Nach Amoklauf in München: Die Einzeltäter sind Teil einer "Jungenkrise"
Amokläufer sind in der Regel Einzeltäter. Aber sie gehören zu einem größeren Problem. Wir müssen uns um Jungen kümmern - und brauchen ein anderes Männerbild. Ein Gastkommentar.
Amok in München, nicht sehr weit von uns. Das ist schrecklich, gewiss. Andererseits ist es auch nicht sehr überraschend. Man konnte gewissermaßen auf eine solche Tat warten: Erfurt, Nickle Mines, Emsdetten, Tuusula und Kauhajoki. Winnenden oder Newtown, Oslo und jetzt München – das sind Beispiele von Amokläufen der vergangenen fünfzehn Jahre – und es sind längst nicht alle.
Die Konstellation ist dabei immer die gleiche: Es sind junge Männer mit Problemen, häufig in therapeutischer Behandlung, sozial schlecht integriert, einsam, mit dem PC als bestem Freund, Gewaltspiele und -fantasien, miese Schulkarriere, schlechte Chancen auf dem Ausbildungsmarkt, dementsprechend viel Frust und Aggressionspotential.
Psychische Störungen sind bei Jungen achtmal häufiger
Klar, das alles sind jeweils Einzeltäter. Aber als Einzeltäter sind sie die Spitze des Eisbergs, der „Jungenkrise“ heißt. In der Kriminalstatistik sind Jungen sechzig Mal öfter vertreten als Mädchen; psychische und psychosomatische Störungen sind bei Jungen achtmal häufiger; ihr Anteil in Förderschulen und Institutionen für Verhaltensauffälligkeiten beträgt zwei Drittel; dreimal so viele Jungen wie Mädchen sind heute Klienten von Erziehungsberatungsstellen; im Durchschnitt sind mittlerweile alle Schulleistungen von Jungen schlechter als die der Mädchen; Alkohol- und Drogenprobleme von Jungen nehmen dramatisch zu; die zweithäufigste Todesursache von männlichen Heranwachsenden ist der Suizid, wobei sich Jungen mindestens sechsmal häufiger selber umbringen als Mädchen im gleichen Alter.
Immer mehr Jungen wachsen heute vater- und männerlos auf, was allgemein als eine der wichtigsten Ursachen für ihre zunehmende Desorientierung ausgemacht wird. In einigen Ländern haben schon mehr als die Hälfte der Jungen keinen Vater mehr. Die Sinus-Studie der deutschen Bundesregierung belegt die Ängste der jungen Männer.
"In ihrem Inneren verzweifelt, orientierungslos und einsam"
„Unsere Söhne haben Probleme“, schreibt der Jungenpsychologe William Pollack., „und diese Probleme sind gravierender, als wir denken." Selbst die Buben, die nach außen ganz "normal" wirkten und den Anschein erweckten, mit dem Leben gut zurechtzukommen, seien davon betroffen. „Gemeinsam mit anderen Forschern musste ich in den letzten Jahren erkennen, dass sehr viele Jungen, die nach außen hin ganz unauffällig wirken, in ihrem Inneren verzweifelt, orientierungslos und einsam sind." Sie können sich nicht mehr an allgemein gültigen Bildern von Männlichkeit orientieren, wie das früher der Fall war. Stattdessen müssen sie sich allein zurecht finden – nicht zuletzt, weil das die männliche Rolle von ihnen verlangt.
In den vergangenen vierzig Jahren hat sich die Politik auf die Förderung von Mädchen und Frauen konzentriert; dass es noch ein anderes Geschlecht gibt, geriet dabei in Vergessenheit. Wenn wir weitere Katastrophen verhindern wollen, müssen wir uns überlegen, wie wir unseren Jungen neue Ziele, konstruktive Wege und ein anderes Männerbild vermitteln können. Ansonsten können wir auf den nächsten Amoklauf warten.
- Walter Hollstein ist Em. Prof. für politische Soziologie in Berlin, Autor von „Was vom Manne übrig blieb“ (Verlag Opus Magnum)
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