Psychisch behandelte Amokläufer: Schwere Lücken in der medizinischen Betreuung
Bei der Versorgung psychisch instabiler und gestörter Jugendlicher gibt es offenbar große Probleme. Vor allem der Übergang von stationärer zu ambulanter Behandlung funktioniert oft nicht.
Von Winnenden über Nizza und München bis Ansbach: Jugendliche Menschen, die Amok laufen, verbreiten Angst und Schrecken. Laut Aussagen von Nachbarn, Bekannten, Schulfreunden waren sie zuvor meist „unauffällig“, „höflich“, „freundlich“, oft auch „zurückgezogen“. Etwas später dann kommt ans Licht, dass die Täter durchaus psychisch auffällig und, erstaunlicherweise, auch in psychiatrischer Behandlung waren.
So soll der tunesisch-französische Attentäter von Nizza häufig stationär behandelt worden sein. Das gibt offenbar die Familie an. Und auch der mutmaßliche Selbstmordattentäter von Ansbach, der sich am Sonntag in die Luft sprengte und zwölf Menschen zum Teil schwer verletzte, war nach Angaben der Behörden wegen mehrerer Selbstmordversuche seit längerem in psychiatrischer Behandlung.
Vom Münchner Amokschützen David S. wird berichtet, dass er wegen „Soziophobie“, also Angst vor der Begegnung mit anderen Menschen, und entsprechender „Bindungsstörung“ behandelt wurde. Im Sommer vor einem Jahr soll er zwei Monate in der psychosomatischen Abteilung der Harlachinger Klinik in München verbracht haben. Ein letzter ärztlicher Kontakt soll erst im Juni 2016 stattgefunden haben, teilten die Staatsanwaltschaft und das Landeskriminalamt in München mit.
Tim K., der 2009 in Winnenden 15 Schulkameraden erschoss, soll eine psychiatrische Behandlung abgebrochen haben. Erfolglos verklagte der Vater Ärzte und Therapeuten der Klinik am Weissenhof in Weinsberg, wo sein Sohn als 17-jähriger vier Termine zur Behandlung gehabt hatte. Im März 2016 wurde die Klage abgewiesen. Der Patient hatte offenbar von Hass auf alle und „Tötungsfantasien“ gesprochen. Solche Szenen der Rache imaginieren viele. Dass auf verbale Wutausbrüche Massenmorde folgen, habe man nicht ahnen können.
Hellhörig machen dürften diese Fälle die Öffentlichkeit dennoch. Sie erinnern an die Fälle der toten Kinder wie Lea-Sophie, Kevin, Yagmur, deren Familien im Visier des Jugendamtes waren, und die dennoch starben. Was lief, was läuft da schief?
Seit Jahren klagen Psychiatrien, wie die meisten Kliniken, über Personalmangel. Der Anteil an jugendlichen Patienten steigt. Behandlungsmöglichkeiten sind oft eingeschränkt. So entstehen risikoreiche Lücken im psychiatrischen Versorgungssystem. Kommen junge Menschen, etwa zwischen 14 und 22, stationär in eine Psychiatrie, werden meist soziale und affektive Störungen, suizidale Krisen diagnostiziert. Die Patienten verbringen dann mehrere Wochen oder Monate auf den Stationen. In vielen Kliniken erhalten sie vor allem Medikamente. Daneben gibt es, je nach Ausstattung, Ergotherapie, also Beschäftigungstherapie wie etwa mit künstlerischer Arbeit oder Handarbeiten, Gruppentherapien und seltener, weil teuer, einzeltherapeutische Gespräche.
Odyssee von Klinik zu Klinik
In der Regel wechselt das Personal häufig, oft sind Stationen überbelegt, die Zeit, sich intensiv und persönlich mit einem Patienten zu beschäftigen, fehlt häufig. Die klinische Behandlung führt daher selten zu einer therapeutischen Bindung, die die Basis bildet für Vertrauen und Genesung. Eine solche Bindung ist womöglich sogar unerwünscht, da der Patient die Klinik verlassen soll, auch wenn er "draußen" meist nicht ambulant weiterbehandelt werden kann.
Erwachsene Patienten, die eine Psychiatrie verlassen, haben in der Regel einen Rahmen: Zuhause, Partner, Freunde, Beruf. Jüngeren fehlt das alles. Zurück ins häufig dysfunktionale Elternhaus sollten sie eher nicht, „draußen“ brauchen sie in der Regel ein Zimmer oder eine Wohnung, einen ambulanten Therapieplatz, eine begleitende psychiatrische, medikamentöse Behandlung, im besten Fall auch noch einen Schul- oder Ausbildungsplatz. Wer soll für all das sorgen? Die Klinik? Die Eltern? Der Patient? Alle drei Akteure können sich leicht für nicht zuständig oder überfordert erklären. Das Risiko, dass diese Übergänge missglücken, ist hoch.
Die Brücke von der stationären Behandlung zur ambulanten scheint im Behandlungssystem zu fehlen oder nicht gut instand zu sein. Doch auf den Schritt über diese Brücke kommt es an. Ambulante Therapieplätze, insbesondere für Jugendliche und junge Leute mit Selbst- und Fremdgefährdung, sind rar. Doch die Anschlussbehandlung für Jugendliche nach der Klinik sollte verlässlich sichergestellt sein. In der therapeutischen Bindung können Jugendliche Vertrauen wieder oder überhaupt erst erlernen. Sie ist das Desiderat der „Fälle“.
In unserer Gesellschaft läuft so vieles schief. Aber wir machen letztendlich immer wieder den Einzelnen verantwortlich, wenn er nicht angepasst ist - statt endlich mal unsere Gesellschaft so zu ändern, dass sie uns nicht krank macht.
schreibt NutzerIn Jonas
Stattdessen kommt es bei Jugendlichen öfter zu den für die Kassen enorm teuren und therapeutisch wenig hilfreichen Odysseen von Klinik zu Klinik und zur Gefahr der Gewöhnung an Psychopharmaka - der falsche Weg. Meist erst nach zahlreichen, individuellen therapeutischen Sitzungen beginnen schwer gestörte Jugendliche, sich einem anderen Menschen anzuvertrauen und können lernen, ihre Impulse zu integrieren und zu kontrollieren, ihre Ängste zu lösen. Die rettende Genesung kann Jahre dauern, aber sie wirkt. Diese Chance scheint in den Fällen der Amokläufer, die in Behandlung waren, versäumt worden zu sein. Das zumindest lässt sich vermuten.
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