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Tatort „Eichwald“. Der Campingplatzbetreiber lässt die Parzelle des mutmaßlichen Täters seit vergangener Woche räumen.
© Guido Kirchner/dpa

Kindesmissbrauch in Lügde: Eine Kleinstadt wird zur Chiffre für das Monströse

Acht Beschuldigte, 40 Opfer, 1000 Taten: Der Fall Lügde ist bestürzend. Die Wut von Anwohnern richtet sich auch gegen Behörden, die erst spät eingriffen.

Fünf Meter neben alten Reifen, ausgebauten Fensterrahmen, einem Fernseher und einem eingestaubten Faxgerät steht ein Mann mit ausgewaschener Arbeitshose. Er hat seine Brille in die Haare geschoben, unterm Sweatshirt wölbt sich ein mächtiger Bauch. Der Müll stapelt sich auf der Parzelle seines Nachbarn Andreas V., auf dem Campingplatz nennen ihn alle „Addi“, auch der 64-jährige Pole in der ausgewaschenen Hose. Es ist ein trüber Tag Anfang April.

Dass der „Addi“ um seinen Campingwagen eine windschiefe Bretterbude baute, damit man den Rest seines Mülls nicht auch noch sieht, nahm der Mann mit dem Sweatshirt seit Jahren wahr. Dass er aber auch neben einem Tatort lebt, das weiß er erst seit Dezember 2018. Deshalb will er auch seinen Namen nicht gedruckt sehen. „Mit diesem Mann möchte ich nicht in Zusammenhang gebracht werden.“

Im Dezember holte die Polizei Andreas V. aus seiner Bretterbude auf dem Campingplatz „Eichwald“ in Elbrinxen, Ortsteil der Kleinstadt Lügde im Teutoburger Wald.

Die Bretter sollten neben dem Müll auch den Missbrauch an mindestens 40 Kindern verdecken. Von 1000 Missbrauchsfällen zwischen 2008 und 2018 geht die Kriminalpolizei bis jetzt aus. Die Opfer waren zwischen vier und 13 Jahre alt, darunter ist auch die Pflegetochter von Andreas V.

„Der Addi war auch ein komischer Typ“

Im Januar wurden die Vorwürfe öffentlich, seither ist Lügde nicht mehr nur ein verschlafenes Nest im Nordosten Nordrhein-Westfalens, der Name der Kleinstadt ist nun eine Chiffre für ein monströses Verbrechen und umfassendes Behördenversagen. Hier ist kaum mehr etwas wie zuvor.

Frank Schäfsmeier, der Besitzer des Campingplatzes, wird in E-Mails aus ganz Deutschland beschimpft, weil er nicht gegen den Missbrauch eingeschritten sei und überhaupt „rund um Lügde sowieso nur Verbrecher leben“.

Der 54-Jährige und die Dauercamper auf dem Platz wurden zwei Wochen lang von Medien regelrecht „belagert“.

Leute schrieben ans Bürgermeisteramt, sie würden nie mehr einen Fuß nach Lügde setzen.

Kurz wurde darüber nachgedacht, ob die Feier zum 800. Geburtstag von Elbrinxen im Sommer ausfallen soll.

Eine Frau in einem Café in Lügde sagt entnervt, „die Stadt ist für immer stigmatisiert.“

Auch dafür ist Andreas V. verantwortlich.

Andreas V. lebte 30 Jahre im „Eichwald“. „Der Addi“, sagt der Pole, „der war hilfsbereit. Wenn ich gesagt habe, Addi, ich brauche Splitt, dann war der Splitt am nächsten Tag da. Wenn ich Motorenöl wollte, habe ich es bekommen.“ Andererseits, „der Addi war auch ein komischer Typ.“

Ein Muster, das auf pädophile Neigungen deutet

Denn der „Addi“, der hatte ja keine Frau, aber Kinder tollten ständig bei ihm herum. „Wir hatten uns schon Gedanken gemacht, weil er so viel mit Kindern zu tun hatte.“ Aber dann hebt der Pole die Arme, es wirkt wie eine entschuldigende Geste. „Die Kinder sind zu ihm gekommen. Der hatte mit denen viel gespielt.“ Das Trampolin vor der Bretterbude, das hatte auch Andreas V. besorgt.

Andreas V. lebte schon seit Jahren in dem Campingwagen, den er mit seinem Bretterbau abschirmte, als er Anfang 2017 die Pflege eines sechsjährigen Mädchens übernehmen durfte. Die minderjährige Mutter lebt im Landkreis Hameln, sie kannte V., sie hatte ihm schriftlich das Sorgerecht übertragen.

Das Jugendamt Hameln prüfte sieben Monate lang die Wohn- und Lebenssituation von V., hatte nichts einzuwenden, schickte aber wöchentlich eine Familienhilfe zu dem 56-Jährigen. Später bestimmte das Jugendamt Hameln V. sogar zum regulären Pflegevater, 1000 Euro Pflegegeld pro Monat inklusive. Auch das Jugendamt Lippe war für V. und dessen Pflegekind zuständig, weil der Campingplatz im Landkreis Lippe liegt.

Schon 2002 wurde Andreas V. verdächtigt, eine damals Achtjährige missbraucht zu haben. 2008 gab es einen weiteren Hinweis auf Missbrauch, in beiden Fällen passiert V. nichts. 2016 gab es wieder Meldungen an die Jugendämter, wieder wurde ihnen nicht intensiv nachgegangen. Im Jugendamt Hameln hatte zudem eine Mitarbeiterin frühzeitig ein Genogramm von Andreas V. erstellt, einen Stammbaum mit Familienbeziehungen, Freundschaften und anderen Kontakten.

Daraus ergab sich ein Muster, das auf pädophile Neigungen deutete. Der Pflegevater suche immer wieder Kontakt zu kleinen Mädchen, bringe diese in ein Abhängigkeitsverhältnis. Niemand zog daraus Konsequenzen.

Das Behörden-Debakel geht weiter

Erst als eine Mutter am 20. Oktober 2018 Andreas V. wegen Missbrauchs an ihrer Tochter anzeigt, kommt alles ins Rollen. Die Pflegetochter wird von Polizisten und Sozialarbeiterinnen vom Campingplatz geholt. Anfang Dezember wird Andreas V. festgenommen. Ein 33-Jähriger und ein 48-Jähriger kommen auch in Haft. Der 48-Jährige soll an zwei Live-Chats teilgenommen haben. Andreas V., so der Vorwurf, habe den Missbrauch gefilmt. Der 33-Jährige soll sowohl gefilmt als auch missbraucht haben.

Gegen fünf weitere, nicht inhaftierte Beschuldigte wird wegen des Besitzes von kinderpornografischem Material, Strafvereitelung und Beihilfe zum Missbrauch ermittelt.

Doch das behördliche Debakel geht weiter. Der Leiter des Jugendamts Hameln wird versetzt, weil er einen Vermerk zu Andreas V. manipuliert hatte. Die Sachbearbeiterin, die das Genogramm erstellte, wird aus dem öffentlichen Dienst entlassen, weil sie den Stammbaum gelöscht hat – vermutlich um zu vertuschen, dass sie trotz der Hinweise auf Pädophilie nicht korrekt gehandelt hatte.

Polizisten übersahen bei ersten Durchsuchungen von Andreas V.s Parzelle einen Computer, eine Festplatte, 131 CDs und einen USB-Stick. Später verschwanden bei der Kripo in Detmold Beweismittel, wieder waren es Datenträger, 155 CDs und DVDs. Am vergangenen Donnerstag nun, vier Monate nach Andreas V.s Festnahme, wurde bei Abrissarbeiten auf dessen Parzelle eine weitere CD gefunden. Die Arbeiter stießen in einem Hohlraum des Wohnwagens darauf, sie übergaben die Funde der – bei den Abrissarbeiten nicht anwesenden – Polizei. Am Freitag fand sich eine weitere CD im Schutt.

Und wenn was gewesen wäre?

Zwei ranghohe Polizisten in Lippe mussten ihre Posten räumen. Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul sprach von „Behördenversagen an allen Ecken und Kanten. Meine Oma hätte gemerkt, dass da etwas nicht stimmt.“

Aber Frank Schäfsmeier beteuert, er habe doch auch nicht gemerkt, dass da etwas nicht stimmt. An diesem trüben Apriltag sitzt er in einem Holzhäuschen am Eingang seines Campingplatzes. Hier hat er sein Büro mit Wimpeln und einer Deutschlandkarte an der Wand. Er kennt Andreas V. seit 30 Jahren.

Als ihm die Polizei sagte, es gehe jetzt nur noch um das Ausmaß des Missbrauchs, da fiel Schäfsmeier „die Klappe runter“. Eine Woche lang habe er nur funktioniert. In drei Tagen habe er vier Kilogramm verloren.

Schäfsmeier trägt Dreitagebart, mit Ruhrpott-Dialekt erklärt er, dass er sich tausend Mal gefragt habe, weshalb er nichts bemerkte. „Der Addi war für die Kinder ein Magnet. Der hat für die Stockbrot-Backen organisiert, der hat mit denen gespielt. Und 99 Prozent der Leute, die ihn hier gekannt haben, erklären das Gleiche.“

Nicht mal die Pflegetochter von Andreas V. sei verhaltensauffällig gewesen. „Die beiden haben sich jedes Mal herzlich umarmt. Das Mädchen freute sich ein Loch in den Bauch.“ Schäfsmeiers eigene Kinder haben mit Andreas V. gespielt. „Da war zum Glück nichts“, er hat das sofort nachgeprüft. Und wenn was gewesen wäre? Da dreht der 54-Jährige das Gesicht zur Seite. „Da möchte ich lieber nicht dran denken.“

„Es wird nie mehr so sein wie vorher“

Draußen, auf dem Platz, ist alles ruhig. „Eichwald“ hat 200 Plätze, ein gepflegtes Areal, ein paar Deutschlandfahnen flattern im Wind. Kaum jemand ist zu sehen. „Die Leute wollen ihre Ruhe. Die haben die Nase voll von den Fragen“, sagt Schäfsmeier. Die meisten sind Dauercamper, seit Jahren treu. Aber er rechnet damit, dass im Sommer weniger neue Kunden kommen als sonst, der Name Lügde schrecke ab. „Es wird nie mehr so sein wie vorher.“

Dieses Gefühl kommt auch in Lügde auf. Hermann Wenneker, der Ortsbürgermeister von Elbrinxen, will nicht mehr über den Fall reden, Vereinsvorsitzende im Ort reagieren erst gar nicht auf eine Anfrage. In einem Café in der Innenstadt sagt eine Frau in blauem Pullover düster, dass „es Leute gibt, die erklären, in Lügde sei jeder unter 21 nicht sicher“. Gerade fand das Frühlingsfest statt. Das Wetter war schlecht, es kamen wenig Leute. „Aber im Fernsehen“, sagt die Frau, „hieß es, die Leute hätten wegen der Vorfälle Lügde gemieden.“

Zwei Meter neben ihr liest ein älterer Mann die „Pyrmonter Nachrichten“. Die Schlagzeile auf Seite eins lautet: „Ein Verdächtiger mehr – vier weitere Opfer bekannt“.

Die Frau im Pullover bedauert grimmig, „dass die Verdächtigen in Deutschland vor Gericht stehen“. In anderen Ländern drohe die Todesstrafe. „Aber letztlich“, sagt die Frau, „richtet sich die Wut der Leute vor allem gegen die Behörden.“

Tjark Bartels vertritt eine dieser Behörden. Der Landrat von Hameln stand ausführlich vor der Presse, er ist politisch verantwortlich fürs Jugendamt. Im Büro, in dem der 49-Jährige die Vorfälle als „Super-Gau“ bezeichnet, hängt das Foto eines Kindes, das den geneigten Kopf auf seine Hand legt und melancholisch in die Kamera schaut. „Kind in der Shewdagonpagode in Yangon; Myanmar“, steht dazu.

Gott bewahre, wenn etwas übersehen worden wäre

Bartels redet ohne Punkt und Komma, als sei er getrieben vom Gedanken, alles klarstellen und aufklären zu müssen. Dass das Mädchen zu Andreas V. ziehen durfte, ist für ihn auch im Rückblick kein Fehler. „Nicht wir haben das Kind zu Andreas V. gegeben“, das betont er immer wieder, „die Mutter hat es gemacht.“ Rechtlich könne das Jugendamt da wenig tun, nur mit Sozialarbeitern begleiten. Und ja, die Wohnverhältnisse „waren problematisch“, man habe ja auch auf eine feste Wohnung gedrängt. Und im Sommer 2018 habe Andreas V. ja auch eine Wohnung erhalten. Allerdings sanierungsbedürftig, noch nicht bezugsfertig.

Aber selbst im Campingwagen habe sich das Kind gut entwickelt. Das habe die Kita bescheinigt, das hätten Sozialarbeiter vor Ort konstatiert, sogar in einer Regelschule habe man das Mädchen anmelden können.

Bei der Aufwertung von Andreas V. zum offiziellen Pflegevater wird Bartels zögerlicher. Gut, darüber könne man streiten. „Aber wir haben gedacht, wenn er schon die Verantwortung übernimmt, dann kann er auch das Geld haben.“ Doch das wäre nie passiert, wenn man den Hinweisen auf pädophile Neigungen konsequent nachgegangen wäre. Für Bartels liegt hier der entscheidende Fehler.

Und warum ist nichts passiert? „Weil man diesem Mann pädophile Neigungen nicht zugetraut hatte. Weder die Mitarbeiter des Jugendamts, noch die Kita oder die Schule.“

Natürlich haben sie im Jugendamt seit Januar noch mal viele Fälle angeschaut. „Teilweise aus Panik“, sagt Bartels, Gott bewahre, wenn noch mal etwas übersehen worden wäre. Es gab keine Auffälligkeiten.

Jedes Jahr kommen 200 Meldungen

Bartels Wortschwall hat vor allem eine Zielrichtung: Er will zeigen, dass seine Behörde gelernt habe. Ein Vorbild für andere Behörden will das Landratsamt Hameln werden, „wir tun etwas, das andere dann auch ausprobieren können, weil es funktioniert.“

Zwei externe Experten werden in Zukunft alle Meldungen über Kindeswohl-Gefährdungen erhalten, die das Jugendamt Hameln erreichen, und dazu die Maßnahmen erfahren, die von den Sachbearbeitern eingeleitet wurden. Jedes Jahr kommen rund 200 dieser Meldungen. „Diese Experten werden prüfen, ob die Maßnahmen ausreichend sind“, sagt Bartels. Hätten diese Experten die Hinweise auf V.s pädophile Neigungen vorliegen gehabt, wären die Verbrechen verhindert worden. Da ist sich Bartels sicher.

Seit Januar läuft auch ein Präventivkonzept: An allen Kitas und Schulen im Landkreis soll es Ansprechpartner für Kinder und Jugendliche geben, die von Missbrauch betroffen sein könnten. Auch über Theaterprojekte sollen sie lernen, dass sie sich geschulten Erwachsenen anvertrauen können. Bei Bartels haben sich seit Januar viele Opfer sexueller Gewalt gemeldet; sie haben ihm geschildert, dass sie jahrelang nicht fähig waren, über ihr Schicksal zu sprechen.

Auf dem Campingplatz „Eichwald“ werden die optischen Erinnerungen an Andreas V. für immer getilgt. Auf seine Parzelle kommt kein neuer Mieter. „ Da“, sagt Frank Schäfsmeier grimmig, „entsteht nur noch eine Wiese.“

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