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Lügde: Auf dem Campingplatz Eichwald hängt vor dem versiegelten Campingwagen des mutmaßlichen Täters eine Banderole der Polizei.
© Guido Kirchner/dpa

Prozess um Missbrauch von Lügde: Das Grauen auf dem Campingplatz

Andreas V. soll auf dem Campingplatz von Lügde mehr als 20 Jahre lang Kinder missbraucht haben. Am Donnerstag beginnt der Prozess vor dem Landgericht Detmold.

Jetzt, nachdem jeder die grausamen Vorwürfe kennt, wirkt das friedliche Bild vom Trampolin wie ein Hohn. Kinder tobten ausgelassen auf der Sprungmatte, sie lachten, sie kreischten vor Freude. Es war ein Symbol von Freizeitspaß. Damals, als niemand wusste oder ahnte, was fünf Meter entfernt geschehen sein soll. Hinter diesem Bretterverschlag mit den alten Reifen, dem verstaubten Fernseher, dem uralten Faxgerät.

Hinter den morschen Brettern stand der Wohnwagen, in dem das Drama geschehen sein soll. Jahrelang, in unmittelbarer Nähe zu den Nachbarn auf dem Campingplatz „Eichwald“ in Lügde-Elbrinxen, zwischen Teutoburger Wald und Weserbergland. Die Nachbarn sahen damals nur, dass der Mann, der im Bretterverschlag wohnte, ständig mit Kindern spielte und die Kinder offenbar gerne zu ihm kamen.

Jetzt wissen es alle besser. Am Donnerstag werden vor dem Landgericht Detmold jene Taten angeklagt, die sich hinter der Bretterbude abgespielt haben sollen. Und der „Addi“, wie ihn alle in „Eichwald“ nennen, tritt nicht mehr als der nette Onkel auf, sondern als der Angeklagte Andreas V., 56 Jahre alt, Hartz-IV-Empfänger.

298 Straftaten an 23 Kindern

Bestätigt sich, was ihm vorgeworfen wird, wäre es ein so schwerwiegender Fall von sexueller Gewalt, wie es ihn in Nordrhein-Westfalen noch nie gegeben hat, einer, der in seiner Dimension die Republik erschüttert. Der Staatsanwalt wird in seiner Anklageschrift nüchterne Zahlen verlesen. Mehr als 40 geschändete Kinder, mehr als 460 Einzeltaten; mutmaßlicher Missbrauch in einem Zeitraum von rund 20 Jahren.

Allein Andreas V. werden 298 Straftaten an 23 Kindern vorgeworfen. Die Polizei fand bei ihm 879 Dateien mit Kinderpornographie. Neben Andreas V. auf der Anklagebank: Mario S., 34 Jahre alt, Vorwurf: 162 Fälle von sexuellem und schwerem sexuellen Missbrauch. Er soll sich an 17 Kindern vergangen haben, auch er lebte in „Eichwald“. Und Heiko V. 49 Jahre alt, Vorwurf: Anstiftung zum schweren sexuellen Missbrauch von Kindern. Er soll mindestens vier Mal an Webcam-Übertragungen von Andreas V. teilgenommen haben. V. soll den Missbrauch aufgenommen haben.

Mehr zum Thema: Lügde-Täter hätte schon vor 20 Jahren gestoppt werden können

Auch Polizei und Jugendamt stehen in der Kritik: mangelndes Engagement, Untätigkeit, grobe Fehler bei der Gefahren-Einschätzung, Ermittlungspannen. Der Kern aller Fragen lautet: Wieso hatte mehr als 20 Jahre lang niemand etwas von den mutmaßlichen Missbrauchsfällen mitbekommen, in einer Anlage mit familiärer Atmosphäre und vielen Dauercampern? Frank Schäfsmeier, der Besitzer von „Eichwald“, sagte, seine eigenen Kinder hätten mit Andreas V. gespielt. Und dass er ihn seit 30 Jahren kenne.

Der „Addi“, der Kinderfreund, suchte sich vor allem Kinder aus sozial schwachen Familien, für die der Campingplatz zum Abenteuerspielplatz wurde. Mit Stockbrotbacken, Ausflügen ins Schwimmbad, Trampolinspringen. Er kochte für sie, wusch ihre Kleidung, er holte sie von der Kita und der Schule ab. Einmal besorgte er sogar ein Pferd.

Andreas V. bekam ein Pflegekind

Aber hinter Fassade agierte möglicherweise ein anderer Mann. In der Anklageschrift ist von einer narzisstisch-dissozialen Persönlichkeit die Rede. Dort steht auch, dass Andreas V. bei machen Taten das Weinen seiner Opfer ignoriert habe. Vor allem soll das Mädchen gelitten haben, das, sechs Jahre alt, offiziell im Januar 2017 mit Zustimmung des Jugendamts Hameln das Pflegekind von Andreas V. wurde. Die minderjährige Mutter hatte V. die Pflegschaft überlassen.

Es gab mehrere Hinweise auf auffälliges Verhalten von Andreas V.. Einer Recherche der „Süddeutschen Zeitung“, WDR und NDR ergaben, dass eine Frau ihn schon 2000 mit dem mutmaßlichen Missbrauch ihrer vierjährigen Tochter in Verbindung brachte. Zwei Jahre später sei ein offizielles Verfahren eingeleitet und an die zuständige Staatsanwaltschaft Detmold weitergegeben worden. Was daraus wurde und ob überhaupt ermittelt wurde, wolle die Staatsanwaltschaft Detmold jedoch nicht sagen.

Auch an die zuständigen Jugendämter Hameln und Lippe gingen Meldungen ein, aber die Überprüfungen ergaben aus Sicht der Mitarbeiter keinen Hinweis auf Gefährdung. Die Polizei in Lippe nahm zwar Kontakt mit den Jugendämtern auf, leitete aber keine weiteren Ermittlungen zu Andreas V. ein. Sie informierte auch nicht die Staatsanwaltschaft.

Dieter Schürmann, Landeskriminaldirektor im Innenministerium von Nordrhein-Westfalen sprach von „schwerwiegenden handwerklichen Fehlern“ bei der Polizei. Warum durfte überhaupt ein alleinstehender Mann, der hinter einem Bretterzaun in einem Campingwagen hauste, ein Pflegekind haben? Weil die Mutter ihm schon das Sorgerecht übertragen hatte, rechtfertigt sich der Hamelner Landrat Tjark Bartels. Ein Sozialarbeiter habe das Kind regelmäßig besucht, es habe sich gut entwickelt. Aber nie wäre V. offiziell Pflegevater geworden, wenn man den Hinweisen auf pädophile Neigungen konsequent nachgegangen wäre.

Polizeipannen bei den Ermittlungen

Eine Mitarbeiterin des Jugendamts hatte sich die Familiengeschichte von Andreas V. angesehen. Sie erkannte einen Hinweis auf Pädophile. Später löschte sie die Aufzeichnungen. Auch der Leiter des Jugendamts Hameln manipulierte eine Akte zu dem Pflegekind, möglicherweise um einen Fehler bei der Betreuung zu kaschieren.

Am 20. Oktober 2018 zeigte eine Mutter Andreas V. bei der Polizei an, am 6. Dezember wurde er festgenommen. Seine Bretterbude wurde durchsucht, die Pannen gingen weiter. Polizisten aus Lippe übersahen einen Computer von Andreas V, eine Festplatte, 131 CDs. Ein Spürhund stieß auch noch auf einen USB-Stick im einer Sesselritze. Inzwischen ist die Bretterbude abgerissen und der Campingwagen ebenso verschwunden wie das Trampolin. Als sollten alle Erinnerungen gelöscht werden.

Doch beim Prozess in Detmold sind sie da. 27 mutmaßliche Opfer werden als Nebenkläger auftreten. Die Staatsanwaltschaft will für Andreas V. und Mario S. Sicherungsverwahrung.

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