Realität vs. Krimi: Wo wohnen die "Tatort"-Kommissare wirklich?
Die „Tatort“-Reihe steht für regionale Vielfalt. Ginge es nach dem Wohnort der prominenten "Tatort"-Schauspieler, müssten gefühlt drei von vier Folgen in Berlin spielen.
Der „Tatort“ hat ein gespaltenes Verhältnis zum Thema Lokalkolorit. Bekannte Schauplätze wie der Kölner Dom, die Hamburger Hafencity oder der Berliner Fernsehturm werden in der Serie zuverlässig als Kulissen eingesetzt, um die jeweilige „Tatort“-Stadt zu markieren. Schließlich verspricht die Krimireihe, deren 22 Teams in zwei Dutzend Städten und Gegenden in Deutschland, Österreich und der Schweiz ermitteln, lokale Distinktionsmerkmale.
Doch obwohl der „Tatort“ seine Heimatstädte reiseführertauglich oder gar authentisch abzubilden scheint, sind die Städte, in denen der „Tatort“ spielt, doch nur fiktive Abbilder des Originals. Viele Folgen werden dafür kritisiert, dass sie Klischees bedienen oder die Schauplätze allzu austauschbar wirken. Auch das Gros der Hauptdarsteller, die heute von Kiel bis zum Bodensee Hochdeutsch sprechen, stammt aus einer anderen Stadt als der, in der sie fürs Fernsehen ermitteln. Ginge es nach dem Wohnort, müssten drei von vier Folgen in Berlin spielen.
Beinahe multikulti sind die Münsteraner Kommissare Thiel und Boerne: Axel Prahl, in Eutin geboren, und Jan Josef Liefers, in Dresden geboren, leben beide in Berlin. Aus Kostengründen wird der Münster-„Tatort“ überwiegend in Köln gedreht. Wotan Wilke Möhring, in Herne aufgewachsen, ermittelt in Hamburg und Umgebung als Kommissar Thorsten Falke und lebt in Köln und Berlin. Seine Kollegin Franziska Weisz, die Polizeioberkommissarin Julia Grosz spielt, stammt aus Wien und lebt in Berlin.
Macht es einen Schauspieler nun authentischer, wenn er in vertrauter Umgebung spielt? Dieses Urteil bleibt wohl dem Zuschauer überlassen. Vielen dürfte die Vita der Darsteller ohnehin unbekannt sein. „Im Prinzip kann jeder Schauspieler einen ,Tatort‘-Kommissar spielen“, sagt Christian Hißnauer vom Institut für Neuere deutsche Literatur an der Humboldt-Universität Berlin. Für eine Studie zur Serialität des „Tatorts“ hat der Medienwissenschaftler rund 500 Folgen analysiert und kennt mithin die erzählerischen Feinheiten der TV-Kultserie.
Axel Milberg, der im Kieler „Tatort“ Klaus Borowski spielt, stammt auch aus Kiel, lebt inzwischen in München, würde aber gerne mehr in Kiel drehen. Sein letzter Fall spielte auf Amrum. Auch die Kölner Ermittler, Klaus J. Behrendt und Dietmar Bär, stammen zwar aus dem Ruhrgebiet, leben aber in Berlin. Ebenfalls das Weimarer Duo Nora Tschirner und Christian Ulmen sowie die Berliner Ermittler Meret Becker und Mark Waschke alias Nina Rubin und Robert Karow. Becker stammt aus Bremen, Waschke wuchs im Saarland auf. Ihre „Polizeiruf“-Kollegen Maria Simon und Lucas Gregorowicz ermitteln zwar in Brandenburg und im Grenzgebiet zu Polen, leben aber auch in Berlin, der heimlichen TV-Hauptstadt des Verbrechens.
Die Herkunft eines „Tatort“-Darstellers, so Hißnauer, ist relativ unwichtig. „Wer einen Schauspieler möchte, der eine Figur verkörpert, die aus der Region stammt und einen Dialekt spricht, der sollte die Rolle entsprechend besetzen. Aber es gibt auch Schauspieler, die einen Dialekt gelernt haben wie eine Fremdsprache.“ Dieser allerdings spiele im „Tatort“ kaum noch eine Rolle. Dialektfärbungen hätten heute vor allem die Nebenfiguren, Kommissare nur noch selten.
Apropos Dialekt: Adele Neuhauser, die im Wiener Ermittlerduo die Bibi Fellner spielt, lebt in Wien. Ihr Kollege Harald Krassnitzer alias Moritz Eisner lebt in der Nähe von Wuppertal und in Tirol, hat aber auch in Wien ein Apartment. In Bayern hingegen bleibt man seiner Heimat treu: Die Münchener Ermittler Udo Wachtveitl und Miroslav Nemec, bekannt als Franz Leitmayr und Ivo Batic, leben beide in München. Nemec stammt, wie seine Figur Batic, aus Zagreb und ist aufgewachsen in Bayern.
„Regional waren die ,Tatorte‘ schon früher nicht. Die Kressin-,Tatorte‘ spielten sonst wo, aber selten in Köln“, sagt Experte Hißnauer. Auch Schimanski kam in der Serie viel herum. Einen konsequent lokal gefärbten „Tatort“ gebe es nicht, das Maß an Lokalkolorit ändere sich wie der Plot von Folge zu Folge. Um einen Bezug zur Region zur erzeugen, nutzen die Macher unterschiedliche Mittel: „Die Regionalität macht sich weniger an der Kommissarfigur fest als an Landmarken, die gezeigt werden“, so Hißnauer. „Wenn Berlin markiert werden soll, sieht man häufig den Alexanderplatz. Vor Mauerfall und Wende war das nicht der Fall, da wurde eher der Funkturm gezeigt.“
In manchen Folgen werde auch über die Themenwahl, wie der Karneval in Köln und Düsseldorf oder das Oktoberfest in München, ein Regionalbezug hergestellt, sagt Hißnauer. „Es gab einen ,Tatort‘ in den 1990ern, der spielte im Berliner Techno-Milieu. Das Thema war damals in der öffentlichen Wahrnehmung extrem mit Berlin verbunden.“ Manche Themen funktionierten nur in einer Großstadt oder seien regional zugeschnitten, andere könnten überall spielen.
Eine Ausnahme bilden die Münchner Ermittler: „Der bayerische ,Tatort‘ ist sicherlich einer, der am stärksten auf Lokalkolorit setzt“, sagt Hißnauer. „Beide Figuren sind klar in München verortet und können das verkörpern, die Dialektfärbung ist vorhanden. Aber auch da gibt es Folgen, die klischeebehafteter sind als andere.“ Bei dieser Mischung aus mehr und weniger Lokalkolorit werde der „Tatort“ bleiben, sagt Hißnauer: „Die Serie ist sehr unterschiedlich durch die verschiedenen Sendeanstalten und dadurch, dass die Regisseure, Drehbuchautoren und Redaktionen ständig wechseln. Manchen Redakteuren ist Lokalkolorit wichtiger als anderen.“ Ein Blick auf die letzten „Tatorte“ aus München zeigt aber auch: Ein guter Kommissar ermittelt gleichermaßen überzeugend im Wiesn-Bierzelt („Die letzte Wiesn“) wie im Porno-Milieu („Hardcore“).