ARD-Trilogie über NSU-Morde: Schmerzliche Heimat
Dem Dummkopf-Beamten erstirbt seine Neugier: Der zweite Teil des ARD-Triptychons über die NSU-Morde ist ein Heldenlied auf eine trauernde Familie.
Nirgends ist die mediale Hornhaut dicker, als wenn es um die Toten im TV-Krimi geht. Leichenbeschau zu Ermittlungszwecken, bitte nur gruselig und kurz. Angehörigentränen, wenn der Kommissar die Todesnachricht bringt, husch, husch, weiter. Wir Täterjäger mögen nicht warten. Die Trauer über den Verlust eines Menschen bedeutet Handlungsstillstand. Bitte keine unnötigen Aufenthalte. Das Böse will Pünktlichkeit.
Die Genialität der dreiteiligen Beschäftigung der ARD mit den NSU-Morden „Mitten in Deutschland“ besteht darin, dass sie auseinanderreißt, was sonst genreüblich zusammengehört: Täter, Opfer und Ermittler. Dem Film des als Kind nach Deutschland gekommenen Regisseurs Züli Aladag („Wut“, „KDD“) über die Opfer kommt diese Trennung besonders entgegen. Sein NSU-Beitrag hat die Zeit zu atmen und zu wachsen. Diese große unpathetische Totenklage, diese Zornesbeschwörung und dieses Zeugnis einer letztlich siegenden Trauerarbeit finden die passenden Bilder. Es sind Bilder voller Zärtlichkeit, voller Verletzung, voller familiärer Würde. Es geht um den Tod, aber „Die Opfer – Vergesst mich nicht“ ist auch eine Feier des Lebens mit einer Utopie von Versöhnung.
Aladag vertraut auf zwei wunderbare Schauspielerinnen. Auf Almila Bagriacik, sie spielt die Tochter Semiya des 2000 ermordeten Blumenhändlers Enver ÿimÿek (Orhan Kiliç). Und auf Uygar Tamer, die Darstellerin der Adile ÿimÿek, die Ehefrau und Mutter Semiyas. Beide Frauen geben dem Film eine ungeheure Kraft. Von ihnen stammt alles, was dem Film die Seele einhaucht.
Solch eine Kunst, wie bei Aladag und seinem Kameramann Yoshi Heimrath, aus nichts als Blicken den Geist einer Geschichte zu erzählen, die schreckliche Wirklichkeit war, sieht man selten. In den Gesichtern von Tochter und Mutter findet die ganze Tragödie mit dem einigermaßen versöhnlichen Ende statt.
Melancholie des Abschieds
Als Enver seine damals 14 jährige Tochter Semiya ins Internat fährt, wird scheinbar eine ganz normale Pubertätsgeschichte erzählt. Semiya luchst dem Vater ein Feuerzeug ab. Sie braucht das Teil vorgeblich, um Kerzen anzuzünden, aber sie hat längst mit dem Qualmen begonnen. In den Augen der frechen Tochtergöre aber liegt schon die prophetische Melancholie des Abschieds. Enver wird nach dieser Szene ermordet werden.
Wenn die voreingenommene Polizei ihre niederträchtigen Ermittlungsübergriffe gegen die Hinterbliebenen des Mordopfers startet – mit Hausdurchsuchungen und unbegründeten Verdächtigungen, der Vater sei Fremdgeher gewesen, Drogenschmuggler, Schutzgelderpresser, illegaler Waffenhändler, Steuerhinterzieher – genügt es, der Mutter Adile ins Gesicht zu blicken, um zu verstehen, was erniedrigende Polizeiarbeit in der Seele einer Unschuldigen auslöst.
Aber auch, wie Widerstand aussieht. Ein Polizeistiesel fragt Mutter ÿimÿek, wie oft sie mit ihrem ermordeten Mann Geschlechtsverkehr gehabt habe – er will auf eine Eifersuchtsmordtheorie hinaus. Da führt Adiles Miene in Großaufnahme ein Drama vor, das die Strecke von Verzweiflung zum Selbstbewusstsein geht. Scham, verzweifelte Wut, große Trauer. Spiegelt Einsamkeit wider und überwindet die Scham: „Zwei bis drei Mal die Woche. Wir haben uns sehr geliebt.“
Dem Dummkopf-Beamten erstirbt seine Neugier. Er hätte lernen können, was der Zuschauer lernt: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Das lässt sich in einem einzigen Augenblick erkennen. Auch die Tochter erfährt, wie die bornierte Polizei aus Unschuld Schuld konstruiert. Die Fahndungsgruppe lässt Semiya nicht zum Bett des sterbenden Vaters. Die Ermittler verdunkeln aus schierem Fahndungsübermut das Bild des Ermordeten.
Die seelische Last wird nicht mehr leichter.
Die junge Frau muss sich gegen die Verdächtigungen der Polizei verteidigen. Das Drehbuch von Laila Stieler, das auf dem Roman der leibhaftigen Semiya ÿimÿek „Schmerzliche Heimat“ beruht, unternimmt eine Erinnerungsreise in die Jugend des ermordeten Vaters. Szenen von der Beerdigung des Vaters in der Türkei – nur die Männer dürfen ans Grab – vermischen sich mit bukolischen Traumszenen, die die Sehnsucht Envers zeigen, nach seinem Berufsleben als Blumenhändler in Deutschland, in der Heimat Schafe zu hüten. Semiya braucht ein seelisches Ventil.
Die Tochter wird schier verschlungen von den Folgen des Mordes und dem polizeilichen Leichtsinn. Die Mutter wird schwer krank. Semiya muss mit ihren Verwandten gegen den ökonomischen Niedergang kämpfen. Der Bruder kommt in die Pubertät, die Schwester muss ihn ermahnen. Aber man hält zusammen. Der Mord am Vater bleibt mehr als ein Jahrzehnt unaufgeklärt. Das Leben geht weiter – die Tochter macht ein Fachabitur. Die seelische Last wird nicht mehr leichter. Semiya schließt sich Leidensgenossen an, deren Angehörige mit der gleichen Waffe wie ihr Vater ermordet wurden. Man demonstriert gegen die schleppende Aufklärung der Polizei. Öffentlicher Einspruch gegen das Vergessen.
Allen Opfern will Aladags Film ein TV-Denkmal setzen (das ist offenbar nicht ganz gelungen, wie man hier sieht) – rührendes Zeichen dafür, dass Ermordete nie namenlos sind. In die ÿimÿek-Erzählung platzt die Bombe: Die Neonazis Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos haben die Morde begangen. Am 11. September 2000 wurde Vater Enver das erste Opfer. Nicht Rache, Bitterkeit und Raserei spiegelt das Gesicht der Tochter. Nur Ernst. Szenen voller Würde: eine Feier in Berlin für die Opfer. Frau Merkel entschuldigt sich für die Behörden. Semiya hält eine Rede, spricht vom Leid der Mutter und sagt, sie fühle sich trotzdem als Deutsche. Sie schafft das, was manche heute nicht mehr schaffen lassen wollen. Eine große traurige Integrationssgeschichte mitten in Deutschland. Schmerzlich willkommen.
„Die Opfer - Vergesst mich nicht“, Montag, ARD, 20 Uhr 15