Verkehrssenatorin zum Tagesspiegel-"Radmesser": "Hilfreich wären höhere Bußgelder"
Mehr Fahrradpolizisten, mehr Kontrollen, bessere Abstimmung – im Interview reagiert Berlins Verkehrssenatorin Regine Günther auf die Ergebnisse von Radmesser.
100 Radfahrer sind zwei Monate lang durch Berlin gefahren und haben im Rahmen des Tagesspiegel-Projekts "Radmesser" erhoben, wie eng sie von Autofahrern überholt werden. Die Auswertung der Analyse zeichnet ein düsteres Bild der Sicherheit von Fahrradfahrern in der Hauptstadt. Der Tagesspiegel hat die zuständige Verkehrssenatorin Regine Günther mit den Ergebnissen konfrontiert und gefragt, wie sie die Situation verbessern will. Hier das Interview mit der Senatorin in voller Länge.
Frau Günther, fahren Sie selbst Rad?
Nicht mehr so häufig wie früher, als ich täglich mit dem Rad unterwegs war – aber regelmäßig. Ich kenne meine Stadt jedenfalls auch aus der Radfahrerperspektive. Mein Beruf bringt es mit sich, dass es ohne rollendes Büro per Auto kaum funktioniert. Ansonsten bevorzuge ich einen Verkehrsmix.
Wir haben 4961 Radfahrer gefragt, wie viel Angst sie haben. Vor allem Jüngere, Frauen, Gelegenheitsfahrer fürchten sich.
Wir wissen aus verschiedenen Befragungen, dass viele Menschen in Berlin, überhaupt in Großstädten, nicht aufs Fahrrad steigen, weil sie Angst haben: vor Unfällen, vor der Geschwindigkeit, vor der Enge. Dabei spielt zu nahes Überholen von Autofahrern eine große Rolle, aber auch die Situation an Kreuzungen, beim Abbiegen etwa. Das ist ein stadtweites Problem, übrigens auch für Fußgänger. Ihre Umfrage-Ergebnisse bestätigen das. Und sie bestätigen mich in unseren Bemühungen, den Radverkehr sicherer zu machen – damit Radfahren für mehr Menschen als bisher überhaupt erst eine Option wird. Das ist der Grund, warum wir sichere und auf immer mehr Strecken sogar mit Pollern geschützte Radwege bauen.
In unserem zweimonatigen Test mit 100 Radfahrern wurden sie 9402 mal zu eng überholt. Warum kontrolliert das keiner?
Dies wäre die Aufgabe der Polizei, die seit einiger Zeit mit Fahrradstaffeln unterwegs ist. Wir wollen diese Fahrradstaffeln ausweiten, weil hier die Radfahrerperspektive schon integriert ist. Eine dichte Kontrolle im gesamten Stadtgebiet ist aber personell sehr schwer zu bewerkstelligen.
Warum auf den Bund warten und nicht schon jetzt kontrollieren, wie es in Hamburg der Fall ist?
Die Fahrradstaffel war ein erfolgreicher Modellversuch. Seit diesem Jahr gibt es sie dauerhaft in Berlin: 20 Beamte radeln durch Mitte. Wie schnell diese Staffel aufgestockt werden kann, prüft die Koalition gerade – zuständig ist die Innenverwaltung. Im Übrigen wäre es hilfreich, wenn der Bundesgesetzgeber eine konkrete Vorgabe für den Sicherheitsabstand in die Straßenverkehrsordnung hineinschreiben würde. Die in der Rechtsprechung üblichen anderthalb bis zwei Meter wären aus meiner Sicht eine vernünftige Größenordnung. Das würde es Polizei und Gerichten leichter machen. Wichtiger als Kontrollen bleibt aber eine sichere Infrastruktur.
In Hamburg gibt es trotz bestehender StVO schon jetzt Kontrollen zum Überholabstand. Der Bußgeldkatalog ist auch klar. Warum auf den Bund warten, wenn man schon jetzt etwas tun kann?
Auch in Hamburg ist das eine schwierige Materie. Es gibt keine flächendeckende Überwachung, sondern Sicherheitsabstände werden dort bei Schwerpunkteinsätzen mitkontrolliert. Ich hätte aber gar nichts dagegen, wenn sich die Berliner Polizei daran ein Beispiel nimmt.
Auf dem Weg zur Arbeit werden die Radfahrer am engsten und am häufigsten überholt. Wie wollen sie das ändern?
Morgens sind die Berliner Straßen am vollsten. Das Problem Enge ist dann zwangsläufig am größten, die Rücksichtnahme dagegen am geringsten. Mittelfristig helfen hier nur sichere Wege und vor allem gute Alternativen zum Auto. Wenn wir den Bahn-, Bus-, Rad- und Fußverkehr attraktiver machen, werden mehr Menschen ihr Auto stehen lassen. Das ist das Ziel des Mobilitätsgesetzes, das wir im Sommer verabschiedet haben und jetzt Stück für Stück umsetzen: Vorrang für den Umweltverbund aus ÖPNV, Radfahrern und Fußgängern. Wir bauen Berlin um von einer autogerechten in eine menschengerechte Stadt.
Gerade die Langsameren werden noch öfter eng überholt. Braucht es für Alte und Menschen mit Kindern extra Radspuren, wie es sie in Kopenhagen gibt?
Wir wollen keine Radwege bauen, auf denen sich nur gestählte Ganzjahresbiker wohlfühlen. Sicherheit im Straßenverkehr muss sich gerade an den Schwächsten orientieren. Allerdings ist der Straßenraum nun mal insgesamt begrenzt. Es kann nicht jeder seine eigene Supersicher-Spur haben, sondern wir brauchen sehr gute Radwege, auf denen alle fahren wollen.
Von 4961 Befragten gaben knapp ein Viertel an, in den letzten 24 Monaten einen Unfall gehabt zu haben. Demnach steht der offiziellen Polizeistatistik eine riesige Dunkelziffer gegenüber. Brauchen wir aussagekräftigere Statistiken über den Berliner Radverkehr?
Die Unfallstatistik führt die Polizei. Unfälle ohne Personenschaden werden oft direkt über die Versicherungen abgewickelt oder gar nicht gemeldet. Wir haben aber dank der neuen Berliner Unfallkommission einen immer besseren Überblick darüber, wo die Probleme liegen. Und wir arbeiten sie sukzessive ab.
Gefährlich sind auch Autos, die auf Radwegen parken oder in zweiter Reihe. Ließe sich das nicht schnell ändern?
Bei den geschützten Radfahrstreifen, die es jetzt erstmals in der Holzmarktstraße gibt, wird durch Poller ausgeschlossen, dass Autos auf dem Radweg parken. Ansonsten brauchen wir ein anderes Bewusstsein: Es ist keine Bagatelle, auf dem Radweg zu parken. Radfahrende werden durch so ein Verhalten stark und komplett vermeidbar gefährdet. In der täglichen Arbeit ist es an der Polizei, Radwegparker abschleppen lassen. Wir versuchen da durch Schwerpunktkontrollen voranzukommen. Sehr hilfreich wären allerdings höhere Bußgelder – zur effektvollen Abschreckung. Auch dafür ist der Bund zuständig.
Das Mobilitätsgesetz ist verabschiedet, die Mittel bewilligt und wieder sind dieses Jahr unzählige Radfahrer verunglückt. Warum dauern Verbesserungen so lange?
Da empfehle ich einen kurzen Blick zurück: 70 Jahre lang wurde hierzulande in der Städteinfrastruktur das Auto ins Zentrum gestellt. Unser Berliner Mobilitätsgesetz, das dem ÖPNV und dem Rad Vorrang gibt, existiert dagegen noch kein halbes Jahr. Ein solches Gesetz gibt es nirgendwo sonst in Deutschland. Als ich die Senatsverwaltung übernommen habe, hat sich berlinweit eine einstellige Zahl von Menschen in allen Behörden mit Radverkehr beschäftigt.
Inzwischen sind es annähernd 70: Wir haben eine Koordinierungsstelle in der Hauptverwaltung aufgebaut, wir haben die InfraVelo als Umsetzungsgesellschaft geschaffen, wir haben Stellen für je zwei Radfahrverantwortliche pro Bezirk eingerichtet. Die Mittel für Radinfrastruktur wurden etwa verfünffacht. Es war und ist immer noch ein komplexer Strukturaufbau von fast Null zu leisten – so etwas geht nicht über Nacht. Es gibt Dutzende laufender Projekte: mehr Fahrradbügel, geschützte Radwege, Grünmarkierungen, bessere Kreuzungsdesigns, Unfallkommission, Radparkhäuser, Radschnellstraßen, die Radbahn in Kreuzberg. Vieles kann nur in enger Zusammenarbeit mit den Bezirken gelingen. Allmählich sind aber Ergebnisse zu sehen. Die Infrastruktur wird kontinuierlich besser, auch immer schneller. Nur eben nicht auf einen Schlag.
Viele der neu geschaffenen Rad-Infrastruktur sind weiterhin nur Schutzstreifen und nicht konsequent baulich getrennte Wege. Warum diese halben Lösungen?
Wir haben zum Teil alte Vorhaben fortgesetzt, wenn die Dinge schon weit vorangeschritten waren. Wir haben in manche Pläne, zum Beispiel in der Holzmarktstraße, eingegriffen und sie verbessert. Dass schmale Schutzstreifen keine sicheren Radwege sind, ist klar. Sie werden künftig die Ausnahme sein – wenn die Flächensituation nichts Besseres hergibt. Nicht jede Straße in Berlin ist so breit wie die Karl-Marx-Allee, wo wir einen Vier-Meter-Radweg bauen.
Auf Nebenstraßen wird sogar noch enger überholt als auf Hauptstraßen. Dafür gibt es aber keinen Plan, geschützte Radwege zu schaffen. Macht das Sinn?
Auch hier gibt es ein Platzproblem und Flächenkonkurrenz. Das Mobilitätsgesetz sieht vor, dass wir in den Nebenstraßen den Verkehr unterbinden, der nicht zum Quartier gehört. Die Berliner Kieze sind zum Leben und Wohnen da. Wir werden hier mit baulichen Lösungen arbeiten, etwa mit Pollern oder Sperren. Davon profitieren die Anwohner, weil das Lärm und Luftschadstoffe reduziert.
Bisher sind nur zwei Radwege an Hauptstraßen in Berlin mit Pollern geschützt. Wo soll als nächstes gepollert werden?
Die nächsten geschützten Radwege entstehen an der Hasenheide in Neukölln und am Dahlemer Weg in Steglitz-Zehlendorf. Begonnen wird in diesem Jahr. Weitere Projekte sind in Planung, 2019 wird davon einiges auf die Straße kommen.
Drei der zehn Straßen, wo am engsten überholt wurde, liegen in Reinickendorf. Dort sind aber kaum neue Radwege geplant. Hat der Bezirk zu wenig Unterstützung vom Senat?
Im Gegenteil. Für die Planung und den Bau sind im Wesentlichen die Bezirke zuständig. Sie sind die Baulastträger auf den meisten Straßen. Wir würden uns daher freuen, wenn von dort mehr Planungsideen kommen, auch aus Reinickendorf und anderen Außenbezirken. Wir unterstützen sie personell und finanziell.
Wir haben bereits im Frühjahr bei der Senatsverwaltung nachgefragt, wo neue Radwege geplant sind. Man verwies uns an die Bezirke für die genauen Planungen. Wie kann es ein, dass die Verwaltung keinen zentralen Überblick über die Berliner Planungen hat?
Wir als Senatsverwaltung machen Vorgaben, finanzieren Projekte, prüfen Unterlagen. Planung und Bau machen die Bezirke, von ihnen erfahren wir den Stand der Dinge. Das ist eine Folge der zweigliedrigen Berliner Verwaltungsstruktur. Damit diese Arbeitsteilung transparenter und effizienter wird, haben wir ein neues Bündnis für den Radverkehr gegründet, das vor allem Probleme lösen soll. Die Abstimmung mit den Bezirken muss schneller werden. Wir werden im Zuge der Verwaltungsreform dafür sorgen, dass künftig weniger Reibung und mehr Radinfrastruktur produziert wird.
Will man ernsthaft neue Radwege, muss man den Platz woanders wegnehmen. Wo?
Bei Verkehrslösungen geht es immer um den konkreten Ort und seine Gegebenheiten. Den Rahmen gibt das Mobilitätsgesetz vor. Wir können keine Pauschallösungen für die gesamte Stadt verordnen. Aber es ist völlig klar, dass an einigen Stellen Parkplätze wegfallen werden.
Eine Mitarbeiterin aus Ihrer Verwaltung berichtete uns, dass viele ihrer Kollegen sich über Radfahrer aufregen. Herrscht in der Verkehrsverwaltung eine Stimmung, die eher pro Auto ist?
Nein. Bei unseren Verkehrsexperten ist die Notwendigkeit einer Mobilitätswende voll angekommen. Ohne die engagierte Arbeit der Kolleginnen und Kollegen hätten wir die sehr vielen Veränderungen gar nicht anschieben können. Natürlich sind unter den 1300 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in meiner Verwaltung nicht nur Radfahraktivisten – und es gibt ja auch noch mehr Verkehrsteilnehmer. Wir stehen mit unseren Plänen und Projekten für eine neue Mobilität aber voll im weltweiten Trend der großen Metropolen. Nächste Woche lade ich meine Amtskollegen aus sechs Berliner Partnerstädten zu einer Internationalen Mobilitätskonferenz ein. Brüssel, London, Peking, Moskau, Paris, Los Angeles: Sie alle stehen vor sehr ähnlichen Herausforderungen. Wir müssen den Verkehrskollaps verhindern und dafür sorgen, dass unsere Städte lebenswert bleiben.
Regine Günther, 55, ist seit Dezember 2016 Verkehrssenatorin in Berlin. Sie ist parteilos, das Amt bekleidet sie für die Grünen. Das Gespräch mit ihr führte Hendrik Lehmann.