Einmal hingeschaut: Der Teejunge: Viel Macht und nichts zu verlieren
Ahmet Refii Dener über den türkischen Weg. Eine Glosse.
Als ich das schöne Bild mit Herrn Gabriel und Herrn Çavueozlu beim Teetrinken sah, voller Liebe, Wärme und Verständnis füreinander, dachte ich: Die Bären sind los!
Dazu eine kleine Geschichte: „Eines Tages brechen aus dem Istanbuler Zoo drei Bären aus. Jeder von ihnen läuft in eine andere Richtung davon. Nach dem ersten Tag ist der erste schon eingefangen. Der zweite ist am dritten Tag eingefangen, nur bis sie den dritten Bären eingefangen haben, vergehen lange drei Wochen. Als alle Bären wieder an ihrem angestammten Platz im Zoo angekommen sind, unterhalten sie sich. Die ersten beiden erzählen, dass sie sich auf der Suche nach Nahrung nicht lange verstecken konnten und die Polizei und Feuerwehr sie einfingen. Erstaunt fragen sie den dritten Bären, wie er es geschafft hatte, so lange in Freiheit zu bleiben.
„Ich ging in ein großes Gebäude, auf dem Schild stand irgendwas mit ,Holding‘. Dann versteckte ich mich in einem Aufzugschacht. Immer, wenn ich Hunger hatte, stieg ich in den Aufzug und fuhr nach oben. Zuerst fraß ich einen, bei dem ,CEO‘ an der Tür stand. Die Person schien nicht so wichtig zu sein, ihr Fehlen bemerkte niemand. Am nächsten Tag fraß ich einen auf, bei dem ,COO‘ an der Tür stand. Alle anscheinend unwichtig, niemand hat’s bemerkt. So habe ich mich von oben nach unten sattgefressen.“
Ein Bär fragt: „Wenn einige hundert Menschen arbeiteten und du noch so viel Nahrung hattest, warum bist du dann nach drei Wochen gefasst worden?“
„Ja, wisst ihr: Weil das so einfach war, wollte ich mir eines Tages nicht mehr die Mühe machen, mit dem Aufzug nach oben zu fahren. Da habe ich direkt den Teejungen aufgefressen, und das haben dann alle bemerkt und sofort die Polizei gerufen.“
Der Teejunge hat Macht - alle brauchen ihn
Der Teejunge ist in der Türkei von immenser Bedeutung, weil er alle mit dem Nationalgetränk beliefert. Wenn Sigmar Gabriel also in diese Rolle schlüpft, darf man sich nicht über ihn lustig machen. Nach dem Foto zu urteilen, hat er das Sagen. Çayca („Tschaitsch“ ausgesprochen) ist in der Türkei der Teezubereiter beziehungsweise -bringer. Çayca kann ein Mann oder eine Frau sein und sogar den Vorstands- oder Geschäftsführerposten innehaben.
Wenn ein Unternehmen etwa pleitegeht und der Vorstand oder der Geschäftsführer sich dafür verantworten müssen, stellt sich heraus, dass der Teejunge der „Alleinzeichnungsberechtigte“ war. Da er nichts zu verlieren hat, setzt man ihn gern auch für solche Jobs ein.
Ahmet Refii Dener arbeitet seit 1987 als Türkei-Berater. 2017 ist "ARDner", wie sich der Blogger selbst nennt, nach Berlin
gezogen. Für den Tagesspiegel wirft er jeden Sonntag einen persönlichen Blick auf die Türkei.
Ahmet Refii Dener