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Wer sich in Wuhan bewegen will, muss seine Gesundheit per Handy-App und einer Körpertemperatur von höchstens 37,2 Grad Celsius beweisen.
© Hector Retamal/AFP

Wuhan nach dem Corona-Lockdown: Dort wo die Pandemie begann, kehrt das Leben zurück

Zehn Wochen lang waren die elf Millionen Bewohner von Wuhan unter Hausarrest. Jetzt erwacht die Stadt, in der alles losging - sehr, sehr langsam.

Von Katja Demirci

Ihre Temperatur liegt bei 36,9 Grad Celsius, sagt Frau Luo, seit Wochen, konstant. 36,9 Grad sind gut. Sie erlauben es ihr, die Wohnung zu verlassen. 37,2 Grad Celsius ist die Grenze, bis zu der jemand in Wuhan als unverdächtig gilt.

Die eigene Körpertemperatur kennen die Bewohner der zentralchinesischen Millionenstadt mittlerweile so genau wie Menschen anderswo nur ihre Schuhgröße.

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Frau Luo, 34 Jahre alt und im fünften Monat schwanger, hat wie jeder in Wuhan eine App auf dem Smartphone installiert, die den persönlichen Gesundheitszustand dokumentiert. Kopfschmerzen, Fieber, alles wird eingetragen.

Wer 14 Tage lang gesund ist, bekommt einen grünen QR-Code. Grün ist gut. Grün heißt, dass die Person einen Supermarkt oder eine Shoppingmall betreten darf, beides seit Anfang des Monats wieder geöffnet.

Der Code wird am Eingang gescannt, Fieber gemessen wird trotzdem. Gelb erlaubt das schon nicht mehr, die Person sollte zu Hause bleiben. Rot, klar, heißt: krank. Frau Luos Status ist grün. Sie tut einiges dafür, dass das auch so bleibt.

Gespenstische Bewegungslosigkeit

Als sie am Sonntag vor einer Woche morgens den Fernseher eingeschaltet hatte, offenbarten ihr die Nachrichten, beständiges Hintergrundrauschen ihres Lebens seit nunmehr drei Monaten, plötzlich eine erfreuliche Neuigkeit. Es hieß, die Stadt sei fortan ein Gebiet mit geringem Risiko. Mehr als 14 Tage lang hatte es keine Neuinfektion mit dem Coronavirus gegeben.

Wuhan erwacht. Und Frau Luo sagt: „Das Gute ist, dass wir das Schlimmste hinter uns haben.

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Zehn Wochen lang war die Hauptstadt der Provinz Hubei, einer der wichtigsten Verkehrsknotenpunkte des großen Landes, wie stillgelegt, ihre elf Millionen Bewohner unter einer Art Hausarrest, das Ein- und Ausreisen unmöglich. Eine gespenstische Bewegungslosigkeit hatte sich über die Straßen und Plätze gelegt, trügerisch war sie obendrein. Denn es passierte ja eine Menge.

Ist Wuhans Gegenwart vielleicht Europas Zukunft?

Menschen starben währed verzweifelter Versuche, sie zu retten; 20 000 Ärzte, Pfleger, Krankenschwestern aus ganz China kamen ihren Kollegen in Wuhan zu Hilfe, in weniger als zwei Wochen wurde ein Krankenhaus gebaut. Von den bis zum 17. April offiziell gezählten 4632 Coronatoten in China lebten 3869 in Wuhan. Binnen Kürze erlangte die Stadt internationale Berühmtheit. Die Sars-CoV-2-Viren, so heißt es, verbreiteten sich von einem lokalen Fischmarkt aus in die Welt.

Wenn Frau Luo in diesen Tagen hört, was anderswo passiert, in Europa, in den USA, kommt ihr das vor wie eine böse Erinnerung. Die Gegenwart vor Ort in Madrid, London, New York, die überlasteten Pflegekräfte in den Kliniken, die Rufe um Hilfe, die Bilder der auf dem Bauch liegenden, beatmeten Schwerkranken – all das ist Wuhans Vergangenheit.

Andersherum gesehen ist Wuhans Gegenwart vielleicht Europas Zukunft. Ein Telefonat mit Frau Luo, geführt über die App WeChat, gibt einen Einblick, wie eine Rückkehr zur sogenannten Normalität auch hierzulande erfolgen könnte. Es ernüchtert. Wuhan erwacht, ja. Aber sehr, sehr langsam.

Endlich kommt sie wieder aus dem Haus

Frau Luo, die nur mit ihrem Nachnamen in der Zeitung genannt werden möchte, fährt wieder täglich ins Büro. Als die IT-Firma, für die sie tätig ist, am 30. März wieder öffnete, musste sie sich darum bewerben, wieder arbeiten gehen zu dürfen. Nur 30 Prozent der 650 Personen umfassenden Belegschaft werde es gestattet, sagt sie. Bevorzugt sind jene, die ein eigenes Auto haben. Zwar fahren die öffentlichen Verkehrsmittel wieder, aber kann man darauf vertrauen, dass sich dort niemand ansteckt?

Die Grenze dessen, was paranoid wirkt, hat sich erdumspannend verschoben. Die Menschen in Wuhan waren die ersten, die ihr Leben komplett umstellen mussten.

Frau Luos Mann arbeitet in der gleichen Firma. Die Sache mit dem Auto ist also für beide kein Problem. Vor allem aber kommt sie so endlich mal wieder aus dem Haus.

Auf die Frage, wie lange das nicht ging, muss sie überlegen. „Etwa 70 Tage“, sagt sie dann. Mehr als zwei Monate. Zu Hause bleiben in Wuhan, das war in dieser Zeit ein anderes Zuhausebleiben, als wir es in Deutschland derzeit erleben müssen. Nicht mal eben raus zum Joggen, Einkaufen – oder gar zu zweit spazieren. Zu Hause bleiben in Wuhan bedeutete: gar nicht vor die Tür.

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Die Freiheit ist relativ

Auch jetzt ist die Freiheit relativ. „Wer nicht arbeitet“, sagt Frau Luo, „ist immer noch angehalten, zu Hause zu bleiben.“ Nur eine Person pro Familie darf einkaufen gehen. Die Schulen sind weiterhin geschlossen.

Endlich mal wieder – vielleicht sogar mit Freunden? – frühstücken gehen, das wäre schön, sagt Frau Luo. Wuhan sei berühmt für sein Frühstück, bei dem heiße trockene Nudeln gegessen werden, die lokale Spezialität. „Schwer selbst zu kochen“, sagt Frau Luo. Der simpel klingende Name täusche.

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Der Apartment-Komplex, in dem Frau Luo mit ihrem Mann lebt, sei sehr groß, erzählt sie. 70 Gebäude zählten dazu. Es gebe eine Apotheke vor Ort und seit kurzem sei es auch wieder gestattet, innerhalb dieser Gemeinschaft Sport zu treiben. Betreut werden die Bewohner von einer Hausverwaltung, in diesen Zeiten aufgestockt mit Mitarbeitern der Stadtverwaltung. Sie kommen allmorgendlich, um die Temperatur bei allen zu messen, kontrollieren auf die gleich Art jene, die den Komplex verlassen oder betreten. Damit das geht, sind in Wuhan derartige Wohneinheiten temporär umzäunt.

Im virtuellen Raum geht die Kontrolle noch weiter. Gegen die Apps, die der chinesischen Regierung erlauben, den Gesundheitszustand und auch die Bewegung ihrer Bürger zu überwachen, rege sich Widerstand in den sozialen Medien, schrieb der britische „Guardian“ Anfang April. Denn die Farbe der persönlichen QR-Codes kann sich auch je nach Bewegungsprofil verändern. Hielt sich jemand in der Nähe einer infizierten Person auf, kann der Status von Grün zu Gelb wechseln. Vorbei mit der Bewegungsfreiheit.

Niemand, den sie kennt, war erkrankt

Nach 70 Tagen Isolation ist das durchaus ein Anreiz, sich vorsichtig zu verhalten. Frau Luo macht sich viele Gedanken um ihr ungeborenes Kind. Sie sorgte sich zwischenzeitlich um einen Kollegen, dessen Husten sich bald als harmlos herausstellte. Niemand, den sie kennt, ist in den vergangenen Monaten am Virus erkrankt. Sie hofft, dass das so bleibt.

„Wenn wir draußen unterwegs sind, tragen wir Masken und halten Abstand“, sagt Frau Luo. So haben es die Behörden angeordnet. Mittlerweile, nach einem Engpass Ende Januar, erzählt sie, gebe es auch wieder problemlos Masken zu kaufen. Für ein N95-Modell, das sowohl Träger als auch die Menschen in seiner Umgebung schützen soll, zahle man in der lokalen Apotheke umgerechnet etwa 1,60 Euro.

Wenn sie nun die Nachrichten über die Situation in anderen Teilen der Welt sehe, sei sie besorgt, sagt Frau Luo. Die Mentalitäten der Chinesen und etwa der Europäer seien einfach sehr unterschiedlich. „Wenn wir hier im Fernsehen Bilder sehen, die zeigen, wie hart Ärzte und Pfleger arbeiten, denken die meisten in Wuhan: Natürlich bleiben wir zu Hause!“ Dabei hatten auch die Bewohner von Wuhan die Situation anfangs eher entspannt betrachtet.

„Die meisten nahmen das nicht ernst“

Als sie am 19. Januar in der Stadt ankam, sei die Bevölkerung nicht sehr besorgt gewesen, schreibt Lydia Chen in einem Online-Tagebuch über die Zeit der Quarantäne. Chen, die als Bankerin in New York arbeitet, stammt aus Wuhan und besuchte anlässlich des chinesischen Neujahrsfestes dort ihre Eltern. Der „Washington Post“ sagte sie Anfang April, sie habe keine Pläne, schnell wieder in die USA zurückzukehren. Sie könne sich nicht vorstellen, noch einmal einen derartigen Lockdown zu durchleben. „Wir wussten nicht alles über das Virus“, schreibt Chen, „wollten aber gern denken (und uns so verhalten), als gehe es uns gut. Die meisten nahmen das nicht ernst.“

Am 20. Januar habe sie den Friseur und eine Kosmetikerin besucht, schreibt Chen. Es sei der Tag gewesen, an dem Chinas berühmtester Epidemiologe bekannt gegeben habe, dass das Virus sich von Mensch zu Mensch verbreite; dass die Regierung etwas unternehmen solle.

In den zwei Tagen danach, während mehr und mehr Informationen über das Virus bekannt wurden, feierte Lydia Chen gemeinsam mit Freunden und Familie das neue Jahr. „Doch wir verstanden die neue Bedrohung noch nicht, und auch nicht, dass unsere Leben sich für immer ändern würden.“

Seit dem 8. April dürfen Menschen Wuhan wieder verlassen

Am 23. Januar riegelte die Regierung die Stadt ab. Und mit ihr die ganze Provinz Hubei. 60 Millionen Menschen sollten fortan zu Hause bleiben oder dort, wo sie sich zu dem Zeitpunkt befanden. Für manche war das alles andere als zu Hause, denn weil der Erlass rund um die Zeit der Neujahrsfeierlichkeiten kam, waren viele verreist. Der Ort, aus dem Frau Luo und ihr Mann stammen, liege rund 500 Kilometer von Wuhan entfernt, sagt sie. Sie und ihr Mann entschieden sich im Januar dagegen, nach Hause zu ihren Eltern zu fahren. „Das war hart“, sagt sie.

Es wären etwa zweieinhalb Stunden Fahrt mit dem Zug, sagt Frau Luo. Seit dem 8. April dürfen Menschen Wuhan wieder verlassen, hat auch der Flughafen wieder geöffnet. Doch sie sei noch immer zu ängstlich, den Weg auf sich zu nehmen. Selbst jetzt, wo sie es mit ihrem grünen QR-Code ja dürfte. Kontakt zu Eltern und Freunden halte sie über WeChat.

Entspannung am Jangtse - in Wuhan zu normalen Zeiten äußerst beliebt.
Entspannung am Jangtse - in Wuhan zu normalen Zeiten äußerst beliebt.
© Ng Han Guan/AP/dpa

Auch sie hatte bereits Mitte Januar von dem neuartigen Virus gehört und im Internet gelesen. „Doch ich hatte nicht wirklich Angst“, erinnert sie sich. „Es gab ja keinerlei offizielle Informationen.“ Als die dann folgten, Schlag auf Schlag, schaffte sie es schnell noch in den Supermarkt, bevor sie ihre Wohnung nicht mehr verlassen durfte. Das einzig Gute an dem Zeitpunkt der Quarantäne sei gewesen, dass sie sehr viel Essen zu Hause hatten, sagt sie. Es war vorbereitet für die Neujahrsfeierlichkeiten.

Besorgungen? Machte die Hausverwaltung

„Es fühlte sich nicht gut an, zu Hause zu bleiben“, sagt sie. Die Zeit der Quarantäne fiel für die Schwangere zusammen mit morgendlicher Übelkeit und Essensgelüsten, die sie, egal wie groß der Vorrat zu Hause auch war, nicht befriedigen konnte. „Ich wollte Zitronen“, sagt sie, „sehr saure Sachen. Aber ich konnte sie nicht kaufen.“ Vieles sei plötzlich nicht mehr zu haben gewesen, erinnert sie sich.

Erst Ende Februar sei die Auswahl an frischem Gemüse wieder größer geworden. Zu äußerst erschwinglichen Preisen, weil: unterstützt von der lokalen Regierung. Die habe auch dafür gesorgt, dass es kostenlos Fisch und Schweinefleisch gegeben habe.

Für die Bewohner ihres Apartment-Komplexes erledigten die Mitarbeiter der Hausverwaltung die Besorgungen. „Man konnte sie anrufen und ihnen eine Einkaufsliste mitgeben“, sagt Frau Luo. Sie organisierten auch den Transport der Schwangeren ins Krankenhaus – für regulär anstehende Untersuchungen. Seit dem 25. Januar waren private Autos auf den Straßen der Stadt nicht mehr gestattet.

Das Ehepaar vertrieb sich die Zeit daheim – so wie offenbar auch viele andere Chinesen – mit Kochen. Lydia Chen schreibt in ihrem Lockdown-Tagebuch, wie sie mit ihrer Familie scherzte, als sie im Internet Videos aus italienischen Städten sah, wo sich Bewohner zum gemeinsamen Singen auf ihren Balkonen verabredet hatten. „Wenn man einen Italiener einsperrt, wird er Sänger; wenn man einen Chinesen einsperrt, wird er Koch.“

Spaziergang in der Wohnung

Frau Luo erzählt, dass sie viele Filme schauten, Fernsehen natürlich auch, und in der Wohnung herumspazierten. „Vom Schlafzimmer zur Küche und zurück.“ Sie lacht.

Welche Erleichterung, nun wieder an die Luft zu dürfen. Nun, da es Frühling ist in Wuhan, für Frau Luo die komfortabelste Jahreszeit. Im Sommer werde es sehr heiß, sagt sie, im Winter dagegen wirklich kalt. Es regnet oft.

„Wuhan ist eine sehr große Stadt“, sagt sie und es ist herauszuhören, dass ihr das nicht unbedingt sympathisch ist. Doch das Leben dort sei praktisch, sagt sie. „Wuhan liegt in Chinas Mitte, von hier aus kommt man überall gut hin.“ Und offenbar kann man dort sehr gut auswärts essen gehen – normalerweise. Etwa 30 Prozent der Restaurants seien wieder geöffnet, sagt Frau Luo, sie bieten Essen zum Mitnehmen an.

Am Jangtse darf wieder spaziert werden – mit Abstand.
Am Jangtse darf wieder spaziert werden – mit Abstand.
© Aly Song/Reuters

Wer in Wuhan am Wochenende Entspannung sucht, geht am Ufer des Jangtse spazieren, der quer durch die ganze Stadt fließt. Auch Frau Luo und ihr Mann haben das zu normalen Zeiten oft gemacht. Fährfahrten seien günstig, erzählt sie, ein Ticket kostet umgerechnet etwa 30 Cent. Ein Reporter der Agentur Associated Press fuhr mit, als die Fähren am 8. April wieder in Betrieb gingen. An den Ufern des Flusses beobachtete er Paare, die Schutzmasken tragend Hand in Hand gingen, Angler, Jogger und Menschen beim Picknick.

Gebremste Freude

Doch jede Erzählung, jeder zitierte Bewohner Wuhans in internationalen Medien, wirkt bei aller Freude gebremst. Zu allgegenwärtig sind die ständigen Registrierungen – beim Einsteigen in den Bus und in die U-Bahnen, beim Betreten eines Einkaufszentrums, beim Rausgehen und Nachhausekommen – und das permanente Fiebermessen. Die Angst vor einem Wiederanstieg der Infektionszahlen ist groß.

Ist es möglich, in dem, was geschieht, etwas Positives zu finden? Was nehmen wir mit aus der Coronakrise? Fragen, die sich Menschen vielerorts stellen.

Frau Luo hat sie für sich teilweise beantwortet: „Jeder achtet jetzt mehr auf Hygiene“, sagt sie. „Die Menschen waschen sich regelmäßig die Hände.“ Sie selbst habe sich während der langen Quarantäne angewöhnt, früh schlafen zu gehen und früh aufzustehen. Sie lacht und sagt, das wolle sie beibehalten.

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