Missbrauchs-Skandal in Lügde: Ein Symbol des Behördenversagens
Die Bewohner der Kleinstadt fühlen sich allein gelassen. Möglicherweise ist jetzt auch neues Beweismaterial entdeckt worden.
Ein mächtiger Knall aus einer Böllerkanone durchreißt die Stille der Dunkelheit, dann schießen Flammen meterhoch und bilden einen beeindruckenden Kontrast zum Schwarz der Nacht. Strohbüschel, eingeflochten in ein Rad aus Eichenholz, alles 1,70 Meter groß, brennen lichterloh. Das Spektakel läuft auf dem Osterberg ab, weit über dem Tal, wo viele tausend Besucher andächtig zu den Flammen starren. Plötzlich setzt sich das brennende Rad in Bewegung, holpert ins Tal, immer schneller rotiert das Eichenholz, bis es im Tal austrudelt. Dann löst sich das nächste brennende Rad vom Berg, wieder endet es im Tal. Sechs Mal wiederholt sich das Spektakel. Anschließend jagen Raketen in den Himmel und bilden ein Feuerwerk, der Lärm wird untermalt vom Läuten der Kirchenglocken.
Es ist ein uralter Brauch in der Kleinstadt Lügde im äußersten Norden von Nordrhein-Westfalen. Die brennenden Räder symbolisieren das Licht, das die Dunkelheit des Winters vertreibt. Jedes Jahr am Karsamstag rotieren die riesigen Fackeln ins Tal, der Osterrädelauf ist das bekannteste Kulturereignis in Lügde, es zieht jährlich mehrere zehntausend Besucher an. Am Karsamstag brennt es wieder mal am Osterberg. Die Frage diesmal aber lautet: Wie viele Touristen werden zuschauen?
Seit 2012 hat Lügde den amtlichen Namenszusatz: „Stadt der Osterräder“. Seit Januar hat Lügde aber auch noch den nichtamtlichen Namenszusatz: „Stadt der Kinderschänder“. Und das trifft die Bewohner ins Mark. Sie werden in Sippenhaft genommen, sie können nichts für die mutmaßlich tausend Missbrauchsfälle, die Andreas V. als Haupttäter in seinem Holzverschlag auf dem Campingplatz „Eichwald“ in Lügde-Elbrinxen begangen haben soll.
Der 56-jährige Dauercamper soll mit einem Komplizen (33) über Jahre hinweg Kinder missbraucht und dabei gefilmt haben. Die beiden Verdächtigen sowie ein 48-Jähriger aus dem niedersächsischen Stade sitzen in Untersuchungshaft.
„Natürlich hat man Angst, dass das jetzt auf die Stadt zurückschlägt“, sagt eine Mitarbeiterin des Tourismusbüros von Lügde. In einem Café der Stadt sagt eine Frau: „Wir haben Angst, dass sich das Image der Stadt auf die Zahl der Besucher beim Osterräderlauf auswirkt.“ Die Betten in der Kleinstadt sind ausgebucht, das ist an Ostern immer so, aber das bedeutet nicht, dass wieder so viele auswärtige Besucher wie in den vergangenen Jahren kommen.
Lügde ist auch ein Symbol des Behördenversagens. Jugendämter haben Hinweise auf die pädophilen Neigungen von Andreas V. nicht nachhaltig geprüft, die zuständige Kriminalpolizei hat betroffene Kinder nicht psychologisch-fachmännisch befragt, bei einer ersten Durchsuchung der Parzelle von Andreas V. übersahen Polizisten massenhaft Beweismittel, dann verschwanden 155 CDs und DVDs aus der Asservatenkammer der Polizei. Politische Verantwortung will bisher keiner übernehmen.
Abrissunternehmen entdeckt Material, das von der Polizei übersehen wurde
Das ist nur Teil eins der Pannenserie. Teil zwei beginnt, als ein Abrissunternehmen die windschiefe Bretterbude, hinter der sich der Campingwagen von Andreas V. verbarg, demontierte und den Müll abtransportierte. Die Arbeiter stießen auf vier CDs, eine Mini-CD, zwei Disketten und elf Videokassetten. Material, das die Polizei übersehen hatte.
Die Ermittler haben allerdings auch einen Geräteschuppen von Andreas V. übersehen, besser gesagt: nicht beachtet. Das Innenministerium von Nordrhein-Westfalen teilte dazu mit: Dass dieser Geräteschuppen erst jetzt dem Tatverdächtigen zugeordnet werden konnte, liegt an den nur schwer zu klärenden Nutzungsverhältnissen auf dem Campingplatz.
Aber da schüttelt Frank Schäfsmeier, der Besitzer des Campingplatzes, nur den Kopf. Der Schuppen stand ja direkt hinter der Parzelle, die anderen Camper sind meterweit entfernt, es war erkennbar, dass dieser Schuppen nur zu Andreas V. gehören konnte.
Wenigstens hat die Polizei jetzt den Verschlag durchsucht. Sie fand Werkzeuge und Metallschrott. Nichts, was als Beweismittel in Frage gekommen sei, teilte die Polizei mit. Inzwischen ist auch diese Bretterbude in Einzelheiten zerlegt auf einer Müllhalde.
Direkt hinter dem Campingwagen und der Bretterbude des 56-jährigen Langzeitarbeitslosen Andreas V. liegt die Parzelle seiner Schwester. „Ich habe ihr gesagt, sie soll nehmen, was sie braucht, der Rest kommt auf die Müllhalde“, sagt Schäfsmeier, ein 54-Jähriger mit Drei-Tage-Bart und breitem Ruhrpott-Dialekt. Als der Holzverschlag noch stand, schob die Schwester von Andreas V. Anfang April mit starrem Blick mehrfach einen Schubkarren durch die morsche Holztür.
Stadt befürchtet Einbruch der Besucherzahlen
Auf den Videokassetten, die bei den Abrissarbeiten gefunden wurden, habe sich nur Musik und Unterhaltungssendungen befunden, teilt die Polizei mit. Allerdings habe es bei mehreren CDs „Beschädigungen“ gegeben, und eine CD habe man nur „teilweise auslesen“ können. „Nach bisherigem Kenntnisstand handelt es sich bei den Inhalten nicht um relevante Daten, die auf weitere Opfer oder andauernden Missbrauch schließen lassen“, teilte die Polizei auf eine Anfrage des „Spiegel“ mit. „Es könnte sich dabei um Kinderpornographie handeln, die aber nicht im Zusammenhang mit den Ermittlungen der Ermittlungskommission ,Eichwald’ steht.“ Was das nun genau heißt, ist unklar.
Frank Schäfsmeier ist jetzt mehr damit beschäftigt, seinen Betrieb am Laufen zu halten. „Hier ist sehr viel los“, sagt er am Mittwochmorgen. Rund 200 Dauercamper hat er sowieso auf dem Platz, die kommen teilweise seit Jahrzehnten, um die muss er sich keine Sorgen machen. Aber er hat auch noch Platz für rund 100 Kurzzeit-Touristen. Und ob diese Plätze alle belegt werden, ist unklar. Schäfsmeier hält es durchaus für möglich, dass der Name Lügde einige abschreckt. Nutzen aus der medialen Dauerberichterstattung zieht er jedenfalls nicht. „Hier kommen bestimmt nicht Leute, die dadurch den Campingplatz erst entdeckt haben und dann hier Urlaub machen wollen.“ Stattdessen seien ein paar Dauercamper zwischenzeitlich sogar abgereist, weil sie den Rummel nicht mehr ertragen konnten. „Da haben ja Reporter einfach an die Türen geklopft und wollten die Leute befragen“, sagt Schäfsmeier.
Vor allem ärgert ihn, dass der Campingplatz in ein paar Berichten als schmuddelig und verwahrlost dargestellt worden sei. Das ist „Eichwald“ definitiv nicht. Es ist eine Idylle der Ruhe, großzügig angelegt, mit Kinderspielplatz und ruhiger Atmosphäre, vielen Campern aus den Niederlanden und einem gepflegten Erscheinungsbild.
In Lügde haben sie auch viel dafür getan, dass der Ort attraktiver gemacht wird. „In den vergangenen Jahren sind Wanderwege und Infotafeln angebracht worden, die Stadt hat viel in die Infrastruktur investiert“, sagt die Mitarbeiterin des Tourismusbüros. „Mit Erfolg, wir hatten in den vergangenen Jahren zunehmende Besucherzahlen. Die Zuwächse waren nicht sehr hoch, aber doch bemerkbar. Und ausgerechnet jetzt muss so ein Fall bekannt werden.“
Wie viele Besucher zum Osterräder-Lauf kommen werden, das ist für die Leute in Lügde jetzt die große Frage.
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