Psychische Folgen von Corona: Angst und Depression quälten Wuhans Bewohner
Chinesische Forscher ermitteln die psychischen Folgen der Ausgangssperre in Hubei. Der Corona-Ausbruch verschaffte der Psychotherapie unverhofft Aufmerksamkeit.
Als Li Wentian Ende Januar, am Tag der Abriegelung der Provinz Hubei, ein Sorgentelefon für die Stadt Wuhan einrichtete, hatte er mit dem folgenden Ansturm nicht gerechnet. Schon am ersten Tag gingen mehr als 1000 Anrufe ein. Die Hotline drohte zusammenzubrechen, so viele besorgte Menschen riefen angesichts der SARS-CoV-2-Pandemie an. Kurz darauf wurde eine Online-Plattform eingerichtet, auf die bisher mehr als 24.000 Nutzer zugegriffen haben. Das sei deshalb erstaunlich, weil psychische Probleme in China als Schwäche angesehen und oft totgeschwiegen würden, schreibt sein deutscher Kollege Jonas Tesarz von der Universität Heidelberg.
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Lin Wentian und Jonas Tesarz sind Teil des Deutsch-Chinesischen Alumni-Netzwerks für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie (DCAPP). Das Netzwerk unterstützt mit Unterstützung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung den Aufbau eines modernen Gesundheitssystems für psychische Gesundheit in China. Psychisch Kranke sind in China notorisch unterversorgt, ein Netzwerk an ambulanten und stationären psychotherapeutischen Versorgungsangeboten befindet sich gerade erst im Aufbau.
92 Prozent der behandlungsbedürftigen Patienten, insgesamt 173 Millionen Menschen, seien unbehandelt geblieben, schreibt Tesarz. „In den letzten Jahren ist das Bewusstsein über die Bedeutung psychischer und psychosomatischer Störungen in China stark gewachsen.“
Das macht sich vor allem in der Covid-19-Krise bemerkbar. Li Wentian lancierte eine Online-Umfrage unter 5000 Bewohnern der Provinz Hubei. Das Ergebnis: Viele litten unter gesundheitsbezogenen Ängsten, Schlafstörungen und psychischen Begleitreaktionen. Der Umfrage zufolge machten sich 89 Prozent der Befragten Sorgen, dass sich ein Familienmitglied mit dem Virus infiziert hat. 28 Prozent brauchten zwei Stunden oder länger, um einzuschlafen; zehn Prozent hatten Albträume und ebenso viele Panikanzeichen.
Ob die lange Kontaktsperre auch hierzulande Ängste oder gar langfristige psychische Störungen in der Bevölkerung befördert, wird derzeit noch von Wissenschaftlern der Universität des Saarlandes untersucht. Laut Tesarz ist das stark davon abhängig, wie die Menschen die Krise wahrnehmen: Es sei bekannt, dass Naturkatastrophen Menschen zusammenzubringen und Solidarität fördern könnten, Kriege und menschengemachte Traumata hingegen Misstrauen begünstigten und Gewalt und Grenzverletzungen förderten. In der Coronakrise handele es sich jedoch um eine Vermischung beider Krisenmodelle, schreibt Tesarz.
Ältere Forschung weist darauf hin, dass Quarantäne, wie etwa während Schweinegrippe oder Ebola, akut und langfristig Stress und psychische Störungen verursachen kann. Eine Metastudie des Fachmagazins „Lancet“ wertete 24 Studien zu den psychischen Folgen von Quarantäne aus. In fast allen Fällen wurden kurzfristiger Stress und Angst nachgewiesen. In den Langzeitstudien zeigte sich eine erhöhte Anfälligkeit für Posttraumatische Belastungsstörungen, Depressionen und Alkoholabhängigkeit.
Vor allem Angestellte im Gesundheitssektor, die unter Quarantäne gestellt waren, zeigten auch nach der Rückkehr in den Alltag vermeidendes Verhalten und brauchten Monate, um zur Normalität zurückzukehren.
Entgegen verschiedener Medienberichte konnten die chinesischen Forscher keinen Anstieg häuslicher Gewalt in Wuhan wahrnehmen. „Jedoch ist häusliche Gewalt in China generell ein Thema, aber valide Hinweise für eine Zunahme wegen der Quarantäne gibt es derzeit noch nicht“, schreibt Tesarz. Die Kollegen nähmen aber wahr, dass Familien durch das anhaltende Zusammenleben auf engem Raum stark belastet seien.
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Derzeit sieht es so aus, als ob die Krise eine Chance für die psychologische Versorgung in China sein könnte. Auch in den neu errichteten Krankenhäusern arbeiten psychologisch ausgebildete Ärzte mit. Und über die Online- Plattform und eine App können Einwohner der Provinz auf allgemeines Wissen für psychologische Gesundheit sowie standardisierte Anleitungen zur Selbstdiagnostik und Entspannungstraining-Module zugreifen. Bei Bedarf können die Einwohner Wuhans auch kostenlose Gespräche in Anspruch nehmen.
Zu Beginn der Krise hätten vor allem Unsicherheit und Desinformation für Angst und psychische Belastung gesorgt: „Ängste vor einer möglichen Infektion mit dem Coronavirus sowie die Zukunftsängste und die Ungewissheit über die weitere Entwicklung der Krise wurden weiter gefördert durch unzureichende Informationen und widersprüchliche Expertenaussagen“, beschreibt Tesarz den Mechanismus.