Meinungsfreiheit unter Erdogan: Türkei: Nun sind auch Streaming-Dienste und Internetmedien abgekoppelt
Ein Gesetz, dass seit Sonntag in Kraft ist, unterstellt audiovisuelle Internet-Dienste der türkischen Medienaufsicht.
Er flucht, er raucht, und er säuft: „Behzat C.“ ist ein Fernsehkommissar, wie es ihn auf türkischen Bildschirmen eigentlich nicht mehr geben dürfte. Die sittenstrenge Fernsehaufsichtsbehörde RTÜK lässt Zigaretten bei Serien- und Filmhelden im Namen des Jugendschutzes entweder pixeln oder durch eingeblendete Blumen überdecken. „Behzat C.“ blieb bisher davon verschont, die Serie läuft beim Streaming-Anbieter BluTV.
Doch seit diesem Sonntag greift ein Gesetz, das „Behzat C.“ zähmen oder ganz von den Bildschirmen verschwinden lassen soll. Dienste wie BluTV oder Netflix sollen staatlichen Regeln unterworfen werden, türkischen Internetmedien und auch ausländischen Anbietern wie der Deutschen Welle droht die Zensur: Wikipedia ist schon lange verboten – jetzt koppelt sich die Türkei weiter von der Außenwelt ab.
Das Gesetz, das 2018 verabschiedet wurde, unterstellt audiovisuelle Internet-Dienste der türkischen Medienaufsicht. Die Neuregelung trat am 1. August in Kraft und räumte den betroffenen Sendern und Medien eine Frist von einem Monat ein, um sich bei RTÜK eine Lizenz zu beschaffen. Die Frist lief am Sonntag ab.
Ob RTÜK nun auch unliebsame Medien sperren lässt, wird sich in den kommenden Tagen zeigen. Ankara argumentiert, mit der Novelle sollten bestehende Vorschriften zum Jugendschutz auch bei Internetdiensten durchgesetzt werden. Regierungsnahe Medien kritisieren unter anderem, in Film und Fernsehen würden soziale und religiöse Werte untergraben und die Homosexualität glorifiziert. RTÜK betont zudem, bisher gebe es keine Möglichkeit, im Ausland ansässige Anbieter zur Einhaltung türkischer Regeln anzuhalten. Von Zensur könne keine Rede sein.
Schon jetzt blockiere die Türkei mehr als 240 000 Internetseiten
Oppositionspolitiker, Experten und Juristen sprechen von neuen Einschränkungen der Meinungsfreiheit. Schon jetzt blockiere die Türkei mehr als 240 000 Internetseiten, sagt Yaman Akdeniz, Juraprofessor an der Istanbuler Bilgi-Universität. Bis zum Ende des Jahres werden es etwa 300 000 sein. Wegen des neuen Gesetzes werde „Behzat C.“ womöglich demnächst Blümchen rauchen und Saft statt Bier trinken.
Wenn sich BluTV oder andere Streaming-Firmen weigerten, den türkischen Vorgaben nachzukommen, drohe ihnen das Aus auf dem türkischen Markt. „Die Türkei könnte das erste Land der Welt werden, das den Zugang zu Netflix sperrt“, so Akdeniz.
Schon die seit Sonntag verpflichtende RTÜK-Anmeldung sei eine Zensur-Maßnahme, sagt der Istanbuler Anwalt Veysel Ok, der gegen das neue Gesetz vor dem türkischen Verwaltungsgerichtshof geklagt hat. Ilhan Tasci, Oppositionsvertreter bei RTÜK, warf der Behörde vor, mit dem neuen Gesetz das Internet überwachen zu wollen.
Umgerechnet mehr als 15 000 Euro müssen Internetmedien für eine Lizenz bezahlen, das ist viel Geld für kleine Internet-Fernsehsender. Erhalten sie die Lizenz, riskieren sie bei unbotmäßiger Berichterstattung eine Strafe oder ein Verbot. Ohne Lizenz sind sie illegal und können abgeschaltet werden.
Damit zielt das Gesetz auf regierungskritische Medien wie den Internet-Fernsehkanal Medyascope. Diese Medien wurden in den vergangenen Jahren für viele Türken zu einer alternativen Informationsquelle, nachdem die meisten Zeitungen, Fernsehsender oder Nachrichten-Websites zu Sprachrohren der Regierung mutiert waren.
Akdeniz erwartet verstärkten Druck: „Die neuen Vorschriften werden als ‚Lizenzsystem’ präsentiert, sind aber in Wirklichkeit nur ein weiterer Zensur-Mechanismus, der sich gegen unabhängige Medien richten wird.“ Anwalt Ok kritisiert die vage gehaltenen Bestimmungen des Gesetzes, die den Behörden großen Ermessensspielraum gewährten. „Möglicherweise gelten die Regeln sogar für private Youtube-Kanäle.“ Auch ausländische Medien, die in türkischer Sprache ihre Nachrichten verbreiten, werden nach seiner Einschätzung in den Bannstrahl des neuen Gesetzes geraten.
Damit könnten die türkischen Dienste der Deutschen Welle, der BBC oder der Voice of America ins Visier der türkischen Behörden kommen. Noch liegen exakte Ausführungsbestimmungen nicht vor, doch Akdeniz rechnet damit, dass auch diese ausländischen Nachrichtenanbieter vom neuen Gesetz erfasst werden.
Sollten die Ausländer keinen Antrag auf Lizenz stellen oder keine Lizenz bekommen, dann könne RTÜK den Zugang zu diesen Diensten in der Türkei per Gericht sperren lassen. Das sei nach dem Stand der Dinge sehr wahrscheinlich.