADAC und die Deutsche Polizeigewerkschaft (DPolG) plädieren für einen verpflichtenden Einbau der Systeme.
Die "Aktion Abbiegeassistent" von Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) setzt dagegen auf Freiwilligkeit. Der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club (ADFC) appelliert an Kommunen, Länder und Bund, jetzt umgehend alle Lkw-Flotten sowie Müll- und Straßenreinigungsfahrzeuge freiwillig mit Abbiege-Assistenten auszurüsten.
Die derzeit verfügbaren Abbiege-Assistenzsysteme haben nach Einschätzung des Deutschen Verkehrssicherheitsrats (DVR) allerdings „eine relativ hohe Fehlerquote“. Die Industrie müsse deshalb mit Priorität an der Weiterentwicklung arbeiten, fordert DVR-Sprecherin Julia Fohmann – nicht nur für Großfahrzeuge: „Auch Pkw und leichte Nutzfahrzeuge sollten zukünftig verpflichtend damit ausgestattet sein“, sagt Fohmann. Für den Bundesverband Güterkraftverkehr, Logistik und Entsorgung (BGL) erklärt dessen Abteilungsleiter Guido Belger: „Fahrassistenz-Systeme, insbesondere Notbrems-Assistenten und elektronische Abbiege-Assistenten, müssen zur Steigerung der Verkehrssicherheit konsequent eingesetzt und weiterentwickelt werden“. Neu zugelassene Lkw müssen bereits seit Ende 2015 mit Notbrems-Assistenten ausgestattet sein – diese lassen sich aber abschalten und entsprechen auch schon nicht mehr dem neuesten Stand des technisch Möglichen: Vor stehenden Hindernissen können nur neueste Brems-Systeme Lkw bis zum Stillstand abbremsen – damit könnten laut ACE rund 80 Prozent der oft tödlichen Auffahrunfälle verhindert werden.
Kann Künstliche Intelligenz alkoholisierte Fahrer stoppen?
Elektronische Alkohol-Zündschlosssperren sollen verhindern, dass Autofahrer sich betrunken hinter das Steuer setzen: Schaltet der Fahrer die Zündung ein, muss er wie bei einer Polizeikontrolle in ein Messgerät pusten, das den Atemalkoholgehalt feststellt. Ist der Wert zu hoch, wird eine Wegfahrsperre aktiviert. Diskutiert wird beim Verkehrsgerichtstag auch, ob mit dieser Technik die Führerscheinsperrzeit für Fahrer verkürzt werden könnte, die mit mehr als 1,1 Promille erwischt wurden. UDV-Forscher Brockmann findet: „Da wird aus meiner Sicht das Falsche diskutiert. Die Frage, ob man sich nach einer Alkoholfahrt zusätzlich zur medizinisch-psychologischen Untersuchung (MPU) und einem psychologischen Seminar für 2000 Euro so ein Gerät ins Auto bauen und später wieder entfernen lässt, dürfte nicht viele Leute betreffen.“ Er plädiert vielmehr für eine europaweite Einbauvorschrift für Neuwagen: „Das würde die Kosten senken und uns mittelfristig die 300 Toten und Tausenden Schwerverletzten durch Alkoholfahrten ersparen, die wir Jahr für Jahr beklagen.“
Einen einfachen, billigen Alkoholtester, wie er in Frankreich vorgeschrieben ist, findet Brockmann kontraproduktiv: „Der macht es eher schlimmer, weil es Angetrunkene zum Fahren verleiten kann. Aus Trinkversuchen wissen wir, dass die Leute sich für betrunkener halten als sie wirklich sind. Ein Gelegenheitstrinker mit 0,5 Promille hält sich für stockbetrunken und würde das Auto stehen lassen. Aber wenn er dann pustet und das Röhrchen zeigt nur 0,5, dann wartet er vielleicht noch eine Viertelstunde und setzt sich danach doch ans Steuer.“
2014 wurde das Flensburger Punktesystem reformiert – hat das den Verkehr sicherer gemacht?
„Gerechter und transparenter“ wollte der damalige Verkehrsminister Peter Ramsauer (CSU) das staatliche Sanktionssystem für Verkehrsverstöße machen – und den Verkehr sicherer machen, „die Verkehrsrowdys zur Röson bringen“. Der Führerschein wird seit dem 1. Mai 2014 schon bei acht Punkten in Flensburg entzogen, früher waren es 18 Punkte. Dafür gibt es nur noch höchstens drei Punkte für Verkehrsverstöße, vorher waren es bis zu sieben. Vergehen, die die Verkehrssicherheit nicht gefährden, wurden aus der Liste gestrichen. Beim Verkehrsgerichtstag soll die Reform zum ersten Mal umfassend evaluiert werden.
Brockmann zweifelt an ihrer Wirksamkeit: „Die Regelungen dürften Wiederholungstäter kaum abschrecken – zumal die Wissenschaft davon ausgeht, dass auf einen entdeckten Regelverstoß etwa 800 unentdeckte kommen, also kaum jemand erwischt wird. Und weil es ohnehin nur Punkte für Delikte mit mindestens 60 Euro Geldbuße gibt, werden viele gravierende Verstöße nicht davon erfasst, beispielsweise das Parken auf Geh- und Radwegen oder in zweiter Reihe mit Behinderung, zu dichtes Überholen und zu schnelles Fahren. Sie können innerorts 72 km/h auf dem Tacho haben und bekommen nicht mal einen Punkt, wenn Sie geblitzt werden. Eine massive Gefährdung der Allgemeinheit muss aber im Wiederholungsfall mit dem Verlust des Führerscheins bedroht sein, finde ich.“ Dazu tragen ohnehin Gerichte und Bußgeldbehörden weitaus mehr bei als die Verwalter der Flensburger Punkte.
Wie könnte verantwortungsvolles Verhalten im Straßenverkehr festgestellt und belohnt werden?
Die Versicherungen wollen beim Verkehrsgerichtstag offensiv für Telematik-Tarife werben, bei denen man dem Auto-Versicherer Einblicke in seinen Fahrstil gewährt – und dafür einen satten Rabatt bei der Haftpflicht-Police erhält. Daten gegen Geld: In der Krankenversicherung gibt es bereits Ansätze für solche Vertragsmodelle, auch über entsprechende Gebäude- oder Hausratversicherungen wird schon nachgedacht. Verbraucher- und Datenschützer, Verkehrsrechtsanwälte und auch der ADAC warnen allerdings vor einer allzu offenherzigen Preisgabe der Daten.
Die Studie „Big Data: Bürgerschreck oder Hoffnungsträger“ des von der HUK Coburg ins Leben gerufenen Goslar Instituts mahnt dagegen einen selbstbewussten Umgang mit persönlichen Daten an: Mündige Verbraucher dürften sich nicht länger nur als Schutzobjekt betrachten, sondern sollten sich als „Datengeber, Datenspender oder gar Datenhändler“ verstehen. „Die Grundskepsis gegenüber Big Data kippt, wenn konkrete, nutzenstiftende Anwendungen genannt werden“, heißt es in dem 200-seitigen Papier, das unter anderem auf einer repräsentativen Umfrage fußt und das dem Tagesspiegel vorliegt. Studienautor Fred Wagner vom Institut für Versicherungslehre an der Universität Leipzig sieht schon ein neues Wirkungsfeld der Versicherungen: „Nur so kann sich die Rolle der Versicherer grundlegend vom bloßen Kostenerstatter für Schäden in Richtung Schadenmanager oder gar Schadenverhüter verändern.“
Die HUK Coburg, nach eigenen Angaben mit über 11,6 Millionen versicherten Kraftfahrzeugen Marktführer, bietet bereits erste Policen nach diesem Muster an. Das Programm „Smart Driver“ für junge Fahrer unter 25 Jahren, die als Hochrisikogruppe für Verkehrsunfälle gelten, gewährt für „besonnenes Fahrverhalten“ hohe Prämienabschläge bis zu 30 Prozent. Eine eigens ins Auto eingebaute Box zeichnet eine Vielzahl von Daten wie Tempo, Beschleunigung, Bremsmanöver und Tageszeiten auf. „Wir setzen den Fahranfängern eine Art technischen Begleiter ins Auto“, sagt Unternehmenssprecher Thomas von Mallinckrodt. Knapp 80.000 junge Kunden habe man mit diesem Modell gewinnen können. Der Datenschutz sei gewährleistet: Die Auswertung erfolge über einen eigenen Dienstleister, die Versicherung erhalte lediglich den „Score“, also den für mögliche Rabatte maßgeblichen Punktestand - „Wir wissen also nicht, wo Sie wann unterwegs waren“, versichert von Mallinckrodt. Der Polizei melde man keine Verkehrsverstöße.
Dennoch rät Verkehrsrechtsexperte Jörg Elsner vom Deutschen Anwaltverein (DAV) zur Vorsicht. Natürlich könne sich jeder Verbraucher für einen solchen Tarif entscheiden. „Er muss aber wissen, was er da tut. Er rückt seine Daten ohne eigene Kontrollmöglichkeit raus und muss damit rechnen, dass diese gegebenenfalls auch gegen ihn selbst verwendet werden können.“ So könne eine Staatsanwaltschaft bei einem schweren Unfall mit Todesopfern durchaus die aufgezeichneten Fahrdaten beschlagnahmen lassen.
Kann die Straßenverkehrsordnung Räume, Rechte und Regeln für Fußgänger und Radfahrer gerecht organisieren?
Der ADFC fordert seit langem höhere Bußgelder und Punkte für Autofahrer, die gnadenlos Fahrradspuren und Gehwege zuparken – bislang fallen dafür, wenn überhaupt 30 Euro an. Ein Gutachten der Unfallversicherer hat gerade festgestellt, dass zu enges Überholen von Fahrrädern durch Autos auch „unabhängig von der angeordneten Art der Radverkehrsführung" geahndet werden müsste: also nicht nur im gemeinsam genutzten Straßenraum, sondern auch, wenn Radfahrer auf einem ausgewiesenen Schutzstreifen oder Fahrradweg fahren und die vorgeschriebenen 1,5 Meter zum Rad beim Überholen nicht eingehalten werden. Dass der Abstand vom Fahrzeug aus gemessen werden kann, ist längst Realität - etwa bei automatischen Einparkhilfen der Autos oder beim Tagesspiegel-Projekt "Radmesser" - juristisch vorgeschrieben ist es nicht.
Dass Radfahrer mehr Platz und breitere Wege brauchen, gilt in der Theorie als unstrittig. Finanzielle, politische und städtebauliche Gründe stehen in vielen Kommunen dagegen. Und oft ist die Perspektive der Stadtverwaltungen und Juristen noch vom Auto geprägt – an neue Modelle wie ein Rundum-Grün für Radfahrer und Fußgänger an Ampelkreuzungen zur Vermeidung von Abbiege-Unfällen, wie in den Niederlanden, traut sich kaum jemand heran. Auch neue Freiheiten und Großzügigkeiten für Radfahrer werden mehr diskutiert als erprobt. Versicherungs-Experte Brockmann hält die Straßenverkehrsordnung dennoch für „besser als ihr Ruf“: Sie sei „von vornherein dafür da, die Schwächeren vor den Stärkeren zu schützen, auch wenn dabei viel aus Windschutzscheibenperspektive geschaut wurde“. Aber der Radverkehr spiele in der StVO „längst eine große Rolle - was sich vom Fußverkehr nicht in diesem Maß sagen lässt“. Nun müsste sie auch an den Stand der Technik angepasst werden. (mit dpa)