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Der "Spiegel" ist mit dem größten Betrugsfall seiner Geschichte konfrontiert.
© AFP/Johannes Eisele

#sagenwasist: Hatte der Fall Relotius System?

Unter dem Hashtag #sagenwasist erzählen Reporter, wie sie zu Manipulationen an Texten gedrängt wurden. Für manche ist die Debatte deshalb scheinheilig.

Der Fall Relotius wird weiter heftig diskutiert. Vor gut einer Woche gab der „Spiegel“ bekannt, dass sein mittlerweile gekündigter Reporter Claas Relotius über Jahre Reportagen in Teilen erfunden hat. Dadurch wurde auch das Genre in Misskredit gebracht. Was hat das für Konsequenzen? Was ist faul im System?

Wie kann und soll es mit der Textform weitergehen, fragen sich nicht nur die Redaktionen des Hamburger Nachrichtenmagazins. Für Fabian Goldmann ist das nicht genug. Am Tag nach den ersten Relotius-Enthüllungen verbreitete der freie Autor einen Aufruf über Twitter an andere Journalisten: „Wenn ihr der Meinung seid, dass #Relotius auch Ausdruck eines strukturellen Problems ist, wäre jetzt doch eine gute Gelegenheit über eure Erfahrungen zu berichten.“ Seitdem schreiben Autoren unter dem an das Motto des „Spiegel“-Gründers Rudolf Augstein angelehnten Hashtag #sagenwasist im Netz von ihren Erfahrungen.

Das erinnert an Erlebnisberichte unter #metoo und #aufschrei. Es geht auch um Machtgefälle. Goldmann erzählt von einer Interviewantwort, die ein Redakteurskollege beim Bearbeiten seines Textes komplett erfunden haben soll. Auf Goldmanns Einspruch sei die Reaktion gekommen, man könne die Passage immer noch ändern, sobald sich jemand beschwert.

Eine scheinheilige Debatte

Die wie Relotius vor allem im Ausland aktive Journalistin Ronja von Wurmb-Seibel erwähnt einen Tipp, den ihr ein Vorgesetzter während ihrer beruflichen Anfänge gegeben haben soll: „Das Gute am Auslandsjournalismus ist ja, dass niemand rausfinden wird, ob der Mann in Kabul das wirklich gesagt hat.“ Andere Kollegen hätten darauf beharrt, Explosionen zu zeigen, wo keine passiert seien.

Die Causa Relotius ist für sie daher nicht allzu überraschend. „Mir kam die Debatte innerhalb der Medien scheinheilig vor,“ schreibt von Wurmb-Seibel dem Tagesspiegel. „Ich habe mich geärgert, dass dieser Moment nicht genutzt wird, um über unser Handwerk nachzudenken, um selbstkritisch zu sein und am Ende sagen zu können: Wir haben jetzt wirklich alles getan, damit das nicht wieder vorkommt.“

Sie persönlich sei in einer Position, wo sie offen über ihre Erfahrungen sprechen könne, ohne dabei Nachteile befürchten zu müssen, jedenfalls solange sie keine Namen nenne. Ihr hätten in den vergangenen Tagen Dutzende Journalisten geschrieben, die alle ähnliche, teils noch drastischere Erfahrungen gemacht hätten, sich aber nicht trauen, diese zu veröffentlichen. Sie hoffe natürlich, dass sich nun etwas ändert. „Das ist eine Chance, die wir nicht verstreichen lassen sollten.“ Sie wisse auch, dass inzwischen mehrere Kollegen recherchieren, um noch mehr Geschichten aufzudecken, bei denen Reporter wissentlich gegen Fakten geschrieben haben.

Abhängigkeit vom Redakteur

Der Hashtag #sagenwasist also als eine Art Befreiungsschlag. Da die darin beschuldigten Zeitungsmacher für gewöhnlich in den Geschichten anonymisiert werden, lässt sich der genaue Hergang oft nur unzureichend überprüfen. Dass die betroffenen Journalisten teilweise eingestehen, Manipulationen mitgetragen zu haben, verleiht ihren Aussagen zusätzliche Glaubwürdigkeit. Die meisten von ihnen arbeiten als freie Autoren. Sie sind also vom Wohlwollen der in den Zeitung arbeitenden Redakteure angewiesen, die ihre Artikel entgegennehmen, für das Medium aufarbeiten oder überarbeitete Versionen einfordern.

Viele derjenigen, die unter #sagenwasist twittern, betonen die durchaus wertvolle Arbeit der Redakteure. Das zusätzliche Augenpaar helfe, mögliche Fehler in den Texten aufzuspüren. Aber es sind auch die Redakteure, die darüber entscheiden, welche Texte von freien Autoren gekauft werden und wer zukünftig Aufträge bekommt. Ein System finanzieller Abhängigkeit.

Der aus und über Osteuropa berichtende Journalist Krsto Lazarevic schreibt: „Ich konkurriere mit Leuten wie #Relotius um Platz, Aufmerksamkeit und Geld.“ Der Wettbewerb mit den gut finanzierten „Spiegel“-Reportern sei schwer genug, sagt er dem Tagesspiegel, „aber kein freier Reporter auf der Welt kann mit einem Märchenerzähler mithalten“.

Das gelte erst recht, wenn Journalisten und Redaktionen lieber bestehende Weltbilder bestätigen, statt auf Komplexität zu setzen.

„Ich glaube, was wir wirklich brauchen, ist ein komplett anderes Verständnis von Belegbarkeit von Recherchen“, blickt von Wurmb-Seibel nach vorn. Der Faktencheck der „New York Times“ sei ein gutes Beispiel dafür, dass man jedes noch so kleine Detail überprüfen kann – und wenn es sich nicht überprüfen lässt, wird es nicht veröffentlicht.

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