Interview mit Martin Grubinger: „Meine Tür ist mit Blei gefüllt“
Er gilt als der beste Schlagzeuger der Welt. Der Österreicher Martin Grubinger über Rassismus auf dem Land und den eigenen Fußballplatz vor der Haustür.
Herr Grubinger, Sie Schlagzeug spielen zu sehen, ist ein Spektakel. Bei manchen Klassikkonzerten wirbeln Sie mit den Sticks herum, machen irre Verrenkungen und rennen wild über die Bühne. Ist das noch Entertainment oder schon Angeberei?
Das ist bei den Zugaben so und keine Kunst, sondern etwas Zirzensisches – Virtuosentum, Sport. Aber es hat seine Berechtigung, ist Teil der Schlagzeuggeschichte, des amerikanischen „Marching Drummings“. Im eigentlichen Programm geht es um zeitgenössische Musik mit meist hohem intellektuellen Anspruch und der Suche nach einer musikalisch entsprechenden Interpretation.
Sind Sie von Natur aus hyperaktiv?
Mit dem Instrument kommt die Unruhe. Das trägt sich dann in den Alltag, man kann es nicht ablegen.
Auf Ihren Touren gastieren Sie meist in großen Städten, obwohl die Ihnen zuwider sind. Stört Sie der Rhythmus der vielen Menschen?
Klingt komisch, doch es ist mir zu laut. Ich bin ein Landei, lebe in Oberösterreich im Nirgendwo. Als kleiner Junge bin ich nicht in den Kindergarten gegangen, sondern habe auf dem Bauernhof gespielt. Wenn ich von einer Tournee heimkomme, gehe ich in die Blasmusikprobe. Zu einem typischen Ensemble gehören ja auch Trommeln. Von 800 Einwohnern im Ort spielen in der Kapelle 70 mit.
Das ist nicht viel leiser.
Aber ein anderer Zugang. Da sieht man als Profi, was echte Passion ist. Der Opa spielt Tuba, der Vater Trompete, der Sohn Flügelhorn. Das ist für uns Österreicher so wie für die Brasilianer das Kicken am Strand. Wenn ich nach der Probe beim Zipfer-Bier mit den anderen Musikanten rede, erfahre ich, was die Leute wirklich beschäftigt. Gerade auf dem Land, wo die rechtsnationalen Parteien besonders stark sind.
Sie bezeichnen sich als überzeugten Sozialdemokraten. Vor einigen Jahren verweigerten Sie ein Konzert in Kärnten, damals Haider-Herzgebiet. Wird die Welt für Sie kleiner, was Auftrittsorte angeht?
Würde ich heute noch die Parameter von damals anlegen, könnte ich in Österreich gar nicht mehr spielen, weil die FPÖ in der Regierung sitzt ...
... die rechtskonservative Schwesterpartei der AfD.
Ich habe damals einen Fehler gemacht. Heute gehe ich gezielt in die kleinen Orte und spiele dort Musik, wo ich die FPÖ-Wähler vermute. Jenseits der Städte gibt es immer weniger Zugverbindungen, keine Ärzte mehr, kein schnelles Internet. Die Leute haben in dieser Region das Gefühl, abgehängt zu werden. Manche sind offen rassistisch. Aber ich halte dagegen.
Wie fühlt sich das für Ihre Frau an, die türkischstämmige Pianistin Ferzan Önder?
Manches, was man vor einigen Jahren nicht offen ausgesprochen hätte, empfinden einige plötzlich als völlig normal. Dennoch, meine Frau liebt es da. Es erinnert sie an eine türkische Familie: Man schaut aufeinander, hilft sich. Wenn sie zum Kochen eine Packung Mehl braucht, geht sie zum Nachbarn.
Das ist doch ein Widerspruch zum Rassismus, wie Sie ihn geschildert haben.
Ja. Wir haben eine Reinigungsdame im Proberaum. Die erzählt mir ganz offen, sie wählt FPÖ, weil die gegen die Ausländer ist. Gleichzeitig ist sie eng befreundet mit meiner Frau. Wir versuchen mit Zuneigung, mit Liebe etwas zu verändern. Die Antwort kann nicht sein: „Wir wollen nichts mit euch zu tun haben.“ Aber ich kann auch nicht ein Instrument spielen, das so multikulturell aufgestellt ist, und gleichzeitig zusehen, wie mein Land sich in einen Orban-Staat verwandelt.
Ihre Frau ist 18 Jahre älter als Sie und tritt regelmäßig auf. Sie haben angekündigt, in fünf Jahren die Drumsticks beiseitelegen zu wollen. Was hält sie von Ihren Plänen?
Sie fragt sich, warum ich das mache. Doch Schlagzeug ist physisch anstrengender. Ich merke jetzt schon: Ich habe nicht mehr die Möglichkeiten wie mit 25 und möchte nicht als „Elder Percussionist“ auf der Bühne rumtrödeln. Die Leute sollen immer wegen der besten Qualität kommen und nicht aus Nostalgie.
Für Ihr Spiel müssen Sie extrem durchtrainiert sein.
Im Winter fahre ich Ski oder gehe Langlaufen, außerdem habe ich mir ein eigenes Fitnessstudio eingerichtet. Im Sommer schwimme ich oder setze mich aufs Rennrad, und ich spiele Fußball. Zu Hause habe ich einen eigenen Platz, samt Flutlichtanlage und Rasendrainage.
„Ich stehe wie ein Kind im Fanshop“
Mit wem kicken Sie?
Mit den Nachbarbuben. Die sind alle zwischen 15 und 18 und können quasi ewig rennen.
Woran hapert es dann, wenn Sie älter werden?
Schnellkraft und Ausdauer. In Bizeps, Unterarm und Handgelenk. Man muss in der Lage sein, die hohen Tempi klar zu spielen, und zwar über lange Zeit. Wenn der Musiker nach einer halben Stunde platt ist, gehen die rhythmischen Bögen, die Phrasierungen, die Dynamiken verloren.
Sie könnten in ein anderes Genre wechseln, in den Jazz zum Beispiel.
Entweder macht man etwas mit totaler Hingabe oder gar nicht. Ich habe genug andere Interessen. Ich will Geschichte studieren.
Dafür müssten Sie erst mal Ihr Abitur nachholen. Die Schule haben Sie mit 16 abgebrochen.
Man kann auch ohne Abschluss studieren.
Ihr Schlagzeug-Studium haben Sie ebenfalls nicht beendet. Fehlt’s Ihnen an Ausdauer?
Es lag ja vorher nicht daran, dass ich keinen Bock hatte, sondern mit 17 schon so viele Konzerte gespielt habe, dass ich in den Nebenfächern nicht hinterherkam.
Ihr Vater, der ebenfalls Martin Grubinger heißt, ist auch Profi-Schlagzeuger, war Ihr erster Lehrer. Gab es in der Pubertät eine Phase, wo Sie mal etwas ganz anderes machen wollten als er?
Das lief meist so: Wir haben erst eine halbe Stunde Schlagzeug gespielt, danach eine halbe Stunde Fußball. Wieder eine halbe Stunde Schlagzeug, dann sind wir in den Wald gefahren und haben Rehe beobachtet. Mein Vater hat das clever gemacht, das war nie die russische oder chinesische Schule, sondern hatte immer spielerischen Charakter. Doch wir streiten bis heute wie wild, diskutieren über alles – Interpretation, Programm, Instrumente. Das hat etwas sehr Befruchtendes.
So leidenschaftlich wie über die Musik reden Sie sonst nur über Fußball.
Ich bin da total infantil, stehe wie ein Kind im Fanshop, kaufe diese völlig überteuerten Trikots vom 15. Spieler und tütenweise „Meistermischung“-Gummibärchen. Fußball verbindet Körperlichkeit mit Kreativität und Rhythmus.
Ihrem Verein, dem FC Bayern, scheint der Rhythmus ein wenig abhandengekommen zu sein.
Weil die Arbeit mit Guardiola als Trainer langsam nicht mehr zu erkennen ist. Die Zeit mit ihm war speziell für Musiker die schönste überhaupt. Man sah, dass jeder Spieler einen Plan hat, und am Rand steht der Trainer, der die Partitur schreibt.
Wie erkennen Sie die Partitur auf dem Platz?
Saison 2013: Lahm auf dem rechten Flügel, im Zentrum Thiago. Lahm spielt zu Thiago, läuft nach vorne, Thiago spielt zurück zu Lahm. Auf der anderen Seite weiß Alaba, was jetzt passieren muss. Er sprintet an Ribéry außen vorbei und kann an der linken Ecke des Sechzehners frei zum Einsatz kommen. Heute wird der FC Bayern ständig überrumpelt bei Gegenstößen.
Sie haben oft gesagt, Sie würden selbst gern mal einen Verein trainieren. Was wollen Sie den Spielern beibringen?
Timing! Ich würde Lautsprecher auf den Platz stellen, die Spieler zum Salsa-Groove ihre Ballkontakte jeweils auf die Zwei und die Vier abstimmen lassen.
Sie fordern für Musiker die gleiche Betreuung wie für Spitzensportler. Wieso ist das so wichtig?
Viele Musiker bekommen gesundheitliche Probleme, müssen ihre Konzerttätigkeit drastisch reduzieren oder steigen völlig aus. Kaum einer schafft es, 15 bis 20 Jahre stringent durchzuziehen. Wir müssen immer Leistung bringen, reisen viel, man vereinsamt. Gleichzeitig steht man ständig unter Druck, besonders auf den Tourneen ist der Körper zudem stark beansprucht.
„Es ist unsere verdammte Pflicht, die Zuhörer zu begeistern“
Sie nehmen sich diese Unterstützung?
Ich gehe zu einem Sportpsychologen. Manchmal habe ich Versagensangst auf der Bühne. Mein Therapeut hat mir von Ski-Profis erzählt, die in Kitzbühel die Streif runterfahren. Die sehen wir ja immer als die Heroen an, dabei machen die genau dasselbe durch wie wir Künstler auf der Bühne.
Und was kann man gegen die Angst tun?
Mein Psychologe hat mir von einem Skifahrer erzählt, dem war es egal, ob er als Erster ins Ziel kommt. Für ihn zählte nur, dass er jeden einzelnen Schwung mit Leidenschaft und Begeisterung fährt, für sich den perfekten Moment erlebt. Das kann man auf die Musik übersetzen. Auf der Bühne will ich nicht mehr daran denken, einen Blackout zu bekommen, sondern nur die nächste Phrase so schön wie möglich spielen.
Bereiten Sie den Körper wie ein Sportler auf ein Konzert vor?
Ich esse vier Stunden vorher. Fleisch, Proteine! Höre Mahler oder Bruckner zur Einstimmung. Dann trommle ich mich warm, um die Muskeln in Schwung zu bringen. Nach dem Auftritt trinke ich viel Wasser. Man dehydriert beim Spielen.
Mit welchen Folgen?
Vor zwei Jahren haben wir mal gemessen, wie meine körperlichen Werte während eines Auftritts von eineinhalb Stunden sind. Der Maximalpuls lag bei 196, der Durchschnitt bei 168. Ich habe 2000 Kalorien verbraucht. Nach dem Konzert esse ich Schokolade, Mehlspeisen, Haribo – ich liebe Süßigkeiten. Angeblich haben Rock-Drummer einen höheren körperlichen Verschleiß als Premier-League-Fußballer.
Was ist beim Konzert vor Publikum anders als in der Probe?
Der Puls ist höher, die Aufmerksamkeit auch, man produziert mehr Adrenalin. Man hat Tausende Augen auf sich gerichtet und will endlich zeigen, worin man so viele Stunden investiert hat. Die Luftfeuchtigkeit im Saal ist größer, man schwitzt an den Händen. Das Atmen fällt schwerer.
Ihre Konzerte spielen Sie alle auswendig. Irgendwelche Tricks, sich vier Stunden Partitur zu merken?
Ich klopfe sie mir in den Kopf. Es beginnt ganz langsam, nur vier Takte. Wieder und wieder. Irgendwann denkt man nicht mehr in Noten „C-E-A-Fis-G“, sondern als Sound „Tika-Tika-Tik“. Und das verinnerlicht man. Im Konzert läuft praktisch nur noch ein Film ab. Das kostet zwar viel mehr Zeit in der Vorbereitung, manchmal Wochen, Monate, doch ich will diese Musik dem Publikum näherbringen, ohne Barrieren.
Wie kriegen Sie Ihr ganzes Programm überhaupt in 24 Stunden unter?
Manchmal probe ich bis spät in die Nacht, da stört mich niemand. Mein Proberaum hat Dreifachverglasung in den Fenstern, die Tür ist mit Blei gefüllt. Ich kann darin 125 Dezibel erzeugen, und es geht nichts raus.
Folgen Sie einem strengen Stundenplan?
Ich stehe um sieben Uhr auf, lese erst mal Zeitung, ab Viertel nach acht probe ich. Schön wär’s, wenn ich wenigstens bis mittags mein Programm durchziehen könnte. Doch oft kommt was dazwischen. Papierkram etwa.
Nimmt Ihnen niemand die Logistik ab?
Meine Eltern managen viel, meine Mama macht meine Finanzen. Andere Dinge kann ich bloß selbst erledigen, zum Beispiel, den Kontakt zu Komponisten zu halten. Da wird am Telefon oft takt- und tonweise diskutiert. Das Schöne bei uns Schlagzeugern ist ja, dass die meisten unserer Komponisten noch leben. Als Geiger kann man den Sibelius nicht mehr anrufen.
Bei der Geige kann sich jeder Laie sofort ein trauriges Stück vorstellen oder einen fröhlichen Tanz. Beim Trommeln denken viele nur an Wut.
Man kann eine Trommel ganz weich im Legato spielen oder hart und knöchern. Wir haben die gesamte Bandbreite wie ein Geiger, ein Cellist. Nehmen wir das Xylofon, Sie können dabei den Arm steif halten wie bei einem Karateschlag. Das macht dann Bamm. Wenn ich dagegen das Handgelenk weich stelle, kommt der Stick schräg auf mit mehr Wolle, dann macht das eher sanft Bow.
Viele Musiker haben eine große Sorge: dass kein junges Publikum nachwächst.
Das liegt doch an uns! Wir spielen das traditionelle Programm rauf und runter, weil wir glauben, dass das Publikum nichts anderes versteht. Dann kann der Funke nicht überspringen. Junge Menschen wollen überrascht werden. Es ist unsere verdammte Pflicht, die Zuhörer zu begeistern und nicht zu sagen, ihr seid zu blöd, so konservativ. Immer heißt es: Die Leute wollen kein zeitgenössisches Stück von Wolfgang Rihm hören. Ja, warum denn nicht? Weil wir ihn scheiße spielen! Diese großartigen Meister unserer Zeit haben denselben Einsatz und Leidenschaft von uns Musikern verdient wie Mozart, Brahms oder Bartók.
Christian Vooren, Susanne Kippenberger