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Wie reagieren auf Erdogans Einmarsch in Nordsyrien? Anne Will und ihre Gäste diskutieren.
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„Anne Will“ zu Nordsyrien: Und am Ende siegt die Realpolitik

Anne Wills Gäste betrachten den türkischen Einmarsch in Syrien recht nüchtern. Wichtig scheint vor allem, dass Europa Erdogan nicht an Russland verliert.

"Erdoğans Siegeszug - schaut Europa weiter hilflos zu?" war das Thema des Anne-Will-Talks am Sonntag. Grund ist der jüngste Einmarsch der Türkei in die kurdischen Autonomiegebiete Nordsyriens, nachdem US-Präsident Donald Trump am 6. Oktober den Abzug der dort stationierten amerikanischen Truppen befohlen hatte.

Seit Donnerstag gilt zwar eine 120 Stunden andauernde Waffenruhe zwischen der türkischen Armee und den kurdischen YPG-Truppen - allerdings ist sie brüchig und eher ein Pluspunkt auf Erdoğans Konto, wie der Talk zeigte.

Bevor sich die fünf Personen starke Gesprächsrunde allerdings auf den türkischen Präsidenten und Europa konzentrierte, ging es erst einmal um die USA - und natürlich um Donald Trump. Naheliegend, immerhin hatte sein militärischer Rückzugs-Beschluss die Ereignisse erst ins Rollen gebracht. Der Abzug der Amerikaner, die die - ehemals - verbündeten Kurden jetzt im Regen stehen lassen, öffnete ein Machtvakuum, das Erdoğan wortwörtlich besetzte.

"Wir Europäer schauen dem Treiben anderer ohnmächtig zu", sagte Wolfgang Ischinger, Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz. Andererseits hat Ischinger auch Verständnis für die Amerikaner, die sich aus Nordsyrien zurückziehen wollen: Schließlich habe Europa die dortige Sicherheitsfrage schon vor Jahren an die USA "outgesourced" und sich selbst vornehm zurückgehalten.

Türkei als Nato-Partner halten

Unterstützung bekam Ischinger von Ben Hodges, dem ehemaligen Kommandeur der US-Armee in Europa. Er hält den US-Rückzug zwar für einen Fehler, betonte aber auch, die USA hätten nie die Absicht gehabt "länger zu bleiben": "Wir hätten schon gehen sollen, als der IS am Boden lag."

Norbert Röttgen, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, wertete abgesehen von Erdoğans Einmarsch in Nordsyrien auch die seit Donnerstag ausgerufene Feuerpause als Erfolg des türkischen Präsidenten. Die schnell auf Betreiben der USA ausgehandelte Waffenruhe gründet auf einem 13-Punkte-Papier, das "die Sicht Erdoğans" übernehme. So ist darin weder von einem völkerrechtswidrigen Einmarsch noch von einer Invasion die Rede - Erdoğans Vorgehen wird als "Operation Friedensquelle" bezeichnet, was "türkische Sicherheitsinteressen" wahren solle.

Allerdings hatte auch Röttgens CDU-Parteigenossin und Kanzlerin Angela Merkel der Türkei vor einigen Tagen "berechtigte Sicherheitsinteressen" zugestanden. Es sei angemerkt: Erdoğan spart nicht mit Drohungen, sollten europäische Nachbarn seine Militäroffensive doch als "Invasion" brandmarken. In diesem Fall sähe er sich imstande, rund 3,6 Millionen Flüchtlinge aus der Türkei nach Europa zu schicken.

"Das oberste Ziel der USA und der Bundesrepublik ist es, Erdogan als Nato-Partner zu halten", konstatierte Sevim Dağdelen, Fraktionsvorsitzende der Partei "Die Linke" und selbst aus einer kurdisch-alevitischen Familie. "Alles muss dahinter anstehen. Nur weil er Nato-Mitglied ist, kann er Massaker und Kriegsverbrechen ohne Konsequenzen begehen." Dagdelen wünscht sich - abgesehen von humanitärer Hilfe für die Zivilisten der Region - auch eine "klare Kante an Erdoğan", um nicht "völlig unglaubwürdig" zu werden.

Diplomatische Lösungen mit EU und UN

Auch Natalie Amiri, Leiterin des ARD-Studios Teheran beobachtet, dass Erdoğan vor allem "Deals feiere" - vor allem, wenn sein Deal gewinnt. "Und das macht er auf europäische Kosten". Wolfgang Ischinger mahnte aber, trotz Wut auf Erdoğan, nicht die deutsche und europäische Realpolitik aus den Augen zu verlieren: "Unser strategisches Interesse kann nicht sein, die Türkei in die Arme Russlands zu treiben" - etwa durch Sanktionen oder Waffenembargos.

Eine Lösung? Schwierig - aber Ideen sind vorhanden. Norbert Röttgen sieht keine Chance auf einen Zusammenschluss aller EU-Staaten gegen Erdoğans Vorgehen. Er plädiert für eine Initiative Deutschlands, Frankreichs und Großbritanniens, um die von der Türkei besetzte "Sicherheitszone" unter UN-Mandat zu stellen.

Wolfgang Ischinger empfiehlt einen EU-Sondergesandten, der sich der Region annimmt. Bisher ist ein derartiger Posten nicht vorhanden, laut Ischinger ein grober Fehler: "Wenn sich die EU auch diplomatisch so klein macht, wird über ihre Interessen hinweg gehandelt."

Sevim Dağdelen wünscht sich außerdem eine Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit im Nahen und Mittleren Osten. Und obwohl die Runde die Situation nicht als "aussichtslos" werten wollte: Dass das Kind schon in den Brunnen gefallen ist, war allen klar. Es ist schließlich nicht nur Erdoğan, der in Syrien gegen Völkerrecht und Menschenrechte verstößt: "Wir werden in Zukunft auch damit leben müssen, dass Assad in Syrien im Sattel sitzt. Dieses Regime ist da", sagte Ischinger. "Ich möchte nicht der deutsche Botschafter sein, der da wieder hin muss."

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