Über den Wolken: „Obst schmeckt in der Luft besser als am Boden“
Mark Vanhoenacker kennt die Faszination des Fliegens vom Cockpit aus. Warum er einen Schlafanzug an Bord trägt und den Blick auf die Namibwüste liebt.
Mark Vanhoenacker, 41, ist Pilot für Langstrecken bei der British Airways. Er studierte Geschichte und arbeitete bei einer Wirtschaftsberatung, bevor er das Fliegen erlernte. Von seiner Arbeit hoch über den Wolken erzählt der Amerikaner im Buch „Himmelhoch“. Er lebt in London
Herr Vanhoenacker, Sie fliegen regelmäßig mit dem Jumbojet um die Welt. Worauf freuen Sie sich mehr: den Start oder die Landung?
Wenn ich die Wahl hätte, nur noch eins von beiden machen zu können, würde ich mich für die Landung entscheiden. Da ist dieser Moment, wenn man unter der Radarkontrolle fliegt, möglicherweise steckt das Flugzeug noch in einer Wolke, aber plötzlich bricht sie auf, die Landebahn erstreckt sich vor einem, man hat das Gefühl, aus dem All zurückzukehren. Besonders abends ist das ein wunderschöner Anblick. All die Lichter, die für unsere Maschine angestellt wurden! Wenn ich schließlich mit den Rädern den Boden berühre, ist das sehr aufregend.
Genießen Sie als Pilot einer riesigen Boeing 747 die höchste Autorität unter Kollegen?
Ich kenne Kapitäne, die glücklich damit sind, Kurzstrecke mit einem Airbus A-320 zu fliegen. Sie nennen sich Flach-Erdlinge. Weil sie nicht über die Erdkrümmung hinaus fliegen möchten. Andere wie ich träumen davon, die längstmöglichen Strecken zurückzulegen. Wenn ich einen Globus drehe und auf irgendeine Stadt tippe, kann ich mir vorstellen, dass ich einmal dort hinfliege.
Ein Blick durch das Zugfenster langweilt Sie?
Für mich sind die unterschiedlichen Maßstäbe aufregend. Wir heben ab, statt einzelner Bäume sehen wir nun Wälder, eine Stadt, eine Bergregion und die Wüste dahinter, wo kein Niederschlag mehr fällt, weil er sich an den Bergen abregnet. Bei der Landung erleben wir dasselbe umgekehrt. Mir gefällt dieser Prozess der Abstraktion.
Über welche Region fliegen Sie gern?
Eine meiner Lieblingsrouten ist der Nachmittagsflug von London nach Kapstadt. Über Barcelona oder Algier wird es Nacht. Es folgen lange dunkle Stunden über Westafrika. Wenn die Sonne aufgeht, sind wir über Namibias Küste, sehen die roten Dünen der Namibwüste – und es schaut irreal aus wie auf Fotos vom Mars.
Ein Großteil aller Flüge führt über Wasser.
Tatsächlich haben See- und Luftfahrt viel gemeinsam. Einige Wörter haben dieselben Wurzeln: der Kapitän, das Flugdeck, an Bord sein. Man fliegt über Ozeane, Gletscher und Wolken. Vor ein paar Wochen kam ich aus Lagos zurück, als wir in London landeten, gerieten wir in einer Höhe von 5000 Fuß, also eineinhalb Kilometer, in einen Schneesturm, um uns herum sah es aus wie in den „Star Wars“-Filmen, wenn die Raumschiffe mit hoher Geschwindigkeit fliegen, man links und rechts keine Konturen mehr sieht, nur noch Lichtpunkte. Ab 2000 Fuß wurde aus dem Schnee schließlich Regen, typisches Londoner Wetter. Das sind alles Erfahrungen mit dem Element Wasser.
Als Sie gestern in Berlin landeten, waren Sie normaler Passagier und haben am Fenster gesessen?
Ich genieße das: aus dem Fenster zu gucken, dabei BBC-Podcasts über Philosophie oder Musik zu hören. Gestern zum Beispiel die Band Majical Cloudz. Es war das erste Mal seit acht Jahren, dass ich wieder in Tegel gelandet bin. Normalerweise fliege ich auf dem Weg nach Peking nur darüber hinweg und bemerke gar nicht, dass viel mehr Windräder als früher um Berlin herum stehen.
Wenn Sie aus Heathrow in Tegel landen, lachen Sie da wegen der Größenunterschiede?
Tegel wird für mich immer einen Ehrenplatz haben, weil ich 2003 hier in meiner ersten Woche bei British Airways gelandet bin. Soweit ich weiß, gibt es doch einen anderen Flughafen, oder?
Schönefeld wird seit Jahren ausgebaut. Viele Menschen nervt der Flughafen. Sie schwärmen von Flugplätzen als „emotionalen Orten“. Ernsthaft?
Schauen Sie sich die Abflugtafel in Heathrow an. Abu Dhabi, 8 Uhr, Hongkong 8.05 Uhr, Buenos Aires 8.15 Uhr. Hätten Sie jemandem diese Tafel vor 100 Jahren gezeigt, hätte er sie nicht verstanden. Was soll das sein – eine Speisekarte? Das ist eine revolutionär andere Sicht auf die Welt. Und natürlich ist dieser Ort emotional, weil Menschen an Flughäfen Abschied voneinander nehmen oder sich wieder begrüßen. Familien liegen sich in den Armen, es fließen Tränen.
"Ich sehe zwei Stunden lang Nordlichter"
Bevor man das Martyrium erlebt: peinliches Abtasten, Computer auspacken, Schuhe ausziehen ...
... und genau dem will ich mit dem Buch etwas entgegensetzen. Wer Fliegen nicht mag, soll sich das wie Rasenmähen vorstellen. Obwohl Sie die Tätigkeit hassen, denken Sie lieber an die schönen Seiten, wie toll das Grün danach aussieht, anstatt sich auf die negativen Aspekte zu konzentrieren.
Fliegen war Ihre erste Liebe, schreiben Sie. Wie hat sich die Beziehung über die Jahre verändert?
Die größte Veränderung kam sicherlich, als ich von der Kurz- auf die Langstrecke wechselte und bis zu 14 Stunden in einem Flugzeug verbrachte. Ich habe stärkere Eindrücke und Erlebnisse von den Zielorten, verliere allerdings auch manche Begeisterung. Wenn ich im Winter von Seattle nach London fliege, passiert es, dass ich zwei Stunden lang Nordlichter beobachte. Nach den ersten zehn Minuten legt sich inzwischen die Euphorie.
Gehen wir mal einen Flug mit Ihnen durch. Wie lange vorher dürfen Sie keinen Alkohol trinken?
24 Stunden.
Kontrolliert jemand Ihr Blut?
Ich musste mich noch nie einem Test unterziehen.
Am Flughafen treffen Sie 90 Minuten vor Abflug ein.
In Heathrow, weil wir dort unser großes Crew Report Center haben, wo alle eingeteilt werden. Es sieht mit den ganzen Computern wie die Weltraumkontrollstation in Houston aus. Ich ziehe meine Karte durch das Lesegerät, und auf dem Bildschirm steht zum Beispiel: Sie fliegen nach Singapur, bitte begeben Sie sich in Raum sieben. Dort treffe ich die anderen Piloten, erst einmal haben wir ein Briefing über technische Besonderheiten des Fluges: wie viel Benzin wir tanken, wie das Wetter sein wird, wo das Flugzeug steht. Danach reden wir mit den Flugbegleitern. Darüber, dass nach drei Stunden Turbulenzen auftreten könnten, dass wir die königliche Familie eines Landes an Bord haben oder eine Gruppe Blinder.
Nehmen wir an, die Beckhams sitzen in der Ersten Klasse, die Kinder wollen unbedingt ins Cockpit, während Sie fliegen. Dürfen sie?
Ganz bestimmt nicht. Wir begrüßen Kinder aller Altersgruppen nach der Landung im Cockpit. Manchmal vor dem Abflug, falls wir Zeit haben.
Wann atmen Sie zuletzt frische Luft vor dem Start?
Eine halbe Stunde vorher, wenn ich um die Maschine herumgehe und sie inspiziere.
Ist das Vorschrift?
Wir haben eine Zweiteilung an Bord, es gibt einen „flying pilot“ und einen „monitoring pilot“. Der erste fliegt, der zweite muss den Papierkram erledigen, mit den Flugbegleitern und der Flugkontrolle reden. Das ist wie bei einem Roadtrip durch die USA, einer fährt die ganze Zeit das Auto, der andere kümmert sich um die richtige Musik im Radio, schaut auf den Karten nach, welche Abzweigung wir nehmen, und öffnet die Tüte mit den Kartoffelchips, wenn der Fahrer Hunger hat. Für den Piloten, der fliegt, ist es Vorschrift, einmal um die Maschine herumzugehen.
Was tun Sie als Erstes, wenn Sie im Cockpit sind?
Meine Mütze absetzen.
Sie haben nicht viel Platz im Sessel. Stellen Sie sich vor, Ihr Fuß juckt.
Wenn ich mich kratzen will, sage ich zum Flugkapitän: Captain, you have control. Bei allen Tätigkeiten, wo ich den Stuhl zurückschieben muss.
Und dann gibt es plötzlich Turbulenzen.
Natürlich wollen wir einen ruhigen Flug, aber wir können wenig dafür tun. Sagen wir, Sie fliegen nach Phoenix in Arizona. Tagsüber erhitzt sich die Luft auf über 35 Grad, diese Luft steigt auf und erzeugt Turbulenzen. Deshalb kann es während einer Landung in den letzten Minuten ordentlich ruckeln. Nach Einbruch der Dunkelheit ist das anders, weil die Luft sich abgekühlt hat.
Bei großen Linien fliegen Mitglieder derselben Crew nur alle zwei Jahre mal zusammen. Können Sie da Vertrauen zueinander aufbauen?
Unser Training basiert zu einem großen Teil auf Interaktionen zwischen Piloten und Kabinenbesatzung. Alle sechs Monate müssen wir in einem Flugsimulator trainieren, was in brenzligen Situationen im Cockpit zu tun ist, wie wir mit der Crew in solchen Fällen zusammenarbeiten.
Bei einer Notlandung?
Die Crew muss die Passagiere schneller vorbereiten, wir müssen rasch landen. Dabei entsteht eine Kameraderie wie sonst höchstens im Militär.
Was Sie mit der Armee gemeinsam haben: Im Cockpit sitzen kaum Frauen.
Es gibt eine historische Kluft, die sich hoffentlich bald schließt. In meinem Trainingskurs vor 15 Jahren waren von 18 Piloten nur vier Frauen. Ich erhalte manchmal Post von Teenagern, die meinen Beruf ergreifen wollen. Davon ist nun die Hälfte weiblich. Das sehe ich als gutes Zeichen.
"Wir üben den Maschinenausfall beim Start"
In Deutschland singt Reinhard Mey: „Über den Wolken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein.“ Ist eigentlich Quatsch bei den ganzen Regeln heutzutage.
Es muss extrem reguliert sein, gerade wegen der inhärenten Freiheit – weil das Flugzeug sich vom Boden gelöst hat. Dagegen steht es am Flughafen ganz ruhig, nur drum herum bewegt sich alles: die Putzkräfte, die Techniker, die Caterer.
Gutes Stichwort. Bekommen Sie das einfache Essen aus der Economy?
Nein, sondern das aus der Business Class. Wenn ich London verlasse, nehme ich mir oft noch eine Orange mit ins Cockpit. Oben schmeckt sie viel besser als am Boden. Vielleicht weil das Obst frisch und die Luft im Cockpit trocken ist. Es gibt Untersuchungen, dass herzhaftes Umami in Flugzeugen besser schmeckt, deshalb versucht man, Gerichte mit solchem Geschmack zu servieren. Parmesankäse zum Beispiel.
Wann schlafen Sie auf einem Langstreckenflug?
Auf der Strecke nach Singapur sind wir vier Piloten, weil der Flug länger als zwölf Stunden dauert. Der Kapitän und ich sitzen vorne, die beiden anderen hinter uns. Nach einer halben Stunde in der Luft sagen wir: Danke, schlaft gut. Dann gehen sie in eine Koje für uns Piloten. Nach sechs Stunden wechseln wir uns ab. Es gilt die Faustregel: Je länger ein Flug dauert, desto mehr Schlaf kriege ich.
Sie ziehen sich sogar extra einen Schlafanzug an.
Ja. Wenn der Flug nachmittags startet und ich als Erster schlafen muss, gehe ich am Morgen vielleicht zum Sport oder esse ein mächtiges Sandwich vorher. Das hilft. Ich schlafe in den Kojen tiefer als zu Hause. Weil es dort kein Licht gibt, es ist ein komplett abgeschlossener Raum.
Als läge man in einem Sarg.
Für mich fühlt es sich eher wie in einem Schiff an, als wäre man unter Wasser.
Früher galt Ihr Beruf als Traumjob. Lufthansa will Piloten bei der Billigtochter Eurowings anstellen, es gibt heftige Streiks. Ihre Arbeit hat an Reiz verloren.
Mir erzählen so viele Menschen, dass sie gern Pilot wären. British Airways hat vor ein paar Jahren sein Kadettenausbildungsprogramm wieder gestartet, und ich glaube, es bewarben sich 100 Menschen auf einen Platz.
Bei Low-Cost-Linien bekämen Sie weniger Gehalt.
Ich kenne niemanden, der für Ryanair arbeitet. Aber unter Piloten gibt es grundsätzlich eine Art Kameradschaft. Wenn wir uns sehen, fragen wir einander: Wohin fliegst du? Mit welcher Maschine?
Auch: Wie gehst du mit Bruchlandungen um?
Wir verbringen so viel Zeit im Simulator, da passieren einem Dinge, die einem im realen Berufsleben höchstwahrscheinlich nie zustoßen werden.
Zum Beispiel?
Wir üben für den Fall eines Maschinenausfalls beim Start. Das passiert extrem selten, trotzdem müssen wir alle sechs Monate beweisen, dass wir eine solche Situation meistern könnten.
Waren Sie je in einer kritischen Situation?
Nur im Simulator.
Wie reagieren Piloten auf Abstürze? Bekommen sie danach psychologische Betreuung?
Darüber darf ich nicht reden. Da müssen Sie sich direkt an die Fluggesellschaft wenden.
Haben sich Ihre Eltern jemals Sorgen gemacht, als Sie sich entschieden, Pilot zu werden?
Nein, mein Vater war ein großer Fan des Fliegens, ich glaube, er wäre gerne Pilot geworden. Für unsere Familie hat er eine Autobiografie geschrieben, die ist voller Fotos von Flugzeugen und Beschreibungen von Flughäfen. Meine Eltern sind inzwischen beide tot, aber mein Vater kam einmal mit auf einen meiner Flüge. Auf meiner Hitliste der drei Top-Flüge ist dieser wahrscheinlich meine Nummer Eins.
Und die anderen zwei?
Einmal habe ich Neil Armstrong geflogen, das war eine große Ehre. Von München nach London, er war auf dem Weg in die USA. Ich hatte keine Gelegenheit, mit ihm zu sprechen, aber ich habe ihn am Ausgang gesehen und an meine Mütze getippt. Natürlich ist der erste Solo-Flug, wenn man zum ersten Mal ganz allein fliegt, unglaublich.
Das war während Ihrer Ausbildung in Phoenix?
Ja. Wenn jemand erzählt, er wäre dabei nicht nervös gewesen, ist er ein Lügner. Da ist kein Fluglehrer an Bord, ich musste allein die kleine Maschine steuern, starten und landen. Das war ganz am Ende der Ausbildung – und auch das letzte Mal allein im Cockpit. Seitdem bin ich immer mit anderen Menschen im Flugzeug.
Wie oft werden Mitglieder der Cabin Crew beim Sex auf dem Klo erwischt?
Ich habe noch nie gehört, dass das passiert ist.
Sie lachen. Einige Passagiere träumen davon, in den winzigen Bordtoiletten ...
... stopp, ich weiß, was Sie meinen. Ich habe das bisher nicht erlebt. Aber wussten Sie, dass Komödien, die Sie an Bord schauen, viel lustiger sind als auf der Erde, und Dramen trauriger?
Wir fühlen anders?
In einer amerikanischen Zeitschrift stand vor ein paar Wochen ein Artikel darüber. Der Tenor war: Wenn wir auf einer Reise sind, lassen wir etwas oder jemanden zurück, bevor wir an einem neuen Ort ankommen. Und es ist dieser Zwischenraum, in dem wir Dinge anders wahrnehmen.
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